Zu Besuch bei den «Golden Gays» – Dragqueens in Manila
Überleben auf den Philippinen (Teil 2): Porträts schwuler Pensionäre, die nebenbei als Dragqueens arbeiten
Die Golden Gays von Manila sorgten weltweit für Aufmerksamkeit, nachdem sie vom Fotografen Geloy Concepcion in sein Studio eingeladen worden waren. Die alten Männer, hager und voller Glitzer, posierten in Drag vor einer schlichten Studiowand. Die entstandenen Bilder sind wunderschön und fanden ihren Weg in internationale Publikationen.
Text: Cedric S. Reyes
Im Auftrag von «Team», einer Schwulenzeitschrift mit Sitz in Manila, würde ich jeweils ein sauberes Hemd anziehen, meine Fragen auf Papier festhalten und sicherstellen, meistens zweimal, ob mein Computer genügend Festplattenspeicher für die Tonaufnahme hatte. Als Novize, kaum ein richtiger Journalist, würde ich am verabredeten Treffpunkt ankommen und meine niedergeschriebenen Fragen stellen. Darüber, was es bedeutet, als schwuler Mann auf den Philippinen zu leben.
Manila, die Hauptstadt der Philippinen, erstreckt sich lediglich über rund 600 km. Die Bevölkerung ist mit 24 Millionen hingegen gross, wenn auch zersplittert aufgrund sozialer und wirtschaftlicher Unterschiede. Die wenigen, die reich sind, verkehren nur unter sich, und die überwiegende Mehrheit – die Armen und die Arbeiterklasse – ist zu sehr mit dem Überleben beschäftigt, um sich daran zu stören.
Es waren Geschichten, die ich noch nie gehört hatte, von Männern, die ich andernfalls nie kennengelernt hätte. Ihre Erzählungen nahmen unterschiedliche Formen an, doch eines hatten sie gemeinsam: Sie spielten vor der Kulisse von Manilas klaffender Ungleichheit.
Diese Gespräche fanden innerhalb des letzten Jahres statt und dienten der Recherche, um Material für diverse Artikel zu sammeln. Diese Geschichten sind nicht meine und sie erzählen nicht von mir. Es sind lediglich Versuche, einen Einblick in das Leben in dieser uneinheitlichen Stadt zu bekommen und dabei etwas Wahrheit ans Licht zu bringen.
Dieses eine Wort, «schwul», lernte er erst, als man ihn in der Schule damit hänselte.
Zu dir oder zu dir? Jacob ist das älteste von fünf Geschwistern und arbeitet als Fotograf. Ich traf ihn in der Raucherzone einer japanischen Kneipe in Little Tokyo, dem Stadtteil, den japanische Expats ihr zu Hause nennen. Er ist nicht viel älter als ich und wir treffen uns, um über seine Kindheit zu sprechen. «Ich war in der Primarschule, als ich herausfand, dass ich schwul bin», erzählt er. «Auf einmal fühlte ich mich anders als alle anderen. Ich hatte diese Spannung in mir drin und wusste, dass etwas nicht stimmte.»
Dieses eine Wort, sein Urteil, «schwul», lernte er erst, als man ihn in der Schule damit hänselte. Seine Freunde waren ihm auf der Spur, und nicht viel später auch seine Familie. Nachdem sie seine Sammlung männlicher Nacktfotografien unter dem Waschbecken fand, begann sich Jacobs Zuhause allmählich auf sein Zimmer zu beschränken. Sein Vater beschlagnahmte das Buch mit den Nacktfotografien und befahl ihm, es in den grossen Schredder zu werfen. «Uns gehört eine Fabrik, die Papier recycelt», sagt Jacob. «Er nahm mich und das Buch mit zur Arbeit. Ich sollte es in die Maschine vor mir werfen. Und das tat ich auch.»
Trotz des Traumas lebt Jacob heute immer noch mit seiner Familie. «Ich bin jetzt in meiner vierten Beziehung. Es ist die dritte, die ernst ist», sagt er über seine bisherigen Partner. «Keiner von ihnen hat je meine Eltern kennengelernt. Keiner von ihnen ist je nach Hause gekommen.»
Die Queens von Pasay Den Abend, bevor ich die Queens treffe, verbringe ich bei einem Liebhaber. Gemeinsam kochen wir unser Abendessen, und ich erzähle ihm von meinem bevorstehenden Interview. Ich habe mich am Mittag mit Raymond und dem Rest der «Golden Gays» verabredet, einer Gruppe von Pensionären, die nebenbei als Dragqueens arbeiten. Wir werden uns in ihrer gemeinsamen Wohnung in Pasay, im Süden Manilas, treffen.
