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Joel Simkhai – der Verkuppler

Grindr wird nach eigenen Angaben täglich von über 2 Millionen Usern in 196 Ländern der Welt verwendet. Die App ist bald sieben Jahre alt – ein Methusalem in der schnelllebigen Tech-Industrie, in der eine App ständig die andere jagt. Wem Grindr trotzdem kein Begriff ist: Die App zeigt über die GPS-Funktion des Smartphones Männer, die ebenfalls auf der Suche nach Männern sind und wie viele Meter sie entfernt sind. Über die Chatfunktion können private Bilder und der genaue Standort verschickt werden.

Über den Tag verteilt weilt ein User durchschnittlich 54 Minuten auf Grindr. «Unsere Jungs verbringen viel Zeit auf der App und das macht uns sehr stolz», sagt Joel via Skype. Es ist Abend in Europa, morgen früh in Los Angeles, dem Hauptsitz von Grindr. Die Verbindung ist schlecht, aber der Enthusiasmus in Joels Stimme ist deutlich hörbar. Wie ein kleiner Junge, der mit grossen Augen vom Tag im Freizeitpark berichtet.

Joel Simkhai war drei Jahre alt, als er mit seiner Familie von Israel nach New York auswanderte. Nach einem Betriebswirtschaftsstudium arbeitete er im Finanzbereich in Manhattan. Im Berufsleben feierte er erste Erfolge, nicht aber im Privatleben. Das Onlinedating frustrierte ihn. Zu zeitaufwendig, zu umständlich, zu distanziert.


Mit einem Entwickler in Dänemark, einem Grafiker in Los Angeles und einem Budget von 2’000 US Dollar schmiedete er erste Pläne. Erfahrung in Gay-Marketing oder IT hatte er keine, nur eine Ahnung, wie unkompliziertes Dating aussehen sollte. «Ich hegte keinen Masterplan, um in der Schwulenszene einen Kulturwandel herbeizuführen. Ich wollte etwas, das meinen Bedürfnissen entsprach, eine einfache Lösung für ein grosses Problem», sagt Joel.

Die einfache Lösung war die zweite Generation des iPhones, die erstmals über eine Positionsbestimmung via GPS verfügen würde. «Als Steve Jobs die technischen Details des neuen iPhones im Juni 2008 bekanntgab, stürzten wir uns in die Arbeit», erinnert sich Joel. Etwas mehr als ein halbes Jahr später, im März 2009, wurde Grindr lanciert. «Die Arbeit an der App war ein Hobby für uns, denn wir entwickelten sie in erster Linie für uns selbst. Und dann wurde sie immer beliebter.»

«Wir ermutigen unsere User, ihre Vorlieben in positive Worte zu fassen.»
«Wir ermutigen unsere User, ihre Vorlieben in positive Worte zu fassen.»

Zurück zu den Urinstinkten
Heute zählt Grindr 40 Mitarbeitende. Trotz des beachtlichen Alters der App konnte im letzten Jahr ein Wachstum von 30% verzeichnet werden, das auf die steigende Anzahl von Smartphone-Nutzern sowohl in Industrieländern, als auch in Schwellenländern zurückzuführen ist. Ein starker Wachstumsmarkt sei Lateinamerika, vor allem Brasilien und Mexiko, sagt Joel.
An den Wänden im Hauptsitz hängen verschiedene Masken – das Logo von Grindr. Es ist an die Masken von afrikanischen Stämmen angelehnt und soll an die Urinstinkte des Menschen erinnern. Der Frühmensch habe keine SMS geschrieben oder Maschinerie betätigt. Er sei sozial gewesen und habe Stämme gebildet, so Joel. «Wir erfüllen die grundlegenden Bedürfnisse des Mannes, indem wir ihn auf der Suche nach seinesgleichen kommunizieren lassen und zusammenbringen.» Wie eine Kaffeemühle, ein «coffee grinder», die die Kaffeebohnen mahlt.


