«Circus of Books»: Wenn Mami schwule Pornos vertreibt
Karen und Barry Mason vertrieben in den Achtzigern die grössten schwulen Pornoklassiker, inklusive die legendären Jeff-Stryker-Titel. Jetzt hat ihre Tochter eine Doku über das Unternehmen ihrer Eltern gedreht
Dokumentarfilme über die schwule Pornoindustrie sind wahrlich kein neues Phänomen, aber sie haben sich inzwischen von einem Nischenprodukt hinein in den Mainstream bewegt. Und sind jetzt sogar bei Netflix angekommen. Der dort aktuell zu bestaunende Film «Circus of Books» nimmt einen Sonderstatus ein, weil er hinter der Sexfassade eine berührende Mutter-Sohn-Geschichte erzählt.
In Abwandlung der berühmten Neil-Patrick-Harris-Nummer von den Tony Awards 2011 könnte man sagen: «It’s not just for gays anymore!» Soll heissen, heute beschäftigen sich weit grössere Kreise mit schwuler Pornografie als Schwule. Das gilt, im unmittelbaren Sinn, auch für stark pornografisch gefärbte Kunst. Das neue Zielpublikum für viele explizit homoerotische Werke sind selbstbewusste heterosexuelle Frauen, wie der Kunstberater Thomas Knapp unlängst in einem Interview erklärte: «Immer mehr Frauen drängen in den Kunstmarkt, Frauen, die CEOs sind mit genug Geld, um sich Arbeiten zu leisten. Sie kaufen sich Kunst zu ihrem eigenen Vergnügen, und sie wählen andere Themenschwerpunkte als vormals heterosexuelle männliche Kunstsammler. Sie wollen von den Werken stimuliert werden – und Männern beim Sex zu zuzusehen finden sie stimulierend!»
Das würden vermutlich auch die zahlreichen «Pornomuttis» sagen, die einen wichtigen Anteil am finanziellen Erfolg von Firmen wie CockyBoys und dem Genre des «Romantic Porn» haben.
Ganz unromantisch ist dagegen die Geschichte der Pornomutti bzw. der Pornoeltern Karen und Barry Mason, die zwischen 1982 und 2019 den Buch- und Pornoladen Circus of Books am Santa Monica Boulevard in West Hollywood betrieben. Karen war eigentlich Journalistin, Barry ein technischer Erfinder. Weil sie eine junge Familie mit drei Kindern zu ernähren hatten und mit ihren angestammten Berufen nicht genug Geld verdienten, stiegen sie zu Beginn der Aidskrise in den Vertrieb von Schwulenpornos ein, erst auf Videokassette, dann auf DVD.
Damit machten sie, ähnlich wie in Deutschland Unternehmer wie Bruno Gmünder, sehr viel Geld. Wobei das Besondere an den Masons ist, speziell an Karen, dass sie eine streng gläubige jüdische Frau ist. Wie in einer gespaltenen Persönlichkeit trennte sie für sich die Welt, mit der sie professionell zu tun hatte, von ihrem restlichen Leben. Niemand in ihrer Synagoge wusste vom Pornobusiness, nicht einmal ihre eigenen drei Kinder bekamen davon etwas mit oder fragten genauer nach.
Jetzt hat die Tochter der beiden, Rachel Mason, einen Dokumentarfilm über die letzten Tage von Circus of Books gedreht, der die Schliessung dieser Institution in Los Angeles dokumentiert. Produziert wurde das Ganze von – Überraschung? – Ryan Murphy. (MANNSCHAFT berichtete über Ryan Murphys neuestes Aktivismus-Projekt mit der Serie «Hollywood» bei Netflix.)
Der Film berichtet davon, wie das Geschäft mit Sexfilmen auf DVD zusammengebrochen ist, seit es Pornos im Internet gibt, wie das Geschäft mit den vielen klassischen Erotikheften eingebrochen ist, von denen viele Titel Insolvenz anmelden mussten, und sie berichtet davon, wie die meisten Menschen ihre Sexspielzeuge nicht mehr in einem Laden in einer unauffälligen Seitenstrasse kaufen. Ein Laden, in und vor dem ehemals auch heftig gecruised wurde, was die meisten heute via App tun, statt mit Besuch im Buchgeschäft. Kurz: Es ist ein Blick in eine andere Zeit und andere Ära der Schwulengeschichte.
Gleichzeitig schildert Rachel Mason dabei auch, welchen Boom die schwule Pornobranche durch die Aidskrise erlebte. Sie erzählt von der Angst, die viele Männer vor realem Sex hatten – weswegen sie flüchteten in die Safer-Sex-Welt von Videos und später DVDs. Dabei kommt sogar der grösste Pornostar der Epoche leibhaftig zu Wort: Jeff Stryker!
Den Mann mit dem «Powertool» heute zu sehen und zu hören, mit seiner tiefen sonoren Stimme und einem gespenstisch blassem Gesicht, das aussieht wie eine Madame-Tussauds-Wachsfigur, wäre allein schon Grund, diesen Film zu schauen. Und erinnert daran, dass es wirklich allerhöchste Zeit wäre, eine Jeff-Stryker-Doku zu machen.
