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Im Konflikt zwischen Religion und Sexualität

In der Reihe «Schalom Aleikum: Jüdisch-Muslimischer Dialog» ging es in Berlin um «Coming-out» und darum, was LGBTIQ zur Religion zieht

Religion und Sexualität
Der schwule Berliner Tugay Sarac fand unter radikalisierten Ismalisten «Gemeinschaft» und «klare Verhaltensregeln», wie er «diese Krankheit» loswerden könne (Symbolfoto: Utsman Media/Unsplash)

«Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?» Das ist in einem offiziell säkularen Land wie Deutschland eine schwierige Frage, wo Kirchen und Religionsgemeinschaften nach wie vor starken Einfluss auf den Staat ausüben und damit auf alle Menschen, die in diesem Staat leben. In der Reihe «Schalom Aleikum: Jüdisch-Muslimischer Dialog» lud der Zentralrat der Juden am Mittwoch zu einer Veranstaltung in Berlin-Mitte ein, wo jüdische und muslimische LGBTIQ über «Coming-out» diskutieren sollten. Dabei wurden trotz offizieller Schönwetterreden etliche Risse deutlich – und Wichtiges gesagt zur Frage, was Individuen eigentlich zur Religion treibt.

Bei der Veranstaltung in der Kalkscheune waren über 100 Gäste zugegen, darunter viele Medienvertreter*innen. Offensichtlich ist die Tatsache, dass sich Juden und Muslime – noch dazu LGBTIQ – gemeinsam auf ein Podium setzen und freundschaftlich austauschen eine Besonderheit im Jahr 2020. Obwohl Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrat der Juden in Deutschland, in seiner Begrüssung sagte, LGBTIQ sei doch «eigentlich nichts Besonderes». Dennoch sei es «offensichtlich etwas, das nicht selbstverständlich» sei und weswegen Menschen «immer noch angegriffen» würden.

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Ein Aufsteller bei der «Schalom Aleikum»-Veranstaltung in der Kalkscheune (Foto: Kevin Clarke)

Solche Angriffe kommen teils aus den eigenen Gemeinden, teils von Menschen, in deren völkisches Weltbild LGBTIQ nicht passe, besonders nicht im Kombination mit Islam und Judentum; die Angriffe kommen aber auch aus den jeweils anderen Glaubensgemeinschaften. Botmann plädierte für einen «unaufgeregten Umgang» mit LGBTIQ und einen gemeinsamen «Kampf gegen Hass und Intoleranz».

Veränderung kommt von den Rändern
Er verwies auch darauf, dass es in Deutschland bereits seit den 1990er-Jahren Organisationen gegeben habe für homosexuelle Juden. Und mit Jalda Rebling sass eine Kantorin auf dem Podium, die in einer lesbischen Beziehung lebt und schon länger eine Jewish-Renewal-Gemeinde in Brandenburg leitet, wo LGBTIQ willkommen sind. Sie berichtete aber gleich eingangs, dass die Reaktionen der Einheitsgemeinde, die eher orthodox geprägt sei, nicht unbedingt unterstützend waren. Und sind. Sie betonte jedoch, dass Veränderung immer von den Rändern ausgehe, nie von der Mitte. Deswegen seien auch die Fransen am Rand des Gebetsmantels Tallit heilig.


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Die Teilnehmer*innen der Diskussion: (v.l.n.r.) Tugay Sarac, Jalda Rebling, Moderatorin Ruth Ciesinger vom «Tagesspiegel», Leyla Jagiella und Eugen El (Foto: Kevin Clarke)

Leo Shapiro, der unlängst erst den Verein «Keshet» für queere Menschen jüdischen Glaubens gründete (also nicht nur für schwule Männer), erklärte in einer kurzen Ansprache aus dem Publikum, dass viele jüngere queere Juden sich in ihren Einheitsgemeinden – die der Zentralrat betreut – nicht aufgehoben fühlten. Und sich dort auch nicht willkommen fühlten. Ungeachtet der Botschaft von Daniel Botmann und ungeachtet der Tatsache, dass der Zentralrat ja Mitveranstalter dieses «Coming-out»-Events in der Kalkscheune ist.

Heteronormative Lebensentwürfe einzig richtig
In vielen Gemeinden sei «kein Platz für Queers» sagte Shapiro später. In einem Radiointerview hatte er erklärt: «Es gibt tatsächlich von institutioneller Seite keinerlei Angebot für queere Juden. In den Synagogen stellt man fest, dass Rabbiner, wenn nicht ausdrücklich, dann aber jedenfalls immer implizit queere Lebensmodelle für nicht gut heissen und auch teilweise ausdrücklich diskriminieren, weil sie immer wieder betonen, dass der heteronormative Lebensentwurf der einzig richtige sei.» Was die Arbeit von «Keshet» und Kantorinnen wie Jalda Rebling umso bahnbrechender macht.

Ebenfalls aus dem Publikum sprach der schwule Imam Christian Awhan Hermann von seinem 2018 gegründeten Verein «Kalima» und erklärte, was diese «Anlaufstelle für zeitgemäss lebende, inklusiv denkende Muslim*innen und LGBTIQ-Muslim*innen» in Form von Beratung, Unterstützung, Seelsorge und religiöser Praxis anbietet.


