Warum schmachten wir einen mutmasslichen Mörder an?
Schwule Social-Media-Konten überschlagen sich mit Posts über Luigi Mangione
Ein angeblicher Mörder wird in den USA als Held gefeiert, auf Socia Media bringt er schwule Männer zum Sabbern. Was der Hype um Luigi Mangione über das amerikanische Gesundheitssystem offenlegt.
Queere Memes, Schlagzeilen und Nachrichtensendungen: In den sozialen Medien scheint der Hype um Luigi Mangione von USA nach Europa übergeschwappt zu sein. Der 26-Jährige wurde vor wenigen Tagen verhaftet und wird beschuldigt, den Chef des milliardenschweren US-Versicherers United Healthcare mitten in New York erschossen zu haben.
Mangione ist jung, attraktiv und durchtrainiert – was zur Folge hat, dass die Fahndungsbilder bei einigen queeren Männern eher lüsterne Gedanken statt Bestürzung auslösten. «Oh … mein Gott», twitterte Influencer Matt Bernstein. «Luigi Mangione: Wegen Mordes verurteilt, aber freigesprochen, weil er zu heiss ist», kommentiert ein User. Als die Gerüchte aufkommen, der Verdächtige sei vielleicht bisexuell, sind die Memes nicht mehr zu halten.
Auch bei der amerikanischen Allgemeinbevölkerung ist Luigi Mangione zu einer Art Held geworden, das Internet feiert ihn als «Robin Hood» des 21. Jahrhunderts. T-Shirts, Hoodies, Kaffeetassen und Schnapsgläser mit dem markanten Gesicht des Angeklagten gibt es mittlerweile im Internet zu kaufen. Die Polizei äusserte die Befürchtung, dass der junge Mann als «Märtyrer und Vorbild» gefeiert werden und Nachahmer inspirieren könnte. Der Gouverneur von Pennsylvania, Josh Shapiro, warnte davor, den Täter zu glorifizieren und bezeichnete die Aufmerksamkeit in dem Fall, vor allem im Internet, als «zutiefst beunruhigend, da einige den Mörder feiern wollten, anstatt ihn zu verurteilen».
Das Netz folgt eigenen Gesetzmässigkeiten, wenn es darum geht, was zu einem Hype wird. Schnell werden Ereignisse, Personen und Narrative in kürzester Zeit populär, entwickeln eine Eigendynamik – unabhängig davon, wie sie in der analogen Welt wahrgenommen werden. Dennoch hat die Tötung des Versicherungschefs Brian Thompson die USA nicht nur aufgewühlt, sondern auch die Verzweiflung über das Gesundheitssystem offengelegt. Eine Debatte entbrannte. Woher kommt die Wut?
Enorme Kosten für Behandlungen
Das Gesundheitssystem ist stark privatwirtschaftlich organisiert. Krankenhäuser und Versicherungen in den USA sind grösstenteils in privater Hand. Angebot und Nachfrage spielen eine zentrale Rolle. Es gibt keine allgemeine, staatlich organisierte Krankenversicherung wie in vielen europäischen Ländern. Stattdessen basiert das System auf einem Mix aus privaten Versicherungen und öffentlichen Programmen für bestimmte Bevölkerungsgruppen.
Die USA haben dem Gesundheitsdaten-Tracker Peterson-KFF zufolge die höchsten Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit weltweit. Dies liegt an hohen Medikamentenpreisen, Arzthonoraren und Verwaltungskosten. Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist stark abhängig von der Versicherung. Rund acht Prozent der Bevölkerung sind offiziellen Angaben zufolge trotz Fortschritten nicht versichert. Es gibt eine grosse Ungleichheit: Einkommensschwächere Gruppen haben oft schlechteren Zugang zu guten Gesundheitsleistungen.
Die medizinische Versorgung in den USA gilt als technisch fortschrittlich, mit Spitzenforschung und -technologie. Gleichzeitig gibt es deutliche Qualitätsunterschiede je nach Region, Krankenhaus und Versicherungsstatus – viele Menschen fallen durchs Raster und bekommen nicht die Hilfe, die sie brauchen.