Stryker schildert, wie es damals war, diese Mega-Seller als heterosexueller Mann «strictly for business» zu machen, spielt dabei mit einer Stryker-Doll (mit ausfahrbarem Penis) und berichtet von der Geschäftspartnerschaft mit den Masons. Dazwischen sieht man Ausschnitte aus den berühmten Stryker-Filmen, die daran erinnern, wie künstlich und surreal diese 80er-Jahre-Titel waren – fast so «plastikhaft», wie die Puppen und Dildos, die nach Stryker gefertigt wurden.
Auch Karen und Barry Mason sagen, rücklickend, dass ihr Pornokarriere damals «ausschliesslich eine Geschäftsgelegenheit» war. Und Barry erinnert sich, dass er zwar die unendlich vielen tragischen Sterbefälle an Aids sah, aber nie «direkt Teil davon» war. Es waren immer die «anderen», die das betraf. Nicht er selbst, nicht seine Familie.
Womit wir zum eigentlichen Kern der «Circus of Books»-Doku kommen, nämlich die Beziehung von Karen Mason zu ihrem schwulen Sohn Josh. Wie reagiert eine Frau, die auf professioneller Ebene Tag und Nacht mit schwulem Sex zu tun hat und damit keinerlei Probleme hat, wenn sich ihr eigener Sohn outet? Es ist das grosse Verdienst der Künstlerin Rachel Mason, dass sie ihre Mutter dazu bringt, sich zu öffnen. Und die erschütternde Geschichte zu erzählen, wie das Outing ihres «wunderbaren Sohnes» sie vollkommen aus der Bahn geworfen hat. (MANNSCHAFT berichtete über den «Konflikt zwischen Glauben und Sexualität».)
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Wir sehen in der Doku private Filmaufnahmen, wie Karen mit Josh in der Synagoge ist, wie er in die Gemeinde eingeführt wird, wie die Tora vor ihm liegt. Und wir hören von einem anderen Gemeindemitglied, dass Karen über ein Jahr mit niemandem darüber sprechen konnte, dass ihr eigener Sohn in «Schande» lebe. Die Mutter stürzte in eine Krise, die dazu führte, dass sie ihre eigene Theologie überdenken musste. Sie nahm Bibelstunden, um mehr darüber zu lernen, was genau «Schande» bedeutet. Denn sie wollte die «beste Mutter» für Josh sein, die sie sein konnte.
Dieser Prozess des Umdenkens ist der emotionale Kern des Films. Ein Umdenken, das dazu führt, dass Karen ihre Religion nicht aufgibt, sondern neu erfasst. Ein Umdenken, dass sie schliesslich zu «PFLAG» führt, einer Organisation für «Proud Parents and Family of Lesbian and Gay Children». Gemeinsam marschieren die Masons schliesslich mit PFLAG beim Gay Pride in Los Angeles mit, ironischerweise genau am Circus-of-Books-Laden vorbei.
Als dieser Laden schliesslich endgültig schliesst, bringt Karen Kisten von Material zur One Archive Foundation und übergibt die vielen historischen Zeitschriften, Filme, Dokumente etc. an das Archiv. Als Zeitzeugnisse, die einer zukünftigen Gegenration einmal Auskunft gegeben können über eine Welt, die untergegangen ist. Der unendliche Rest aus den Circus-of-Books-Lagerhallen landet in Müllcontainern. Und ist: weg.
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Es ist bewegend und wunderbar, dass Rachel diesen Transitionsmoment festgehalten hat. Und hoffentlich finden bald weitere Dokus den Weg zu Netflix, etwa die Doku über den 1970er-Jahre-Pornostar Jack Wrangler («Anatomy of an Icon»), über Falcon-Studio-Gründer Chuck Holmes («Seed Money»), über Colton Ford, François Sagat, Tom of Finland oder Bob Mizer und seine «Physique Pictorial»-Hefte, um nur einige zu nennen. Zu diesen alten Heften sagt Karen Mason übrigens in der «Circus of Books»-Doku, dass sie historisch «wirklich wichtig» waren und gegen «extreme Widerstände» produziert wurden, aber unendlich vielen Menschen geholfen hätten in ihrem Leben. «Darüber solltest du eine Doku machen», lauten Karens Worte an Tochter Rachel.
Bevor sich Rachel Mason oder Produzent Ryan Muprhy diesen Themen annehmen, läuft auf Netflix der halbdokumentarische Spielfilm «King Cobra» über den Karrierestart von Superstar Brent Corrigan alias Sean Paul Lockhart. Die Tatsache, dass der ehemalige Disney-Channel-Star Garrett Clayton die Rolle von Corrigan übernahm, ist mehr als bemerkenswert, auch die restliche Besetzung mit A-List-Hollywoodstars wie Christian Slater und James Franco ist verblüffend.
Ob es mal eine Aufsteig-und-Fall-Doku über das Bruno-Gmünder-Imperium geben wird, mit deutschen A-Listen-Darstellern über das deutsche Äquivalent zu Circus of Books? Man darf gespannt sein … Und «Circus of Books» als perfekte Vorlage studieren.
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