Dating oder Datenschutz? Für Grindr lassen wir die Hüllen fallen

Hochsensible Daten wie Beziehungsstatus und HIV-Status werden gespeichert

Foto: Patrick Mettraux; Model: Manu
Foto: Patrick Mettraux; Model: Manu

Wir alle lieben und hassen Grindr. Die Dating-App hat den sozialen Umgang zwischen schwulen Männern nachhaltig verändert. Was mit unseren Daten passiert, ist aber schwer zu beeinflussen. Und wir verlieren unseren Entdeckergeist.

Fast jeder schwule Mann mit einem Smartphone geht für die Partner­suche online – sei es für die sexuelle Abwechslung oder für eine Beziehung – auf Grindr, Scruff, Tinder und Co. Die Dating-­Apps bilden je länger, je mehr die digitale DNA der Community. Platzhirsch Grindr ist in über 234 Ländern und Territorien aktiv und zählt täglich drei Millionen Männer online. Und sie sind nicht zurückhaltend in der Nutzung ihrer Lieblings-App: über 50 Minuten verbringen sie täglich auf Grindr und öffnen die App 18-mal am Tag. Der feuchte Traum eines jeden App-Entwicklers.

Die Apps verändern das Verhalten von schwulen Männern in Sachen Dating brachial. Klassische Kennenlernbars von früher schliessen, Männer fühlen sich durch die in den Apps transportierten Schönheits­ideale unter Druck gesetzt, mehr als drei Viertel aller Grindr-Nutzer, die täglich über eine Stunde mit der Dating-App verbringen, sagen, sie seien unglücklich. Anderseits erleichtern die Apps ganzen Generationen von schwulen Männern das Kennenlernen, die Vernetzung und das schnelle Vergnügen. Und Grindr hat schon das eine oder andere Liebespaar zusammengeführt.

«Unsere Gesellschaft ist eine Geisel der Technologie», schreibt «Time Well Spent» auf seiner Website. «Wir befinden uns an einem Wendepunkt unserer Geschichte. Wir müssen uns von der Technologie distanzieren, die uns unserer Aufmerksamkeit beraubt, und uns einer Technologie annähern, die unseren Verstand beschützt und der Gesellschaft einen Dienst erweist.» Über die konkreten Auswirkungen der Apps auf unser Sozialverhalten, unsere mentale Gesundheit und unser Liebes- und Sexglück; darüber streiten sich die Expert*innen. Für die einen sind sie Segen und das Tor zur freien Welt, für die anderen ein Totengräber unserer Fähigkeit zu sozialer Interaktionen in der realen Welt.

Ein anderer Aspekt sind die Auswirkungen unserer Nutzung auf unsere Privatsphäre. Wer hat sich schon die Mühe gemacht, die Nutzungs- und Datenschutzbestimmungen der Gay-App-Entwickler zu lesen? Alle Anbieter versichern, mit unseren Daten rücksichtsvoll umzugehen. Das scheint zu genügen. In einer Umfrage des Datingratgebers GrabHim.net mit 4000 Usern gaben 83 % der Befragten an, schon einmal Schwanzbilder verschickt zu haben (und 76 % gaben zu, bei der Grösse zu schummeln …). Trotz visuellen Reizen hatten nur 43 % der befragten Nutzer ein reales Treffen, 24 % gaben an, sogar nur eine Person in den letzten 30 Tagen in der realen Welt kennen gelernt zu haben.

Sorgenfreier Umgang mit Dickpics «Mir ist bewusst, dass meine Bilder dort weiterverwendet werden können. Trotzdem nutze ich Grindr und Tinder beinahe täglich und habe natürlich Bilder im Profil, und es soll schon mal vorgekommen sein, dass das eine oder andere Pimmelbild im Chat verschickt wurde», sagt der 27-jährige Andros* aus Hannover gegenüber der Mannschaft. Da er die Apps für die Suche nach seinem Traummann brauche, akzeptiere er stillschweigend diese Umstände und riskiere die Verbreitung seiner Daten. «Diese habe ich mit Einrichtung meines Profils bei Facebook ja eh schon verkauft.» Mit dieser Haltung dürfte Andros nicht der einzige sein.

Grindr speichert eine Vielzahl von Informationen über uns. Beginnend mit unserer E-Mail-Adresse und teilweise auch unserer Handynummer für die Authentifizierung unseres Kontos. Dazu kommen unsere einzigartige, identifizierbare Smartphone-Gerätenummer sowie unser Standort via GPS. Der letzte Onlinestandort wird sogar gespeichert – auch, wenn wir uns ausloggen.

