Wenn man sich ungesehen fühlt: Einsamkeit in der LGBTIQ-Community

Was sind die Ursachen? Und was die möglichen Wege, mit Einsamkeit umzugehen?

Foto: Unsplash/Francisco Gonzalez
Foto: Unsplash/Francisco Gonzalez

Fast jeder von uns kennt dieses Gefühl: Eine Leere, die sich langsam von der Brust bis in den letzten Winkel des Körpers ausbreitet. Gefühle der Freude werden mit gnadenloser Brutalität verdrängt und der Verstand mit schweren Gedanken verhängt. Wir haben uns an unsere Leser*innen gewandt, um zu erfahren, inwieweit Einsamkeit die Lebensrealität der LGBTIQ-Community (mit)bestimmt.

Einsamkeit – was ist das eigentlich? Wenn es uns an wahrhaftigen Beziehungen mangelt, daran, dass andere uns zur Seite stehen und unser Bedürfnis nach Nähe und Zuwendung erfüllen, wird sowohl im Volksmund als auch in Fachbereichen von Einsamkeit gesprochen. Bindungen können auf emotionaler, sozialer, kollektiver, kultureller oder auch körperlicher Ebene fehlen.

Nicht erst seit der Covid-Pandemie und den damit einhergegangenen Lockdowns ist das Thema Einsamkeit zum viel diskutierten Dauerbrenner geworden. Schon vorher hatten Kunst, Presse, Politik und Wissenschaft das Phänomen erörtert, dass trotz des wachsenden globalen Zusammenrückens immer mehr Menschen äussern, sich abgekapselt und von der Gesellschaft im Stich gelassen zu fühlen. Ungesehen zu sein.

Illustration: Katarzyna Zietek
Illustration: Katarzyna Zietek

Doch was sind die Ursachen? Und was sind mögliche Wege, mit Einsamkeit umzugehen? Dieser Artikel liefert Denkanstösse und greift die Ergebnisse einer Umfrage auf, die wir vor einigen Wochen durchgeführt und an der insgesamt 161 Personen teilgenommen haben.

Nicht wegzuleugnen 52 Prozent der von uns Befragten geben an, sich momentan einsam zu fühlen. Teilweise auch unabhängig von Faktoren wie Kontext oder Umfeld. Eine erschreckend hohe Zahl, wenn man bedenkt, dass dies bedeuten würde, dass jede*r Zweite das Gefühl hat, im Alltag nicht ausreichend mit sinnstiftenden, helfenden Interaktionen versorgt zu sein.

Ich denke es ist wichtig, über die Thematik zu sprechen.– Kommentar aus der Umfrage

Schaut man sich Statistiken zur Verbreitung von Einsamkeit in den DACH-Ländern an, so schwanken die Werte zwar, siedeln sich aber auf ähnlich hohem Niveau an – Dunkelziffern ausser Acht gelassen. Das in Deutschland populäre Sozio-oekonomische Panel ermittelte im Jahr 2021 beispielsweise eine Quote von 42 Prozent, wohingegen die Schweizer Fach- und Dienstleistungsorganisation Pro Senectute 2022 je nach Altersklasse Zahlen zwischen 32 Prozent (bei den über 65-Jährigen) und 48 Prozent (bei den 15-24-Jährigen) feststellte. Tendenzen steigend.



Unstrittig ist, dass queere Personen in allen Erhebungen deutlich stärker betroffen sind als der Rest der Bevölkerung. Wirklich verwundern tut dies nicht, weiss man aus der Forschung seit langem, dass auch die Ausprägung psychischer Erkrankungen, die durchaus mit Erscheinungen wie dem Auftreten von Einsamkeit zusammenhängen, in der LGBTIQ-Community erhöht ist. Äussere Bedingungen wie rechtspolitische Strömungen in Europa, Restriktionen gegenüber queeren Menschen und alltägliche Diffamierungen erschweren die Lage.

Das sprichwörtliche Gift Wenn etwas in der Bevölkerung derart grassiert wie die Einsamkeit in den Industrienationen, dann haben Regierungen und Gesundheitssysteme natürlich ein grosses Interesse daran, mögliche Ursachen zu finden. Immerhin reissen Folgen wie ein erhöhtes Stresserleben oder eine daraus resultierende Arbeitsunfähigkeit grosse Löcher in die Staatskassen.