Die Golden Gays von Manila sorgten weltweit für Aufmerksamkeit, nachdem sie vom Fotografen Geloy Concepcion in sein Studio eingeladen worden waren. Diese alten Männer, hager und voller Glitzer, posierten in Drag vor einer schlichten Studiowand. Die entstandenen Bilder sind wunderschön und fanden ihren Weg in internationale Publikationen.
Raymond, der unter dem Bühnennamen Monique dela Rue auftritt, vertritt die Organisation der über 40 Queens, die liebevoll «Lola» genannt werden, was auf Filipino Grossmutter bedeutet. Am Telefon klingt Raymond liebenswürdig und zuvorkommend. Er gibt mir die Adresse und weist mich auf Orientierungspunkte hin: die Kirche, die Kreuzung, die ich nicht verpassen könne. Es sei einfach, sich zu verlaufen, sagt er. Er bittet mich, etwas Essen mitzubringen, das wir teilen können.
Das Essen ist das erste, woran ich beim Aufwachen am nächsten Morgen denke. In einem Restaurant lasse ich mir eine grosse Portion Pancit einpacken – das nationale Nudelgericht –, bevor mich ein Taxi nach Pasay bringt.
In den Achtzigern galt dieser Stadtteil als Heimat der Gay-Community, die Bars entlang der Libertad priesen – wer auch immer dafür zu haben war – eine gute Zeit und Shows an. Diese Bars gibt es heute immer noch, aber die Kundschaft ist längst weitergezogen. Einige haben ihre Stammkneipe in trendigeren Stadtteilen gefunden, andere haben sich vom schwulen Leben verabschiedet oder gemeinsam mit den glorreichen Tagen Pasays das Zeitliche gesegnet.
An der F. B. Harrison Street thront die Kirche «Our Lady of Sorrow» über die anderen Gebäude. Ich steige aus dem Taxi in die pralle Mittagssonne und suche die Strasse nach Raymond ab, der mit mir die Kirche als Treffpunkt vereinbart hat. Nach ein paar Minuten erscheint ein Mann in Poloshirt und Jeans, beides eine Grösse zu klein für seine imposante Statur. Er trägt Hausschuhe und eine Drahtbrille. Monique dela Rue.
Die tägliche Arbeit Nach meiner Ankunft stellt mir Raymond Lola Leony und Lola Beyonce vor, die Künstlernamen gelten auch abseits der Bühne. Ihr Zuhause ist Teil eines kleinen Komplexes mit unebenen Betonböden, die nass vom Regen oder vom Seifenwasser des Waschtrogs sind. Hinter einer Stahltür, geschmückt mit Fotos der Lolas auf der Bühne, liegt das Zuhause der Golden Gays. Fässer, die man üblicherweise zur Wasseraufbewahrung in Gegenden mit unzureichenden Sanitäranlagen verwendet, reihen sich an die Wand neben Lola Leonys Bett. Mit 93 Jahren ist er das älteste Mitglied der Golden Gays. Seine Habseligkeiten sind in den Fässern verstaut, damit die Ratten nicht herankommen.
Raymond, Leony und Beyonce sind die Einzigen, die zuhause sind. «Rumaraket yung iba», sagt Raymond. «Die anderen arbeiten.» Er spricht von 20 bis 25 anderen Bewohnern.
Während Raymond das Pancit auf vier Teller schöpft, erzählen mir die Lolas von ihrem Alltag. Beyonce macht Jobs als Make-up-Artist und arbeitet für Beamte manchmal als Masseur. Leony kann nicht länger arbeiten und bleibt während meinem ganzen Besuch im Bett. «Malakas pa rin ako», wiederholt er immer wieder. «Ich bin immer noch bei Kräften.»
Seit dem Ende der Blütezeit Pasays ist es gemäss Raymond schwierig geworden, Arbeit als Dragqueen zu finden. Buchungen wurden selten und liegen weit auseinander, so dass die Queens ein anderes Einkommen finden mussten. Da sie nie für den Staat oder ein Unternehmen gearbeitet haben, erhalten sie auch keine Pension. Einige von ihnen verdienen ihren Unterhalt als Strassenverkäufer in den Märkten von Baclaran und verhökern Süssigkeiten oder Zigaretten. Andere waschen Teller in nahegelegenen Restaurants. Wiederum andere haben Arbeit als Strassenfeger oder in den Freizeitparks im Süden der Stadt gefunden.