Wir geben hochsensible Daten preis Sämtliche Nachrichten (Fotos, Ort, Audio oder Video) werden zu Archivierungszwecken (oder «aufgrund gesetzlicher Bestimmungen») gespeichert. Alle Daten, die wir freiwillig preisgeben, wie unseren Beziehungsstatus, die ethnische Zugehörigkeit, unser Alter oder unser Geburtsdatum, unsere Grösse und unser Gewicht, unseren HIV-Status sowie Links zu sozialen Netzwerken bleiben ebenfalls (teilweise für immer) abgespeichert. Das sind hochsensible Daten – darunter unsere biometrischen Angaben oder Angaben zu unserer Krankengeschichte –, die wir wohl nicht an unseren Hauseingang kleben würden.

Foto: Patrick Mettraux; Model: Manu

Dessen scheint sich auch Grindr bewusst zu sein; in den Datenschutzbestimmungen warnt die App seine Nutzer davor: «Denken Sie daran, dass, wenn Sie sich entscheiden, Informationen in Ihr Profil aufzunehmen und Ihr Profil öffentlich zu machen, diese Informationen auch öffentlich werden. Daher sollten Sie sorgfältig abwägen, welche Informationen Sie in Ihr Profil aufnehmen möchten».

Auch gibt Grindr seinen Werbepartnern unsere Handy-ID, unsere Profilinformationen, unsere GPS-Standorte sowie unsere demografischen Informationen weiter. Mit der Benutzung der App akzeptieren wir zudem automatisch, auch die Datenschutzrichtlinien der Werbepartner anzunehmen.

«Aus Langeweile geht das sehr schnell» Frederik, 21, aus Koblenz sagt offen, dass er teilweise relativ schnell auch intime Bilder verschickt. «Wenn ich mit jemandem aus Langeweile chatte, geht das sehr schnell, da braucht es manchmal nur ein paar Sätze. Bei einer seriösen Suche, beispielsweise für ein Date, verschicke ich in der Regel überhaupt keine Nacktbilder.» Zu Beginn habe er keinen grossen Wert auf seine Privatsphäre gelegt: «Anfangs habe ich mich gar nicht geschützt, da habe ich Ganzkörperbilder mit Gesicht verschickt.» Erst nachdem ihn seine Freunde darauf ansprachen, griff Frederik ausschliesslich auf Körperfotos zurück, auf denen man sein Gesicht nicht sieht.

Anfangs habe ich mich gar nicht geschützt, da habe ich Ganzkörperbilder mit Gesicht verschickt.»

Angst davor, dass die Daten irgendwann in falsche Hände gelangen können, hat er nicht: «Darüber habe ich mir bis vor etwa einem Jahr gar keine Gedanken gemacht, obwohl man leider immer wieder auf Social-Media-Plattformen von solchen Geschichten liest. Was passieren soll, passiert, deshalb lasse ich mich nicht in meiner Freiheit einschränken».

Auch der 27-jährige Patrick aus Ulm hat keine Sorge um seine persönlichen Bilder. In rund 90 % seiner Chats sende er Nackt­bilder, «aber niemals zum Chatbeginn. Ein Nackt- oder Schwanzbild, ohne sich mal kurz ‹kennen gelernt› zu haben, geht gar nicht».

Wem gehören die Daten wirklich? «Wir können Ihre persönlichen Daten an unsere Muttergesellschaft, alle Tochtergesellschaften, Joint Ventures oder andere Unternehmen unter gemeinsamer Kontrolle weitergeben», schreibt Grindr. «Wenn ein anderes Unternehmen unsere Firma, unser Geschäft oder unser Vermögen erwirbt, besitzt dieses Unternehmen die von uns gesammelten persönlichen Daten und übernimmt die Rechte und Pflichten in Bezug auf Ihre persönlichen Daten, wie in dieser Datenschutzrichtlinie beschrieben.»

Wem genau Grindr heute oder morgen gehört, ist wohl keinem Nutzer bekannt und lässt sich von den Usern auch nicht beeinflussen. Erst vor Kurzem sind die Besitzerrechte an einen chinesischen Technologiekonzern überschrieben worden, was amerikanische Geheimdienste auf den Plan gerufen hat. Anfang Jahr schloss Beijing Kunlun Tech mit Sitz in Hongkong die Übernahme der Da­ting-­App ab. Grindr-Gründer Joel Sim­khai schied aus dem Vorstand aus. Die Übergabe führte zu Gesprächen über die 3,3 Millionen Nutzerdaten weltweit und die Sicherheit ihrer persönlichen Daten.