Wer sich einsam fühlt, sollte keine Scheu haben, sich Hilfe zu suchen oder einfach ins kalte Wasser zu springen und allein auszugehen oder gar zu verreisen. Das macht Spass! – Kommentar aus der Umfrage

Doch hier wird es kniffelig. Denn wie etliche andere Konstrukte ist auch Einsamkeit nicht auf einen einzigen Auslöser zurückzuführen, den man mit etwas Geschick und wenig Aufwand beseitigen könnte. Vielmehr handelt es sich um ein Zusammenspiel verschiedenster biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren.

Gründe, die ausserhalb der eigenen Person liegen, erscheinen uns zwar oft greifbar, aber erst die Wechselwirkung mit Persönlichkeitseigenschaften wie dem Temperament, Stressbewältigungs­mechanismen, Überzeugungen oder auch genetischen Veranlagungen macht das sprichwörtliche Gift aus.

Community und Connection sind die besten Mittel gegen Einsamkeit! – Kommentar aus der Umfrage

Lassen wir zu möglichen Ursachen einige Stimmen aus unserer Umfrage zu Wort kommen: «Ich wurde in der Schule gemobbt und war auch kein Wunschkind. Mir wurde immer vermittelt, ich sei nicht richtig, so wie ich bin.», «Meine eigene Lebensrealität ist signifikant anders als die von Leuten aus meinem sozialen Umfeld.», «Toxische Beziehungen!», «Ich war die letzten 17 Jahre meines Lebens sehr einsam, auch wenn ich gute Freundschaften hatte. Da ich bis vor einem halben Jahr noch im falschen Körper gefangen war, konnte ich niemanden richtig an mich ranlassen.», «Ich konnte keine emotionale Verbindung zu den Menschen um mich herum aufbauen, hatte stets das Gefühl, eine unangenehme Rolle spielen zu müssen.», «Nach dem Tod meines langjährigen Lebensgefährten war ich neun Monate wie betäubt und nicht in der Lage, mich emotional zu verbinden.», «Die Pandemie und die Schliessung der Gastronomie oder anderer Einrichtungen während den Lockdowns hatten für die queere Community besondere Auswirkungen, da unter anderem auch Schutzräume geschlossen waren. In dieser Zeit war Einsamkeit besonders spürbar.», «Ich finde es total schlimm, dass das Single-Sein so gefeiert wird. Wir sind soziale Wesen. Wir brauchen Berührung, Zuneigung oder auch mal Hilfe. Es ist keiner mehr bereit, eine liebevolle Partnerschaft zu führen.»

Der Grossteil der Befragten macht fehlende Partnerschaften (35 Prozent) oder wenig soziale Unterstützung im Allgemeinen (34 Prozent) für seine Einsamkeitsempfindungen verantwortlich. Bei queeren Personen kommen zudem in besonderem Masse Aspekte wie Minderheitenstress, vermehrte Diskriminierungserfahrungen (gesellschaftlich wie auch persönlich), verinnerlichte Homo-, Inter- oder Transnegativität und fehlende Sicherheitsnetze als weitere Risikofaktoren hinzu.

Soziale Medien: das zweischneidige Schwert Wer glaubt, soziale Medien würden einen Spiegel der Wirklichkeit darstellen, dürfte überrascht sein, wie präsent das Thema Einsamkeit dort abgebildet wird. Nämlich kaum! Auch hier bleiben Betroffene ungesehen, nicht repräsentiert. Ganz im Gegensatz zu dem, was die weiter oben erwähnten Statistiken eigentlich vermuten lassen würden.

Sei dir bewusst, dass da immer Menschen sind, denen es auch so geht. Versuche nicht in Melancholie zu fallen! – Kommentar aus der Umfrage

Instagram, Facebook, BeReel, X und Co. gaukeln uns eine unbeschwerte Realität vor. Das erhöht den Druck. Ununterbrochen von glücklichen Gesichtern angestrahlt zu werden, die mit Hunderten von Freunden eine wunderbare Zeit fernab jedweder Langeweile oder Trostlosigkeit verbringen und dabei in die Kamera lächeln, kontrastiert die empfundene Einsamkeit und lässt sie nur umso stärker erscheinen.

Symbolbild (Bild: Pexels, Alex Green)
Symbolbild (Bild: Pexels, Alex Green)

Dazu gesellen sich Minderwertigkeitsgefühle und die Angst, etwas zu verpassen – weitere Belastungen, die dem Aufbau eines stabilen Selbstbewusstseins, jenem oft zitierten Mittel gegen Einsamkeit, gern einmal im Wege stehen. Nun ist es aber unzulässig, die Medien als alleinigen Sündenbock darzustellen. Sie können indes auch als Schutzfaktor fungieren.