Was bedeutet das im Alltag?
- Knüpfung an Arbeitgeber: In den USA erhalten Angestellte ihre Krankenversicherung häufig über ihren Arbeitgeber, der einen Teil der Kosten übernimmt. Die Leistungen variieren, da die Unternehmen mit unterschiedlichen Versicherungsfirmen kooperieren. Bei Jobwechsel oder Arbeitslosigkeit fällt die Krankenversicherung entsprechend weg.
- Hohe Zuzahlungen: Der Eigenanteil der Versicherten für Behandlungen oder Medikamente ist in den USA häufig sehr hoch. Auch die Selbstbeteiligung, die Versicherte pro Jahr aus eigener Tasche zahlen müssen, bevor die Versicherung übernimmt, beträgt in der Regel mehrere Tausend US-Dollar.
- Keine freie Arztwahl: Viele Versicherungen arbeiten mit einem Netzwerk von Ärztinnen und Ärzten zusammen. Für Behandlungen in anderen Praxen übernimmt die Versicherung nur einen geringen Teil der Kosten - oder deckt diese gar nicht ab.
- Vorab-Genehmigungen für bestimmte Behandlungen: Besonders teure Behandlungen wie Operationen oder MRT-Scans aber auch Hilfsmittel wie Prothesen müssen vorab von der Krankenkasse genehmigt werden. Dieser Prozess kann sich hinziehen - wichtige Behandlungen werden somit verzögert. Zahlreiche Versicherungen setzen bei der Beantwortung dieser Anträge Künstliche Intelligenz ein.
- Komplizierte Verträge: Dadurch, dass es so viele unterschiedliche Versicherungsanbieter mit diversen Angeboten gibt, kann es schwer sein, den Überblick über die versicherten Leistungen zu behalten. Ausserdem decken Standardversicherungen häufig keine Zahnbehandlungen ab, auch Hilfsmittel wie Hörgeräte oder Brillen werden oftmals nicht gezahlt.
Schuldenberg in Milliardenhöhe
Auf Patronenhülsen, die am Tatort sichergestellt worden waren, standen die Wörter: «deny» (ablehnen), «defend» (verteidigen) und «depose» (abwickeln). Ermittler gehen davon aus, dass dies Anlehnung an einen Spruch sei, mit dem Versicherungskritiker die Strategie der Firmen beschrieben: «Delay (verzögern), deny, defend». In einem Manifest schreibt Luigi Mangione von Versicherungsunternehmen, die nur auf Profit ausgerichtet seien und «Parasiten» – United Healthcare nennt er beim Namen. Die Tat ereignete sich mitten in Manhattan – für viele ein Symbol für den Kapitalismus schlechthin.
Auch wenn die Ermittlungen andauern: Es deutet sich an, dass der mutmassliche Schütze – ein Absolvent einer Eliteuni und Sohn einer wohlhabenden Familie - es mit seiner Tat gezielt auf die Versicherungsbranche abgesehen hat. Bei einigen hat er damit offenbar einen Nerv getroffen. Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitut Gallup zufolge sind 81 Prozent der Befragten unzufrieden mit den Kosten für die medizinische Versorgung in den USA.
Dort ist im Zusammenhang mit medizinischen Behandlungen ein Schuldenberg in Milliardenhöhe angewachsen. Peterson-KFF zufolge haben sechs Prozent aller Erwachsenen medizinische Schulden von mehr als 1000 US-Dollar, rund ein Prozent der Erwachsenen hat jeweils mehr als 10’000 US-Dollar. Wegen der hohen Kosten gehen etliche Menschen erst gar nicht zum Arzt, Krankheiten bleiben unbehandelt. Viele Menschen sind frustriert, verzweifelt - und wütend.
Text: Greg Zwygart, Magdalena Tröndle (dpa),Julia Naue, (dpa)
Wieder Trump: Was queeren Menschen in den USA jetzt Hoffnung macht (MANNSCHAFT berichtete)
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