Das Durchschnittsalter der Golden Gays ist 60. Die drei Queens erzählen von langen Zeitspannen, in denen sie ihre Schwestern nicht sehen. Wenn sie dann endlich zum Schlafen ins Haus an der F. B. Harrison zurückkehren, gehen sie als Erstes in die Küche, um nach dem Essen zu sehen. Beyonce zeigt mir den Rest des Hauses, eine einstöckige Einheit, höchstens 50 Quadratmeter gross. «Swerte na rin kami.» «Wir haben Glück.» Nachdem wir das Pancit fertig gegessen haben, zeigen sie mir ihren in Flaschen abgefüllten Glitzer.
Geburtstagsnudeln In Makati, einem der Geschäftsviertel von Manila, treffe ich mich mit Kevin und June zum Frühstück. Wir haben uns für ein gehobenes Café entschieden, weil es sich in der Nähe ihrer Wohnung befindet. Die Küche serviert frischen Sauerteig, sortenreinen Kaffee und Salat, der auf Wunsch laktosefrei zubereitet wird.
Kevin und June sind beide grossgewachsen und gut gebaut – auf eine Art, die nur durch gute Gene und Stunden im Fitnessstudio möglich wird. Beide führen in der Stadt ein Geschäft und sind seit über vier Jahren verheiratet. Die Hochzeit bestand aus einer kleinen Zeremonie in San Francisco, der wenige Freund*innen und Familienmitglieder von beiden Seiten beiwohnten. Es ist nicht die malerische Kulisse oder gar die Zeremonie, die die beiden mit Stolz erfüllen, sondern die Gästeliste.
Das Angsteinflössende am Schwulsein ist das einsame Älterwerden.
«Sie war sehr traditionell», sagte Kevin von seiner Erziehung in einer chinesischen Familie, die vor drei Generationen auf die Philippinen eingewandert war. Als er sich seiner Homosexualität bewusst wurde, war seine erste Angst, alleine zu sterben. «In unseren Tagen, in den Neunzigern, war alles sehr klischeehaft, alles was man im Fernsehen sah», sagt er. «Es gab keine sozialen Medien und das Einzige, was man sah, war ein Schwuler im Friseursalon oder als Zielscheibe eines Witzes. Das Angsteinflössende am Schwulsein ist das einsame Älterwerden.»
Es scheint, dass dieser Gedanke Kevin bis in seine Mittvierziger begleitete. Ein Gespräch mit June – zu dieser Zeit seit vier Jahren sein Freund – änderte seine Meinung. «Warum sollten wir heiraten?», sagt June. «Wir waren nicht wirklich davon überzeugt. Eine Ehe für Schwule schien uns wie zwei Dumme, die sich einen Doktortitel geben.»
«Und dann sagte er etwas», sagt Kevin. «Etwas über die Anerkennung der Familie. Eine formelle und offizielle Anerkennung.» Es war nicht so, dass Kevin und June ihre eigene Familie gründen wollten. Die Ehe war eine Einführung in die Familie des anderen.
Das philippinische Gesetz anerkennt keine gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Familien wie diejenige von Kevin, die seinen Partner schnell akzeptieren, sind die Ausnahme.
Das Paar kann sich gut an die Reaktion von Kevins Eltern erinnern, nachdem sie ihre Hochzeit verkündet hatten. Der Vater wollte wissen, ob ihre US-Visen noch gültig waren. Die Mutter dachte laut nach: «Was ziehe ich wohl an?»
Heute, vier Jahre nach ihrer Hochzeit, manifestiert sich ihre Partnerschaft im Familienkreis durch Traditionen.
«Du kennst bestimmt die Geburtstagsnudeln», sagt Kevin zu mir. Er bezieht sich auf das Pancit, das am Geburtstag eines Familienmitglieds serviert wird. Auf den Philippinen symbolisieren die langen Nudeln Wohlstand und ein langes Leben. «Für jede Person in der Familie wird zum Geburtstag Pancit gekocht. Bevor wir verheiratet waren, gab es keine Geburtstagsnudeln für ihn.»
«Jetzt bekomme auch ich Geburtstagsnudeln», sagt June, und ein kleines Lächeln breitet sich auf seinem müden Gesicht aus.
[vc_text_separator title=“Die Golden Gays“ color=“custom“ accent_color=“#a76bcf;“][vc_column_text]Die Lebensgeschichten der Golden Gays sind vielfältig. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Leony als Prostituierte für US-amerikanische Soldaten. Frederico wurde mit sieben Jahren von seiner Mutter verstossen, weil er «zu mädchenhaft» war. Semmy versteckte seine Sexualität das ganze Leben lang. Ohne das Heim für die Golden Gays wären sie obdachlos. Der kurze Dokumentarfilm «Home for the Golden Gays» mit englischen Untertiteln gewährt einen Einblick in ihr Leben.
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