Wahl-Krimi in der Türkei – Ära Erdogan noch nicht vorbei
Queers müssen weiter zittern
Das Rennen um das Präsidentenamt zwischen Amtsinhaber Erdogan und seinem Herausforderer Kilicdaroglu war knapp – und geht wohl in eine zweite Runde. Für Erdogan ist das Ergebnis ein Rückschlag. Aber auch die Opposition blieb unter ihren Erwartungen.
Von: Mirjam Schmitt, Anne Pollmann und Linda Say, dpa
Queers wie die 19-jährige Studenin İda müssen noch weiter zittern. Sie hoffe, dass Erdoğan die Wahl verliert, berichtete sie vor der Wahl in Zeit online (bezahlpflichtiger Artikel). Das Land zu verlassen, käme nicht für sie in Frage. «Meine Familie und meine Freunde sind hier und ich bin in dieser Kultur aufgewachsen. Aber ich würde auch gerne mit meiner Freundin in der Öffentlichkeit Händchen halten.» Ob es soweit kommt, wird sich zeigen.
Immerhin: Nach 20 Jahren an der Macht muss sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan voraussichtlich erstmals einer Stichwahl stellen. Beim Stand von rund 95 Prozent der ausgezählten Wahlurnen im Inland und rund 37 Prozent im Ausland liege Erdogan bei 49,49 Prozent der Stimmen, sagte der Chef Wahlbehörde, Ahmet Yener, in Ankara am Montagmorgen. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu kam demnach auf 44,79 Prozent. Beide verfehlten damit die absolute Mehrheit von 50 Prozent und müssen am 28. Mai in eine Stichwahl gehen.
Auf dem weit abgeschlagen dritten Platz landete demnach Sinan Ogan von der ultranationalistischen Ata-Allianz mit rund 5,3 Prozent. Dem Aussenseiter könnte noch eine wichtige Rolle zukommen. Bei der Stichwahl wird wichtig sein, welche Wahlempfehlung er vorher abgibt.
Die Wahlbehörde gab das Ergebnis der Parlamentswahl zunächst nicht bekannt. Es zeichnete sich jedoch ab, dass Erdogans Regierungsallianz ihre Mehrheit verteidigen konnte. Der Präsident hat seit der Einführung eines Präsidialsystems 2018 weitreichende Befugnisse, das Parlament mit seinen 600 Abgeordneten ist dagegen geschwächt.
Die Wahl galt als richtungsweisend. Es wird befürchtet, dass das Nato-Land unter weiteren fünf Jahren Erdogan noch autokratischer werden könnten. Der 74-jährige Kilicdaroglu ist Kandidat für ein breites Bündnis aus sechs Parteien. Er verspricht die Rückkehr zu einem parlamentarischen System sowie zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Auch international wird die Wahl aufmerksam beobachtet. Eine neue Regierung hätte Auswirkungen auf Konflikte in der Region wie etwa den Syrien-Krieg, aber auch auf das Verhältnis zur EU und Deutschland.
Schon zu Beginn der Abstimmung gab es Zweifel an den von der Staatsagentur Anadolu veröffentlichten Zahlen. Die oppositionellen Bürgermeister der Metropolen Istanbul und Ankara traten regelmässig vor die Presse und beschuldigten die Regierung, die Werte von Erdogan zu schönen. Kilicdaroglu warf Erdogans Partei AKP vor, die Auszählung in Hochburgen der Opposition mit Einsprüchen zu blockieren. Erdogan warf der Opposition wiederum «Raub des nationalen Willens» vor.
Auch wenn Erdogan in zwei Wochen noch immer gewinnen kann – für den 69-Jährigen Erdogan ist das Ergebnis ein Rückschlag. In seinen 20 Jahren an der Macht hat er bislang jede landesweite Wahl gewonnen. 2003 wurde Erdogan zunächst Ministerpräsident, seit 2014 ist er Staatspräsident. Die Aura des Unbesiegbaren geht ihm durch diese Stichwahl verloren. Erdogan zeigte sich in der Nacht zu Montag dennoch gut gelaunt vor jubelnden Anhänger*innen in Ankara und stimmte ein Lied an.
Erdogan hat trotz seiner Diffamierungen und Beleidigungen nicht das Ergebnis erreicht, das er sich erwartet hatte
Kilicdaroglu trat in der Nacht gemeinsam mit den Parteichefs seines Sechser-Bündnisses vor die Presse. «Erdogan hat trotz seiner Diffamierungen und Beleidigungen nicht das Ergebnis erreicht, das er sich erwartet hatte», sagte er.
Alle Seiten sehen sich nun mit einer vollkommen neuen Situation konfrontiert – es ist nicht nur die erste Stichwahl für Erdogan, sondern auch für Herausforderer Kilicdaroglu – und für die Bürger*innen. Der Präsident wird erst seit 2014 direkt vom Volk gewählt.
Alle Augen schauen nun auf die Grosse Nationalversammlung in Ankara. Erdogans islamisch-konservative AKP und ihr ultranationalistischer Partner MHP werden dort ihre absolute Mehrheit voraussichtlich halten können. Erdogan kann in dem Fall vor der Stichwahl mit der Gefahr einer Regierungskrise argumentieren. Und er machte das prompt schon in der Nacht zu Montag. Er sei sich sicher, dass die Wähler in einer Stichwahl «Sicherheit und Stabilität» bevorzugten, sagte er.
Erdogan spielte darauf an, dass sich Parlament und Präsident theoretisch blockieren könnten, sollte die Mehrheit der Abgeordneten an die Regierungsallianz fallen, das Präsidentenamt aber an die Opposition oder umgekehrt. Zwar kann der Präsident ohne Zustimmung des Parlaments ein Dekret erlassen, verabschiedet das Parlament aber ein Gesetz zum selben Thema, würde das Dekret ungültig. Es kommen in jedem Fall schwierige zwei Wochen auf die Türkei zu. Die Landeswährung Lira könnte durch die unsichere Situation weiter an Wert verlieren.
Der Wahlkampf stand auch im Zeichen des verheerenden Erdbebens vom 6. Februar in der Südosttürkei. Wie hoch die Wahlbeteiligung in den betroffenen Regionen war, wird sich am Ende der Auszählung zeigen. Die Wahl lief nach einer ersten Einschätzung der zuständigen Behörde ohne Probleme ab. Oppositionspolitiker meldeten kleinere Zwischenfälle aus verschiedene Provinzen.
Der Wahlkampf galt als unfair, auch wegen der medialen Übermacht der Regierung. Erdogan hatte die Opposition scharf attackiert und seinen Gegner etwa als «LGBT-Person», «Säufer» und «Terroristen» bezeichnet (MANNSCHAFT berichtete). Die Opposition hielt mit einer positiven Kampagne dagegen. Auch vor der Stichwahl wird Erdogan auf die meisten Medien und die Regierungsmehrheit im Parlament bauen können.
Erdogan wirbt vor allem mit Wahlgeschenken, wie der Erhöhung von Beamtengehältern und Grossprojekten in Infrastruktur und Rüstungsindustrie. Kilicdaroglu verspricht, Korruption und Inflation zu bekämpfen und das Land zu demokratisieren. In der Migrationsfrage schlägt er einen nationalistischen Ton an. Die rund 3,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien will er zurückschicken und das Flüchtlingsabkommen mit der EU neu verhandeln. Insgesamt waren rund 64 Millionen Menschen zur Stimmabgabe aufgerufen, davon rund 3,4 Millionen im Ausland.
Zur Stärkung der traditionellen Familie kündigt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Schritte gegen queere Menschen an (MANNSCHAFT berichtete).
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