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Er erwähnte auch, wie viele Anrufe er täglich von verzweifelten Menschen bekomme, speziell von schwulen und bisexuellen Männern, die mit ihrer sexuellen Orientierung nicht klarkommen und Hilfe suchten, auch vor Ablehnung und Gewalt aus ihren Familien.

Gemeinschaft und Verhaltensregeln
Auf dem Podium sass der junge Tugay Sarac, der erzählte, wie er als Kind in Berlin mit den konservativen Idealen seines muslimischen Vaters aufwuchs. Bereits im Alter von sechs Jahren hörte er, dass Homosexualität «schlecht» sei. Und dass es nicht ins Männlichkeitsbild seines Vaters passte, wenn Sarac den Kinderwagen seiner Schwester schieben wollte. Nachdem der Vater 2006 starb, stürzte Sarac in eine tiefe Krise und suchte im Internet nach Antworten, wie er «diese Krankheit» loswerden könne. Dabei landete er bei den Salafisten: «Die hatten die einfachsten Lösungen», erzählte Sarac. Sie boten ihm eine «Gemeinschaft» und «klare Verhaltensregeln». Er wurde radikalisiert bzw. radikalisierte sich selbst, in der Hoffnung, so seine Homosexualität zu überwinden.

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Die «Schalom Aleikum»-Veranstaltung wurde medial aufwendig begleitet und dokumeniert, für die wissenschaftliche Nachbearbeitung (Foto: Kevin Clarke)

Erst als er 2017 zufällig in einem US-amerikanischen TV-Interview einen türkischstämmigen Kommentator hörte, der fragte, «Warum glaubst du an einen Gott, der dich für Ewigkeiten im Feuer schmoren lassen will für das, was du bist?», begann ein Prozess des Umdenkens.

Dabei half es Sarac, dass seine Tante Seyran Ate die Gründerin der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin-Moabit ist, wo Frauen Imam*innen sein dürfen und wo Schwule, Lesben und Transgender nicht nur willkommen sind, sondern sich auch trauen lassen können. Die Moschee lädt regelmässig zu Veranstaltungen ein, zum Beispiel zur «Queer Muslim Night». In dieser Moschee fand Sarac einen neuen Ankerpunkt für sein Leben. Und ist seither sehr öffentlich unterwegs, um den vermeintlichen Widerspruch von Islam und Homosexualität aufzulösen.

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Queerness und Extremismus
Auch Sarac sprach einen bemerkenswerten Satz. Er sagte, Queerness führe «oft zu Extremismus», wobei die beiden Extreme entweder «Atheismus» oder ein «radikaler Islam» seien. Er erinnerte daran, dass der Attentäter von Nizza bisexuell gewesen sei.

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Überall in der Kalkscheune waren Kameras aufgebaut, um diese «Coming-out»-Diskussion zu filmen (Foto: Kevin Clarke)

Während Sarac im Islam ursprünglich einen Weg zur Überwindung der eigenen Homosexualität suchte, suchte die muslimische Transfrau Leyla Jagiella in der Religion nach «grossen Antworten» zu ihren Fragen rund um Gender, die sie seit Kindertagen beschäftigten. Diese Antworten fand sie in den «konservativen» Moscheen nicht, die sie in Ostwestfalen besuchte. Die fand sie jedoch später in Indien und Pakistan, wo sie erlebte, wie muslimische Gemeinden mit dem sogenannten Dritten Geschlecht umgingen. Das war für Jagiella ein «anderer Islam», den sie mit nach Deutschland bringen wollte. Wo sie Religionswissenschaft studierte und u. a. mit queeren Geflüchteten arbeitet.

Viele Geflüchtete haben eine romantische Vorstellung von Deutschland und erwarteten, dass die LGBTIQ-Community wie eine grosse Familie ist, die sie umarmt

Diese hätten oftmals eine «romantische» Vorstellung von Deutschland und erwarteten, dass die LGBTIQ-Community hier wie einer «grosse Familie» sei, die sie «umarmt». Für viele sei die Realität dann eine Enttäuschung, mit Erfahrungen, die «psychisch verletzend» seien. Besonders wenn es um Rassismus und Islamophobie innerhalb der LGBTIQ-Gemeinde ginge und darum, dass «Araber» für manche einen «Macho-Fetisch» darstellten, den viele Geflüchtete nicht bedienen wollen oder können. Ähnliche eigene Erlebnisse bestätigt Sarac.

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Vergiftete Ideologie
Auch Sarac sprach von «rassistischen» Erfahrungen, wenn er beispielsweise bei einem Date zu hören bekam, dass er «für einen Muslim» ja ganz «sympathisch» sei. Das musste er erst mal verarbeiten. (Aus dem Date wurde deswegen nichts weiter.) Allerdings berichtete Sarac auch von einem jüdischen Mädchen, das er kennenlernte und von dessen Religionszugehörigkeit er anfangs nichts wusste. Wegen der «vergifteten Ideologie» in seinem Kopf und wegen des Anti-Semistimus, den er von Salafisten übernommen hatte, war er überrascht, als er erfuhr, dass das Mädchen jüdisch und dennoch «sehr sympathisch» war, wie er auf dem Podium erzählte.

