«Tatort»: Fans lernen Lena Odenthal zum Jubiläum neu kennen
Zum 75. Mal ermittelt die dienstälteste «Tatort»-Kommissarin, gespielt von Ulrike Folkerts
Was tun mit aggressiven Kindern, die sich und ihr Umfeld gefährden? Dieser Frage geht der Sonntagskrimi «Marlon» nach. Souverän balanciert der Film zwischen Nervenkitzel und Mitgefühl.
Von Wolfgang Jung, dpa
In einer Blutspur liegt der fast neunjährige Marlon tot vor einer Schultreppe. Es ist das Ende eines kurzen, konfliktreichen Lebens – und wohl einer der härtesten Fälle für die dienstälteste «Tatort»-Kommissarin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und ihr Team. (MANNSCHAFT berichtete über die offen lesbisch lebende Folkerts die sagte, sie habe mitgeholfen, die Tür für starke Frauenfiguren im TV aufgebrochen zu haben.)
«Marlon» heisst der «Tatort», den das Erste Deutsche Fernsehen am Sonntag um 20.15 Uhr ausstrahlt. Wie umgehen mit aggressiven Kindern, sogenannten Systemsprengern? Dieser Frage geht der mittlerweile 75. Odenthal-«Tatort» nach. Es ist ein bitteres Jubiläum. Deutschlands TV-Dauerbrenner hält der Wohlstandsgesellschaft den Spiegel vor.
Marlon (Lucas Herzog) wurde die Treppe hinabgestossen und zeigt Spuren eines Kampfes, das ist den Ermittler*innen schnell klar. Sie bemerken, dass der Tod des Kindes ambivalente Reaktionen hervorruft – bei einigen fast Erleichterung.
Marlons Verhalten machte ihn zum Aussenseiter, der Lehrer*innen und Eltern sowie Mitschüler*innen an die Grenzen brachte. Der Vater einer Mitschülerin versuchte gar, ihn von der Schule werfen zu lassen. Stück für Stück rekonstruieren die Kommissarinnen die letzten Tage eines Kindes, das mit dem Erwachsenwerden nicht zurechtkam und das viele loswerden wollten.
«Wir müssen die Kinder schützen» Regisseurin Isabel Braak leuchtet das Thema Gewalt in vielen Facetten aus. Kinder geben sich stark und sind doch zerbrechlich. Eltern bleiben überfordert zurück. Behörden scheinen hilflos. Nichts verdeutlicht das mehr als ein Dialog in der Schule. Als eine Lehrerin sagt «Wir müssen die Kinder schützen», fragt Kommissarin Johanna Stern (Lisa Bitter) entgeistert zurück: «Vor sich selbst?»
Ist Marlon nicht zu retten? Der Film beantwortet das nicht. «Kinder sind nicht das Problem – sie haben eins», sagt etwa Sozialarbeiter Anton Leu (Ludwig Trepte). Auch wenn die Geschichte nicht immer ganz schlüssig und stabil ist: Dieser «Tatort» lässt viele Deutungen zu.
«Ich habe grossen Respekt vor Lehrerinnen und Lehrern und ihrer Arbeit», sagt Folkerts. Sie sei gern zur Schule gegangen. «Ich hatte Lieblingslehrerinnen, das war wichtig. Jetzt war ich fasziniert und habe gestaunt, wie agil die Kids sind, in den Pausen permanent rennen und schreien und toben und lachen, herrlich, aber ein wirklich wilder Haufen.»
Sozialdrama ohne erhobenen Zeigefinger Fans lernen die Kommissarin nach über 30 Dienstjahren neu kennen – ungewöhnlich impulsiv. Als ein Vater sie fragt: «Haben Sie Kinder?», schnauzt Odenthal zurück: «Nein. Aber ich war mal eins.» (MANNSCHAFT berichtete, warum es Folkerts ablehnte, die Figur lesbisch anzulegen.)
Autorin Karlotta Ehrenberg hat ein Sozialdrama ohne erhobenen Zeigefinger geschrieben, das wohl deswegen besonders wirksam ist. Die Konflikte in der 4. Klasse der Wilhelm-Busch-Grundschule Ludwigshafen erscheinen manchmal wie ein Krieg Klein gegen Gross. «Monster» und «Missgeburt» ruft der Hausmeister (Georg Blumreiter) den Kindern hinterher. Die Kleinen wünschen ihm einen Strick um den Hals.
Doch auch Marlon sehnt sich nach Elternliebe und Anerkennung. «Mama, du wirst staunen, so hast du mich noch nie gesehen», kündigt der Junge stolz für die Schulfeier an – die er nicht mehr erlebt. Auch ein verständnisvoller Sozialarbeiter und ein wütender Vater (Urs Jucker) haben eine andere Seite. Eingefangen wird dies in der stilsicher erzählten Folge von einer starken Kamera (Jürgen Carle).
«Die Besonderheit in diesem Fall ist eine, wenn man so will, erhöhte Dramatik, weil es sich bei dem Todesopfer um ein Kind handelt», sagt Bitter. «Deshalb sind wir als Kommissarinnen besonders mitgenommen, stehen unter dem Druck, die Ermittlungen schnell zu konkreten Ergebnissen zu führen.» Immer tiefer verstricken sich Kinder in diesem «Tatort» in eine Spirale aus Ohnmacht und Erwartungen, aus der sie sich kaum mehr befreien können.
«Es zerreisst einen», sagt Marlons Mutter (Julischka Eichel) an einer Stelle und meint die Eltern. Der Satz gilt aber genauso für die Kinder. Vielleicht vor allem für sie.
Das könnte dich auch interessieren
In eigener Sache
MANNSCHAFT auf Netflix: Hast du uns schon entdeckt?
Netflix hat uns am Set unseres Fotoshootings mit Bill Kaulitz besucht – und jetzt sind wir gleich in zwei Episoden der neuen Staffel von «Kaulitz & Kaulitz» zu sehen!
Von Newsdesk Staff
Unterhaltung
Serie
MANNSCHAFT Magazin
Community
Dogan Can M.: «Ein Angriff auf eine*n von uns ist ein Angriff auf uns alle»
Queere Geschichte ist nicht nur eine Erzählung von Leid und Unterdrückung, sondern auch von Liebe und Widerstand. Der 28-jährige Can und der 62-jährige Andreas blicken aus zwei Perspektiven auf eine Geschichte, die noch lange nicht auserzählt ist.
Von Denise Liebchen
LGBTIQ-Organisationen
Geschichte
Jugend
Gesellschaft
Österreich
Buch
Neuer Roman um schwulen Schriftsteller Somerset Maugham
Tan Twan Eng lässt den berühmten Schriftsteller selbst zur Romanfigur werden – in einer fein komponierten, atmosphärisch dichten Geschichte voller unterdrückter Gefühle und gesellschaftlicher Zwänge.
Von Newsdesk/©DPA
Kultur
Sport
«Kann sich die Schweiz die prominente Absenz leisten?»
Kurz vor der Frauenfussball-EM 2025 in Basel ist Alisha Lehmann ohne Angebot. Analyse eines Phänomens.
Von Newsdesk/©DPA
Lesbisch
Soziale Medien
Schweiz
People