Experten behaupten, dass China routinemässig «riesige Datenmengen» sowohl von seinen eigenen Bürgern als auch von ausländischen Nutzer_innen sammelt und speichert. Nach chinesischem Recht kann die Regierung eine Klausel zur «öffentlichen Sicherheit» anwenden, um private Informationen von chinesischen Unternehmen einzufordern. Die Definition des Begriffs «öffentliche Sicherheit» ist flexibel und kann von der Regierung beliebig verwendet werden.

Es besteht demnach die berechtigte Befürchtung, dass die Beamten Beijing Kunlun Tech auffordern werden, persönliche Daten aus der App zur Verfügung zu stellen. Das Unternehmen hätte fortan keine andere Wahl mehr, als diese weiterzugeben. «Was wir brauchen, ist mehr Klarheit über die Auswirkungen dieser Art von Anschaffungen und was sie für nichtchinesische Bürger bedeutet», sagte Shanthi Kala­thil, Direktorin des Internationalen Forums für Demokratische Studien bei der Denkfabrik «National Endowment for Democracy.»

Inzwischen hat Grindr versprochen, dass der neue Eigentümer der App deren Stellung als US-amerikanisches Unternehmen, das US-amerikanischen Gesetzen und Sicherheitsbestimmungen unterliegt, nicht beeinträchtigen wird. Der Schutz der Privatsphäre der Nutzer hat «oberste Priorität», betonte Peter Sloterdyk, Vizepräsident des Marketings.

Doch bereits 2014 wurde auf Grindr eine hausgemachte Sicherheitslücke entdeckt. Demnach konnten auch Nichtmitglieder auf bestimmten Wegen an die Standortdaten der User kommen, und zwar ohne sich selbst einzuloggen. Ein Unbekannter schickte Tausenden von Nutzern in bestimmten Regionen Warnnachrichten und informierte sie darüber, dass ihr Standort mit nur wenig Aufwand auszumachen sei.

Grindr wurde mit Kritik überhäuft, unter anderem von der «Washington Post», die dem Dienst vorwarf, zu wenig Einfühlungsvermögen und Respekt gegenüber seinen Nutzern an den Tag zu legen. Das Onlinemagazin «Cairo Scene» behauptete sogar, ägyptische Geheimdienste würden über die Entfernungsangabe der Nutzer Jagd auf Homosexuelle machen. In Zusammenhang mit der App seien schon mehrere Menschen verhaftet worden. Grindr reagierte, indem die exakte Entfernungsangabe in Ländern, in denen homosexuelle Handlungen kriminalisiert werden, deaktiviert wurde.

Das Internet vergisst nie Darüber hat sich Severin, 33, aus Zürich bisher noch keine Gedanken gemacht: «Ich glaube, dass man in der Schweiz im Gegensatz zu anderen Ländern nicht auf Schwulenjagd geht. Klar kann eine Gefahr bestehen, aber darüber mache ich mir noch keine Gedanken». Er verschicke ohnehin nur selten Nacktbilder, «weil ich mir nackt selber nicht wirklich gefalle». Und er stört sich daran, dass statt Gesichtsbilder häufig nur Nacktbilder verschickt werden.

Doch abgesehen von homophoben Staaten, Datendiebstählen und Hackerangriffen lauert die Hauptgefahr in der Tatsache, dass das Internet nichts vergisst. Das eigene Datendossier wird nicht gelöscht, selbst wenn man die App entfernt oder die Löschung seiner Daten direkt bei Grindr beantragt. «Wenn wir personenbezogene Daten löschen, werden sie aus unserer aktiven Datenbank entfernt», schreibt Grindr in einer Stellungnahme. «Unter bestimmten Umständen können sie aber in bestimmten Archiven verbleiben, wo es nicht praktikabel oder möglich ist, sie zu löschen. Darüber hinaus können wir persönliche Daten und die Nutzungsgeschichte (einschliesslich Nachrichten oder Fotos) bei Bedarf aufbewahren, um unseren gesetzlichen Verpflichtungen nachzukommen, Streitigkeiten beizulegen und/oder unsere Vereinbarungen durchzusetzen.»

Abgesehen von homophoben Staaten, Datendiebstählen und Hackerangriffen lauert die Hauptgefahr in der Tatsache, dass das Internet nichts vergisst.

Umso sorgfältiger müssten die Menschen schon jetzt mit ihren Daten umgehen und sich überlegen, was sie dem guten Onlinegedächtnis anvertrauen, das nie vergisst. Doch hierzulande scheint vielen die Bedeutung ihrer Netzpräsenz noch nicht bewusst zu sein.