So bieten sie beispielsweise die Möglichkeit, mit anderen User*innen in Kontakt zu treten, Freundschaften über Entfernungen hinweg zu halten oder Partner*innen kennenzulernen – man denke nur an all die Datingplattformen. Über so genannte Awareness-Kanäle können User*innen zudem Informationen erhalten, die im besten Fall dazu ermutigen, sich mit der eigenen inneren Leere auseinanderzusetzen und Hilfe aufzusuchen.

Denn wenn der Algorithmus mitspielt, merkt manch einsame Person vielleicht, dass sie mit ihrer Problematik nicht allein ist, und es Wege raus aus der Krise gibt. Am Ende bleibt es also wie so oft ein zweischneidiges Schwert mit den digitalen Paralleluniversen.

Romantisierungsfalle In einer Leistungsgesellschaft wie der unseren wird alles zum Sport. Selbst die Einsamkeit. Wer nicht auf die «richtige» Art und Weise einsam ist, der hat das Spiel verloren und darf nicht mit aufs Treppchen! Albert Einstein sagte einst: «Ich lebe in jener Einsamkeit, die peinvoll ist in der Jugend, aber köstlich in den Jahren der Reife.» Damit gehört der kluge Wissenschaftler möglicherweise zu denen, die Einsamkeit mit Alleinsein verwechseln und letzterem durchaus etwas abgewinnen können.

Mache auch allein Dinge, die dir Freude bereiten und dich glücklich machen. Gehe in die Natur und sieh dir alles bewusst und intensiv an. Sei aktiv in der Gestaltung deiner Freizeit. – Kommentar aus der Umfrage

Allerdings geht es bei Einsamkeit nicht darum, keine Zeit mit sich selbst verbringen zu können, sondern um ein Defiziterleben, das sich negativ auf die Seele auswirkt. Insofern mag es zwar ein gut gemeinter Ratschlag sein, die Vorzüge zu betonen, die Ruhe und Abgeschiedenheit mit sich bringen, nur redet man damit eventuell komplett an der bedrückenden Wirklichkeit vieler Betroffener vorbei. Denn wünschen sich diese in der Regel einen wahrhaftigen Austausch von Intimität, ein Gesehenwerden und keine Mittel zum Zeitvertreib. Schliesslich kann man auch in einer Beziehung einsam sein.



Wo aus Einsamkeit Depression entsteht «Besonders einsam fühle ich mich, wenn mir auffällt, dass mich nie jemand besuchen kommt. Ich muss immer zu anderen gehen oder fahren, freiwillig kommt niemand zu mir. Selbst mein Bruder nicht, der direkt neben mir wohnt», schreibt ein Leser. Manchmal würden ihn dann düstere Vorstellungen, sich etwas antun zu wollen, befallen.

Auch andere Kommentare zeigen, mit welcher Wucht das Erleben von Einsamkeit einhergehen kann: «Ich könnte von heute auf morgen verschwinden und niemand würde es merken.», «Meine Einsamkeit ist oft mit einem geringen Selbstwertgefühl und teils suizidalen Gedanken verknüpft. Es würde gar nicht auffallen, wenn ich nicht mehr da wäre».

Generell gilt, dass wenn neben den Einsamkeitsempfindungen Symptome wie Interessenverlust, Stimmungstiefs, Antriebsmangel, innere Unruhe, Konzentrationsprobleme, Hoffnungslosigkeit, Schlafstörungen, Appetitminderungen, Rückzug oder Selbsttötungsimpulse auftreten, dies ernstzunehmende Anzeichen dafür sind, dass eine Depression vorliegen könnte. Dann macht die Konsultation eines Psychiaters, Psychologen oder Psychotherapeuten Sinn. Ferner dienen Notrufnummern dazu, in akuten Krisen Beistand zu liefern.

Helpline
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Krisenhilfen

Deutsche Telefonseelsorge: 0800/1110111 oder 0800/1110222 Deutscher Notruf: 112 Österreichische Telefonseelsorge: 412 Österreichischer Notruf: 112 Schweizer Telefonseelsorge: 143 Schweizer Notruf: 118

Schlussendlich ist es wie bei einem Fass, das überzulaufen droht, wenn allzu viel Wasser hineingeflossen ist. Der Mensch hält nur eine bestimmte Menge an Einsamkeitsbelastung aus, bevor er krank wird. Neben der geistigen kann dies übrigens auch auf körperlicher Ebene geschehen, da mit Einsamkeit Stress einhergeht, der das Immunsystem und damit unseren Schutz vor Krankheitserregern schwächt. In jedem Fall ist es sinnvoll, sich sowohl ärztliche als auch therapeutische Unterstützung zu suchen.