Man könnte jetzt fragen, in wie fern das anders «rassistisch» sei, als die Reaktion seines späteren Dates? Worum wird bei dieser Erzählung vom Publikum wohlwollend und mitfühlend gelächelt, im anderen Fall aber verurteilt?

Jüdisch-Muslimischer Dialog
Das Programm der «Schalom Aleikum»-Veranstaltung enthielt auch zwei Publikumsabstimmungen, 47 Prozent identifizierten sich als LGBTIQ (Foto: Kevin Clarke)

Eine Frage der Bildung
Sarac plädierte dafür, Mitarbeiter in Schulen und Institutionen zu schicken, um diese vergiftete Ideologie zu bekämpfen. Denn: Es sei immer einer «Frage von Bildung», ob man «alte Narrative von bösen Juden» annehme. Nur Aufklärung könne diese durchbrechen. Das gilt sicherlich auch in Bezug auf viele LGBTIQ, die Angst vor Muslimen haben und durch deren Köpfe «alte Narrative» von Religionsfanatikern umherspuken, die mühsam erkämpfte Freiheiten in diesem Land gefährden könnten.

Jalda Rebling erinnerte gegen Ende der Veranstaltung daran, dass gar nicht über jüdischen anti-muslimischen Rassismus gesprochen worden sei. Der ist genauso verbreitet – vermutlich aus ähnlichen Gründen – wie bei LGBTIQ. Aber wie Daniel Botmann vom Zentralrat der Juden eingangs sagte: Alle seien vereint in ihrer Konfrontation mit Hass und Ausgrenzung.

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Darauf ging Leyla Jagiella in ihrem Schlusswort ein. Sie sagte, es wäre in Berlin von bestimmten Gegenden als No-Go-Zonen die Rede. Für sie als Transfrau sei jedoch «die ganze Mecklenburgische Seenplatte» eine No-Go-Zone – und das sei das grösste Problem für Queers, dass solche Zonen sich über gesamte Landstriche ausbreiten.

Alte Debatten wiederholt
Als nach der Veranstaltung Christian Awhan Hermann und Leo Shapiro von einem Reporter des Deutschlandfunk gefragt wurden, was sie eigentlich nicht mehr hören wollten, antworten sie: «Ob homo, bi oder trans sündhaft ist!» Worauf der Radioreporter sagte, er habe das Gefühl, hier würden im Rahmen der jüdischen und muslimischen Gemeinden Debatten wiederholt, die auf christlichen Kirchentagen bereits vor 20 Jahren geführt worden seien.

Recycling von Geschichte?

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Der Imam Christian Awhan Hermann im Gespräch mit MANNSCHAFT (Foto: Kevin Clarke)

Hermann erzählte, dass der Islam in Deutschland «mehr Vielfalt der Strömungen» habe als anderswo. Darin sehe er eine Chance, wenn’s ums Aufarbeiten von LGBTIQ gehe. Er selbst habe 28 Jahre ohne religiöse Festlegung gelebt und war eine Schwester der perpetuellen Indulgenz. Als solche wurde er vielfach konfrontiert mit Menschen, die im Konflikt zwischen Religion und Sexualität lebten. Für sie hatte er keine «Verweismöglichkeiten». Als er dann auf die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee zuging wegen Kooperationsmöglichkeiten, wurde ihm «der Islam auf einem Silbertablett serviert». Er erlebte einen «metaphysischen Moment» und nahm diese «Religion» mit ihrem «Gott» an.

Virtueller Raum vs. reales Leben
Auch Hermann hatte ein bemerkenswertes Statement gegenüber MANNSCHAFT. Auf die Frage, ob er seither Beleidigungen und Anfeindungen ausgesetzt sei, erwiderte er, solche «Trolls» erlebe er nur im virtuellen Raum, nicht im realen Leben. Weswegen er sich von Internetaktivismus fernhalte. Er erlebe auch wenige Radikale im muslimischen Mainstream, der sich am Diskurs in Deutschland beteiligen.

Hermann sei es wichtiger, jeden Tag drei bis vier Seelsorgetermine wahrzunehmen, statt seine Zeit in Salafisten-Gemeinden zu verschwenden, wo eh niemand an seinen Positionen interessiert sei.

Als jemand, der selbst zum «Extremisten» geworden ist, in diesem Fall zum Atheisten, der die strikte katholische Glaubenslehren seiner nordirischen Jugend hinter sich gelassen hat, fragte ich mich beim Verlassen der Kalkscheune, ob nach der Überwindung der Männlich-Weiblich-Binarität der utopischen queeren neuen Welt auch Religion und das Konzept von «Sünde» überwunden werden können. Womit solche «Schalom Aleikum»-Veranstaltungen überflüssig würden.

Momentan sind sie es nicht.


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