25 % mehr Geschlechtskrankheiten Das Interesse an den veränderten Verhaltensweisen beschränkt sich nicht nur auf den Datenschutz. Auch die Gesundheitsbehörden investieren viel Geld in die Erforschung unseres Nutzungsverhaltens. So erhielt die Columbia University eine halbe Million Dollar vom amerikanischen «National Institute of Health» für eine Befragung unter Grindr-Nutzern. Das übergeordnete Studienziel war es, zu verstehen, wie sich «das sexuelle Risikoverhalten bei Männern, die Sex mit Männern haben, durch die Art der GPS-fähigen Smartphone-Apps verändert», hiess es in der Projektbeschreibung.

Insgesamt werden sich Smartphonenutzer gemäss Erhebung 23 % wahrscheinlicher mit Gonorrhö und 35 % wahrscheinlicher mit Chlamydien infizieren, als wenn sie keine Dating-Apps verwenden würden.

Technologische Fortschritte, die die Effizienz des Treffens anonymer Sexualpartner verbessern, könnten also den unbeabsichtigten Effekt haben, Netzwerke von Individuen zu schaffen, in denen die Wahrscheinlichkeit sexuell übertragbarer Infektionen bei den Nutzern höher ist als bei anderen, weniger effizienten Methoden der sozialen Vernetzung. Das Studienteam kommt zum Schluss, dass «die Technologie Sex on Demand neu definiert». Präventionsprogramme müssten lernen, die gleiche Technologie effektiv zu nutzen und mit den sich ändernden aktuellen Risikofaktoren für sexuell übertragbare Infektionen und HIV-Übertragung Schritt zu halten».

Hierzulande scheint vielen die Bedeutung ihrer Netzpräsenz noch nicht bewusst zu sein.

Dessen ist sich auch Andreas Lehner von der Aids-Hilfe Schweiz bewusst: «Ja, der schnelle Sex bahnt sich heute meist übers Smartphone an.» Aufgrund von Restriktionen der App-Entwickler sei die Prävention aber schwierig. «Wir kommen trotzdem irgendwie an die Nutzer ran.» Auch schaltet die Aids-Hilfe Schweiz Werbung für ihre Präventionskampagnen auf Grindr und Co. Und der Experte rät zu Selbstverantwortung: «Wer mehr Sex hat, hat mehr potenzielle Risiken, die er eingehen kann. Und sollte sich einmal jährlich testen lassen auf HIV und andere Geschlechtskrankheiten». Und zum Glück «begegnen die regionalen Aids-­Hilfe-Mitarbeitende den App-Nutzern auch im realen Leben», so Lehner.

Der Kunde ist König! Am Ende entscheidet der Grindr-Nutzer, wie er die App nutzen und sich dabei schützen will. Es ist wichtig und richtig, bei App-Entwicklern auf die Sicherheit von persönlichen Nachrichten und Fotos zu pochen. Für einen verantwortungsbewussten Umgang mit der virtuellen Identität muss man die App nicht unbedingt löschen oder auf Dickpics verzichten, sondern sich über das eigene Handeln im Internet mit seinen möglichen Konsequenzen im Klaren sein. Das kann zum Beispiel durch das Lesen der monotonen Datenschutztexte oder Nutzungsbedingungen erfolgen. Oder aber man fragt sich, ob man private Informationen nicht lieber während eines persönlichen Kennenlernens unter vier Augen teilt statt alle Angaben des Profils auszufüllen.

Foto: Patrick Mettraux, Model: Manu
Foto: Patrick Mettraux, Model: Manu

Die Frage nach den Umgang mit dem eigenen Schwanzpic unter den 1000 Freunden des Autors und den 10 000 Mannschafts-­Fans auf Facebook hat ein äusserst kleines Echo ergeben. Anscheinend will niemand «öffentlich» dazu stehen, dass er sich online ab und zu gerne nackt zeigt. Schliesslich käme niemand auf die Idee, seine Schwanzgrösse inklusive Bild in der Öffentlichkeit preiszugeben und auf Facebook darüber zu plaudern.

Auf Grindr scheinen wir uns und unser Bedürfnis nach Privatshäre mit anderen Massstäben zu messen – wohl aus Angst, die Katze im Sack zu kaufen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Fotos nicht nur unsere Privatsphäre töten können, sondern auch unseren Entdeckergeist. Vielleicht wäre es an der Zeit, sich einfach mal wieder überraschen zu lassen.

*Die Namen der Männer in diesem Text wurden frei gewählt. Die Namen sind der Redaktion bekannt.

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