Selbstverständlich geht es auch um Sex. Doch Joel hört es nicht gerne, wenn Grindr auf eine Abschlepp-App reduziert wird. «Klar, geht es auch um Sex. Aber es ist mehr als nur das. Die Wahrscheinlichkeit ist immer gegeben, dass du den Jackpot knackst und die Person kennenlernst, die dich umhaut. Die App hat das Potenzial, dein Leben grundlegend zu verändern.»

Die strengen Richtlinien von Apple haben Grindr vor allem am Anfang stark eingeschränkt in Bezug auf die Fotos, die öffentlich sichtbar sind: Keine suggestiven Posen, keine Schnappschüsse unter der Gürtellinie oder von der Unterhose. In Indien sorgt eine Gruppe von Moderatoren rund um die Uhr dafür, dass Bilder mit fragwürdigem Inhalt herausgefiltert werden. So wird die Startseite von Grindr zu einem Meer aus mehr oder weniger ausdruckslosen Face Pics, kopflosen Oberkörpern in Badezimmerspiegeln oder völlig neutralen Bilder wie Landschaftsaufnahmen. Im privaten Chat können unzensierte Bilder nach Lust und Laune verschickt werden.

«Klar, geht es auch um Sex. Aber es ist mehr als nur das. Die Wahrscheinlichkeit ist immer gegeben, dass du den Jackpot knackst und die Person kennenlernst, die dich umhaut. Die App hat das Potenzial, dein Leben grundlegend zu verändern.»

«Wir haben die Oberflächlichkeit nicht erfunden»
Doch sind es nicht genau die Bilder, die die Bedürfnisse der User auf das Eine reduzieren? Schnellen Sex in unmittelbarer Nähe?
«Wir werden kritisiert, dass Grindr bloss ein visuelles Erlebnis ist und dafür muss ich mich nicht rechtfertigen», sagt Joel. «Grindr IST ein sehr visuelles Erlebnis. Das Aussehen ist wichtig. Wenn wir in eine Bar gehen, sprechen wir die Person an, die wir attraktiv finden. So sind wir Männer nun halt. Wir sind auf Äusserlichkeiten fixiert.»
Grindr habe ihn selbst ermutigt, ins Fitnessstudio zu gehen und sich fit zu halten. Joel gibt zu, dass er selbst manchmal auch ein oben ohne Foto als Profilbild eingerichtet habe. «Wir haben die Oberflächlichkeit nicht erfunden, sie liegt in der menschlichen Natur. Grindr spornt dich dazu an, die Messlatte höher zu setzen.» Nicht, dass ihm innere Werte nichts bedeuten würden. «Aber das Visuelle führt zu Begehren und begehrt werden.»
Wichtig für Joel war die Beschleunigung des Kennenlernprozesses online. Deshalb sei der visuelle Aspekt der App so wichtig. «Ich könnte dir sagen, dass ich nett anzusehen bin. Mit einem Bild weisst du allerdings sofort, woran du bist, und wir können uns das schwerfällige Gespräch übers Aussehen sparen. Wir können somit direkt rausfinden, ob es zwischen uns knistert.»
Doch Grindr musste auch schon in anderen Bereichen Kritik einstecken. Etwa, dass die App zu einem Anstieg von sexuell übertragbaren Infektionen geführt habe, oder dass sich User in ihren Profilen in diskriminierender Weise über ihre Vorlieben äussern würden mit Sätzen wie «Keine Schwarzen, keine Asiaten».
«Wir ermutigen unsere User, ihre Vorlieben in positive Worte zu fassen», sagt Joel. «‹Suche nur Christen›, oder so ähnlich. Für Rassismus habe ich keine Lösung.»
Einen Ansatz, um der Community unter die Arme zu greifen, erarbeiteten Joel und sein Team mit «Grindr for Equality». Die Kampagne soll User anhand von Nachrichten auf LGBT-Anliegen wie etwa Safer-­Sex oder politische Themen aufmerksam machen. 2011 verschickte Grindr eine Nachricht an alle User in Brasilien, um Unterschriften für eine Petition zu sammeln, die einen härteren Umgang mit Hassverbrechen forderte. Als im selben Jahr das US-amerikanische Militär ihre Praxis «Don’t Ask, Don’t Tell» aufhob, sammelte Grindr Geld für das Berufsnetzwerk von LGBT-Militärs.