Perspektiven entdecken Was hilft, um die verspürte Einsamkeit überwinden zu können, ist genauso individuell wie die zugrundeliegenden Ursachen. Leider gibt es keine Patentlösung, die allen Menschen gleichermassen einen Ausweg offerieren kann. Auch, wenn ganze Ministerien sich mittlerweile der Problematik angenommen haben und gebildete Fachleute dafür ihre Köpfe zusammenstecken.

Für manche Betroffene sind es professionelle Hilfen, die zu einer Besserung führen. Wie zum Beispiel eine Psychotherapie, innerhalb derer Gedanken hinterfragt, Teufelskreise durchbrochen und die eigene Lebensgestaltung nach Ansatzpunkten für eine Änderung von Gewohnheiten durchleuchtet werden. Doch können sich auch andere Dinge als sinnvoll erweisen: Zum Beispiel trotz der verspürten Hoffnungslosigkeit vermehrt herauszugehen, Ausflüge zu planen, Sport zu treiben oder virtuell nach Gruppen zu suchen, denen man sich für die Freizeitgestaltung anschliessen kann.

Ich habe versucht, mich daran zu erinnern, dass ich Freunde und Familie habe und diese mich unterstützen, wenn ich Hilfe brauche. – Kommentar aus der Umfrage

In jedem Fall geht es darum, der bedrückenden Leere nicht allzu viel Raum zu gewähren, in der sie keimen darf, sondern ihr aktiv entgegenzutreten, eigene Ressourcen (wieder) zu entdecken und diese zu nutzen. Wir können unsere Umwelt nicht dazu zwingen, mit uns in Kontakt zu treten. Was wir aber durchaus können, ist Gelegenheiten zu schaffen, mithilfe derer es wahrscheinlicher wird, jemanden zu finden, mit dem man sich austauschen kann. Das mag anstrengend sein und auch Misserfolge mit sich bringen, keine Frage. Doch was ist die Alternative?

Mit offenen Augen zur Seite stehen Auf der anderen Seite können diejenigen, die Kapazitäten haben und sich nicht einsam fühlen, reflektieren, ob – beziehungsweise vielmehr welche – Menschen in ihrer Umgebung «ungesehen» sind. Welchen es an Zuwendung fehlt. Daran, von einem Gegenüber ernst genommen und erkannt zu werden. Auch, wenn es nur ein kurzer Anruf, eine Nachricht oder ein Lächeln beim Vorbeilaufen sein mag.

Ich habe gelernt, mich selbst zu akzeptieren und mir liebevoll zu begegnen. – Kommentar aus der Umfrage

Immerhin sind nicht wenige von uns der Zweifel sehenden Einsamkeit, die einen lähmt und das Glück bis ins Unermessliche zu schmälern vermag, bereits selbst begegnet. Wir können uns einfühlen, wenn wir es wollen! Zu wissen, dass wieder bessere Tage kommen, vermag denen, die in besagtem Zustand gefangen zu sein scheinen, vielleicht Mut schenken, den kräfteraubenden Kampf weiterzukämpfen, durchzuhalten und die Suche nach einer besseren Zukunft nicht aufzugeben. In unserer Community haben wir uns einst versprochen, aufeinander aufzupassen. Jeden einzelnen Tag können wir beweisen, wie viel dieses Versprechen wert ist.

«Zwei Jahre toxische Beziehung reichten aus, alles zu zerstören, was ich in mühseliger Kleinarbeit aufgebaut hatte. Danach brach ich alle Zelte ab und zog nach 15 Jahren wieder in meine alte Heimatstadt, wo auch Familie und Freunde leben. Hier habe ich mir auch mittlerweile einen schwulen Freundeskreis aufgebaut. Vor allem hilft Selbstreflexion und die Beschäftigung mit der eigenen Prägung aus der Kindheit.» – Kommentar aus der Umfrage

Torsten Poggenpohl ist schwul, HIV-positiv und bipolar. In seiner Manie setzte er alles aufs Spiel: den Job, seine Gesundheit, Freund*innen und Familie. Um seine Diagnose zu akzeptieren, musste er sich zuerst seiner grössten Herausforderung stellen – sich selbst (MANNSCHAFT+).

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