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Wenn akademische Diskussionen reale Probleme von Queers überlagern

Wer redet heute noch von LGBTIQ in Afghanistan?

Taliban
Solidaritätsdemo in Helsinki (Foto: Mikko Stig/Lehtikuva/dpa)

Immer mehr scheint in der LGBTIQ Community eine akademische Diskussion über die Macht der Sprache als revolutionäres Element alle Diskussionen über reale globale Probleme zu überlagern – etwa in Afghanistan. Hierzulande werden Opferhierarchien gepflegt und politische Kommentare mit Debatten über die Schreibweise einzelner Begriffe erstickt, schreibt unsere Autorin in ihrem Kommentar*.

Im August verliessen die amerikanischen Truppen und ihre Verbündeten – dazu gehörten auch deutsche Soldatinnen und Soldaten – Afghanistan. Das Machtvakuum nutzten die militant-islamistischen Taliban zur Machtübernahme (MANNSCHAFT berichtete). Einige Wochen blieb das Thema in den Nachrichten, weil der amerikanische Präsident durch diese Niederlage deutlich an aussenpolitischer Autorität verloren hatte. Auch in Deutschland tat sich die Öffentlichkeit schwer damit, dieses Desaster zu bewerten. Aber immer mehr wurde das Thema gesamtgesellschaftlich durch die Covid-Lage in Europa verdrängt.

Die LGBTIQ-Szene igelte sich unterdessen immer mehr in ihre internen politischen Streitigkeiten über Identität und Sexualität ein. Doch wie ging es weiter in Afghanistan? Gern würden wir berichten, dass es doch nicht so schlimm kam, wie ursprünglich angenommen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Das Land steckt in einer tiefen wirtschaftlichen Krise durch Missmanagement, Terror und eine langanhaltende Dürre. Ausländische Presse ist weitestgehend ausgesperrt, sodass Berichte über die massive Verfolgung Andersdenkender und insbesondere Frauen und anderer machtlosen Minderheiten nur über soziale und politische Kontakte herausgeschmuggelt werden können. Die westliche Presse spricht von «schwer zu verifizierenden» Berichten. (Die Taliban sollen auch Todeslisten für LGBTIQ führen – MANNSCHAFT berichtete)

Diese Berichte schildern breit angelegte Hausdurchsuchungen, bei denen vorwiegend Frauen, die sich als Lehrerinnen, Dozentinnen oder Sportlerinnen engagiert haben, verhaftet werden. Ehemalige Regierungsmitarbeitende und Sicherheitskräfte, politische Oppositionelle und Menschen, die einen «städtischen» Lebensstil hatten, und ganze Gruppen und einzelne Vertreter*innen der Zivilgesellschaft werden gewalttätig verschleppt und verschwinden oftmals völlig. Hinrichtungen sind an der Tagesordnung.


Deutsche Diplomat*innen sind in den letzten Tagen ins Land gereist, um sich mit den Machthabern an einen Tisch zu setzen. Ihr Ziel: Sie wollen Schulen aufbauen und die Not lindern. Ihre Bedingung: Die Schulen müssen auch Mädchen und Frauen offenstehen, Frauen sollen dort als Lehrerinnen arbeiten dürfen. Doch wird das gelingen? Das ist zu bezweifeln. Denn seit der Machtübernahme ist jede Beteuerung der Unterdrückenden, sich human zu verhalten, Lügen gestraft worden.

Was aber hat das mit der LGBTIQ-Szene, also mit uns zu tun? Afghanistan ist nicht nur ein Symbol dafür, wie der kalte Krieg zwischen Ost und West radikale Kräfte an den imperialistischen Austragungsorten dieses Konfliktes gefördert hat. Es ist auch ein Symbol dafür, wie sehr sich die Befreiungspolitik einer ehemals global ausgerichteten Solidaritätsbewegung für die Freiheit von Schwulen, Lesben und Queers verändert hat. War im August und September die Besorgnis noch gross, was aus den Schwulen, Lesben, trans Personen und allen anderen Queers wird, wurde das Thema Afghanistan schon wieder an den Rand gedrängt von internen Auseinandersetzungen über Identität, Feminismus und Diversität. Wo bleiben die Forderungen danach, die Betroffenen und Verfolgten in Afghanistan auszufliegen und ihre Lebensform als Asylgrund uneingeschränkt anzuerkennen? Die Stimmen dazu werden wieder rarer, das Problem bleibt, beziehungsweise wächst in dem totalitär besetzten Land.

Die Ursachen für diese Ignoranz liegen auf der Hand. Bis vor wenigen Jahren haben politische Queers vor Allem die Befreiung der Gesellschaft als Voraussetzung für ein freies Leben für Schwule, Lesben, Trans und Queer gesehen. In einer kollektiven Befreiung der Gesellschaft sollte die Freiheit des Individuums gewährleistet und damit auch die Freiheit von Sexualität und Identität gesichert werden. Damit war das Augenmerk auch auf die gerichtet, die in religiös oder politisch totalitär unterdrückten Gesellschaften oder Gemeinschaften leben mussten. In den letzten Jahren geriet dieser Ansatz zusehends unter den Verdacht, kulturelle und religiöse Autonomie zu missachten. Feinheiten von Religion als spirituelle Selbstverwirklichung versus religiös verbrämter Unterdrückung Andersdenkender wurden teilweise unter Rassismusvorwürfen begraben.


In Europa – insbesondere Grossbritannien – und den USA sind weite Teile der Diskussion okkupiert von Fragen über Geschlecht, Identität und Sexualität der einzelnen Personen in den privilegierten Gesellschaften. Opferhierarchien werden gepflegt, Fraktionskämpfe geführt und politische Kommentare werden mit Debatten über die Schreibweise einzelner Begriffe erstickt. Immer mehr scheint eine akademische Diskussion über die Macht der Sprache als revolutionäres Element alle Diskussionen über reale globale Probleme zu überlagern. Den Frauen, Lesben, Schwulen und Queers in Afghanistan ist damit ebenso wenig geholfen wie den Betroffenen in anderen Ländern, in denen Homosexualität und/oder Transsexualität per Gesetz verboten ist.

 

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Vielleicht läge darin sogar eine Chance, sich aus einer bedrückenden Nabelschau auf die eigene Identität zu befreien, wenn wir uns auf die lebensbedrohlichen Situationen queerer Menschen in anderen Ländern konzentrieren würden. Eins ist jedenfalls klar: Wenn Frauen, Lesben, Schwule, Trans und Queers inhaftiert und hingerichtet werden müssen wir auch weiter für sie kämpfen, auch wenn sie aus den täglichen Nachrichten verschwunden sind.

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.


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