«Ich könnte dir sagen, dass ich nett anzusehen bin. Mit einem Bild weisst du allerdings sofort, woran du bist, und wir können uns das schwerfällige Gespräch übers Aussehen sparen. Wir können somit direkt rausfinden, ob es zwischen uns knistert.»

Grindr als Treffpunkt, besonders in homophoben Ländern
Gemäss eigenen Angaben ist Grindr schon in 196 Ländern tätig, von Afghanistan bis in die Zentralafrikanische Republik, vom Vatikan bis nach Saudi Arabien.
Doch genau die Funktion, die Grindr zu grossem Erfolg verholfen hatte – die punktgenaue Positionsbestimmung – entpuppte sich letztes Jahr als Gefahrenquelle für Menschen in Ländern, in denen homosexuelle Handlungen verboten sind. In Ägypten nutzte die Polizei die Trilateration, um schwule Männer anhand ihrer Position auf Grindr zu orten und zu verhaften. Grindr reagierte, indem die Entfernungsangabe auf allen Profilen in kritischen Ländern deaktiviert wurde.
Joel hofft, dass dieser Schritt die Lage für Schwule in diesen Ländern entschärft hat. Die Entfernungsangabe soll noch so lange verborgen bleiben, bis sich die Situation für LGBT-Menschen verbessert.

Grindr in diesen Ländern ganz abzuschalten komme aber nicht infrage. Oft hätten Schwule dort keinen Ort, an den sie sich wenden können. «Wir haben gehört, dass Grindr in diesen Ländern zur einzigen Schwulenbar geworden sei», sagt Joel. «Wie man sich vorstellen kann, fühlen sich viele Männer im Stich gelassen. Über Grindr können sie sich wenigstens in einem geschützten Rahmen untereinander austauschen.»

«Wir haben gehört, dass Grindr in diesen Ländern zur einzigen Schwulenbar geworden sei»
«Wir haben gehört, dass Grindr in diesen Ländern zur einzigen Schwulenbar geworden sei»

Ein «Dienstleister» für die Szene
Mit Grindr hat Joel zweifellos einen Erdrutsch in der schwulen Kultur verursacht, nicht nur in der Art und Weise, wie sich schwule Männer kennenlernen, sondern auch, wie sie sich präsentieren und gesehen werden wollen. Trotzdem sieht sich Joel bloss als «Dienstleister», als Vermittler innerhalb der Szene.

Und auch nach sechs Jahren muss sich Joel immer wieder ins Bewusstsein rufen, dass er Millionen von Menschen weltweit zusammengebracht hat. «Die Reaktionen der Leute überraschen mich immer wieder, wenn ich ihnen sage, wer ich bin. Sie umarmen mich oder erzählen mir von den tollen Erfahrungen, die sie mit Grindr gemacht haben. Das macht Freude und ist der beste Job der Welt.»
Ob Joel selbst das grosse Glück auf Grindr gefunden hat? «Klar, jeden Tag», antwortet er lachend. Im Ernst: Er habe schon drei oder vier Mal einen Partner auf Grindr gefunden.
Im Durchschnitt einmal die Woche lerne er jemanden durch Grinder kennen, auf der App surft er täglich. Eine bestimmte Vorliebe hat er nicht, einzige No-Gos sind Raucher und Männer, die mit Katzen zusammen wohnen.

Wer aber denkt, Joel sei der ultimative Verkuppler, liegt falsch. «Wenn meine Mutter einen schwulen Mann auf der Strasse sieht, fragt sie ihn, ob er Grindr kenne. Wenn er meint ‹Ehm … Ja›, antwortet sie: ‹Mein Sohn hat es erfunden!›», so Joel. «Die will uns verkuppeln!»


Dad Bod

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