«Ach, das ist doch der schwule Roth!»
Der Europastaatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, will künftig mit Christina Kampmann die SPD führen
Am Samstag wird das Ergebnis des SPD-Mitgliederentscheids zur Wahl der neuen Doppelspitze verkündet. Noch bis Mitternacht läuft die Abstimmung. Einer der Bewerber ist der offen schwule Europastaatsminister im Auswärtigen Amt: Er tritt mit Christina Kampmann an. Wir trafen Michael Roth am Montag. Die AfD hat die Abmahnungen, über die wir mit ihm sprachen, mittlerweile eingestellt.
Herr Roth, die Abstimmung über die neue SPD-Spitze läuft zäh. Stand Montag hatten nicht mal 30 % der Parteimitglieder abgestimmt. Enttäuscht Sie das? Enttäuscht bin ich nicht, das war ja ein Zwischenstand. Die Mehrheit der Mitglieder hatte bislang online abgestimmt, bei den Briefwählerinnen und Briefwählern dauert es natürlich länger. Wir dürften aber nicht ganz an die aussergewöhnlich hohe Wahlbeteiligung beim Mitgliedervotum über die GroKo herankommen. Einfach weil es diesmal nicht auf eine klare Ja/Nein-Entscheidung hinausläuft. Es sind ja noch sechs Teams im Rennen. Aber unabhängig davon, ob nun 50 oder gar 70 Prozent ihre Stimme abgeben werden: Am Ende ist dieses offene und transparente Verfahren doch deutlich besser, als wenn wie bisher einige wenige im Hinterzimmer die künftige Parteispitze auskungeln.
Es soll Genossen geben, die sagen, Sie machen eine gute Show, aber es steckt nichts dahinter. Das finde ich absurd. Man darf von angehenden Vorsitzenden einer stolzen, ehrwürdigen Partei wie der SPD schon erwarten, dass sie rhetorisch gut drauf und zu überzeugenden Auftritten in der Lage sind. Zumindest für Christina Kampmann und mich ist das nicht die Kür, sondern das Pflichtprogramm. Mich verwundert eher, dass von politischem Führungspersonal nicht ein Mindestmass an Professionalität erwartet wird. Das Besondere an den Konferenzen war doch, dass es nicht um eine Egoshow von zwei Solisten ging, sondern Teamspiel gefragt war. Christina und mir war wichtig zu zeigen, dass da ein echtes Team auf Augenhöhe auf der Bühne steht. Natürlich haben wir uns vorher abgesprochen. Aber dafür haben wir keinen Choreographen oder Trainer benötigt. Letztlich war unser Anspruch an uns selbst, die Botschaften und Inhalte so zu präsentieren, dass Menschen gerne zuhören, neugierig werden und sich im Idealfall sogar überzeugen lassen. Das geht nicht, wenn man nüchtern seine Sprechzettel abliest. Ohne Leidenschaft, Empathie und Zugewandtheit funktioniert das nicht.
Sie sprechen von der alten, stolzen SPD. Wie stolz kann man Umfragewerten unter 20 % noch sein? Stolz ist die SPD natürlich weiterhin auf ihre Geschichte. Als ältestes Bündnis gegen Rechts hat sie seit 1863 – bei manchen Fehlern, die sie auch mit zu verantworten hat – immer auf der Seite der Freiheit und der Demokratie gestanden. Natürlich kann sie nicht stolz sein auf den derzeitigen Zustand. Die Partei ist wund, sie hadert mit sich selbst. Aber eines war bei den Regionalkonferenzen deutlich spürbar: Viele unserer Mitglieder sehnen sich auch wieder nach einem Aufbruch, sie wollen kein einfaches «Weiter so». Das ist ja jetzt eine Chance für einen echten Neustart. Insofern sollte man die SPD nicht abschreiben, es steckt noch ganz viel Leben in ihr.
Dass so wenige Genossen abstimmen, liegt nicht möglicherweise auch daran, dass sie nicht mehr die Hoffnung haben, jemals wieder auf die Beine zu kommen, egal wer an der Spitze ist? Das glaube ich nicht. Man sollte das auch nicht überbewerten. Erstens ist es ein völlig neues Verfahren, das muss eine traditionsbewusste Partei wie die SPD erstmal lernen. Wir haben mit diesem Prozess Neuland betreten. Viele kritisieren uns ja dafür, weil es aufwändig ist und sehr lange dauert. Am Anfang waren es sehr wenige Teams, dann waren es plötzlich zu viele, mal gab es zu wenige, mal zu viele Kontroversen. Am Ende wird sich die SPD für diesen grossartigen, mutigen Prozess ganz sicher nicht schämen müssen. Im Gegenteil!
Was gibt es denn da zu lernen? Man klickt seine Wunschpaarung an und drückt auf Senden, oder? Mit einer Ausnahme haben bisher ausschliesslich Delegierte unserer Parteitage über die Vorsitzenden entschieden. Noch nie gab es eine solche Tournee, bei dem die Kandidierenden durch die ganze Republik reisten, um sich und ihre Ideen vorzustellen. Das Verfahren ist ja auf grosse Zustimmung gestossen. Die Säle waren voll, es gab ein riesiges Interesse. Und die SPD hat sich endlich mal wieder von ihrer besten Seite gezeigt: offen, diskussionsfreudig und mit einer fairen Streitkultur.
Sie wären der erste offen schwule SPD-Vorsitzende. Finden Sie, dass man darüber eigentlich noch reden muss, oder ist es egal? Offenkundig scheint es für manche noch ein Thema zu sein. Als ich am Wochenende bei mir zuhause in Bad Hersfeld unterwegs war, stiegen zwei Typen aus dem Auto und der eine meinte zum anderen: Ach, das ist doch der schwule Roth! Er hätte auch sagen können, das ist der Sozialdemokrat oder der Politiker Roth, das ist der Hersfelder oder meinetwegen der verrückte Roth, aber nein: Es ist der schwule Roth gewesen! Für manche ist das eben immer noch keine Selbstverständlichkeit. Und ich bin mir natürlich, ohne das in irgendeiner Weise überbewerten zu wollen, der Verantwortung für die Community bewusst.
Ich habe selbst in einem schmerzhaften Prozess lernen müssen, zu meinem Schwulsein zu stehen. Wieviel Kraft und Überwindung kostet es heute noch Menschen, offen dazu zu stehen, schwul, lesbisch, bi oder transgender zu sein. Darum ist es ja so wichtig, dass es positive Identifikationsfiguren gibt, die anderen Mut machen: Man kann es schaffen, man kann in der Mitte der Gesellschaft akzeptiert und angekommen sein – und nicht nur irgendwie toleriert werden. In der Politik haben wir da viel erreicht. Aber in der Wirtschaft oder im Sport ist noch ganz viel Luft nach oben.
Die Bemerkung der Männer war abfällig gemeint? Ich hatte nicht den Eindruck, dass diese Bemerkung von Respekt getragen war. Ich bin schon in der Lage, so etwas herauszuhören. Ich war ein bisschen verwundert. Es scheint eben immer noch etwas Aussergewöhnliches zu sein.
Wie steht es denn mit dem Zustand der Demokratie in Deutschland? Die AfD will Ihnen gerichtlich die Äusserung verbieten lassen, dass sie der «politische Arm des Rechtsterrorismus» sei, wie Sie in einem Interview mit der Welt kürzlich gesagt haben. Gleichzeitig darf man Politiker*innen wie Renate Künast in den sozialen Netzwerken auf das übelste beschimpfen, wie kürzlich ein Berliner Gericht entschieden hat. Ich beobachte zwei Entwicklungen: Erstens gewöhnt sich unsere Gesellschaft immer mehr daran, dass Hass, Beleidigungen und Diskriminierung zum Alltag gehören und von vielen auch erduldet werden müssen. Wobei ich mir weniger Sorgen mache um Politikerinnen und Politiker wie mich, sondern eher um junge Menschen, die nicht so gefestigt und selbstbewusst sind. Wie sollen die sich denn einem solchen Mobbing entgegenstellen? Renate Künast und mich zeichnet vermutlich eine gehörige Portion Selbstbewusstsein aus. Mir geht es um die vielen Menschen, die darunter leiden, wenn sie öffentlich gedisst werden, wenn sie wegen ihres Glaubens, ihrer sexuellen Orientierung oder Herkunft ausgegrenzt und aufs schlimmste beleidigt werden. Zweitens drohen die Grenzen immer unschärfer zu werden zwischen dem, was in einer demokratisch verfassten Gesellschaft noch tolerabel ist und dem, was wir eindeutig als Rassismus, Nationalismus, Populismus, Faschismus, Homophobie und Antiziganismus zu bezeichnen haben.
Deutschland hat sich lange in der Sicherheit gewogen, dass wir aufgrund unserer historischen Verantwortung für Holocaust, Faschismus und Krieg mehr oder wenig immun seien gegenüber einer dauerhaften Verankerung von Antisemitismus, Faschismus und Rassismus in unserer Gesellschaft. Jedoch sind heutzutage wieder Hassprediger, Antisemiten, Demokratieverächter, Rassisten und Homophobe Teil unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit. Das sind nicht nur Typen mit Glatze und Springerstiefel, der Rechtsradikalismus ist angekommen in der Mitte unserer Gesellschaft. Das ist eine ganz schmerzhafte Erfahrung, da haben wir selber auch Lehrgeld gezahlt. Der kämpferische Umgang mit dieser beschämenden Verächtlichmachung von Geflüchteten oder Minderheiten, der muss erlernt werden, und wir haben das noch nicht zur Genüge getan.
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