„Von neuer Großer Koalition haben LGBTIQ nichts zu erwarten“
Die MANNSCHAFT veröffentlicht ab sofort in loser Folge Debattenbeiträge zu politischen und gesellschaftlichen Themen. Die Kommentare spiegeln ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autor*innen wieder, nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion. Den Auftakt macht Carsten Schatz, MdA. Der offen schwule Berliner Politiker (48) ist Sprecher für Queerpolitik und Antidiskriminierung sowie Sprecher für Europa- und Bundesangelegenheiten, Berlin und Brandenburg.
Am Sonntag früh werden wir aller Voraussicht nach erfahren, dass die Basis der SPD einem Koalitionsvertrag mit den Unionsparteien für die Legislaturperiode bis 2021 zugestimmt hat.
Das wesentliche Motiv der meisten Genossinnen und Genossen, die letztlich mit schweren Bauchschmerzen zugestimmt haben, ist Angst. Hier die Angst vor Neuwahlen, bei denen die SPD ein Desaster befürchtet.
Ex-Verkehrsminister Dobrindt hatte den Arsch in der Hose, eine inhaltliche Debatte zu beginnen
Angst war auch das wesentliche Leitmotiv der SPD-Führung, wie auch der Parteitagsdelegierten, und es schlägt sich im Koalitionsvertrag nieder. Das deutet auch darauf hin, dass nicht nur die SPD diese Angst empfindet, sondern offensichtlich – wenn auch anders begründet – die Unionsparteien. Die Debatten innerhalb der bayerischen Regionalpartei in Vorbereitung der Landtagswahlen waren ein Anzeichen dafür und gleichzeitig eine Blaupause für ähnliche Debatten, wie sie zur Zeit in der CDU laufen, wesentlich als Personaldebatten.
Nur Ex-Verkehrsminister Dobrindt hatte den Arsch in der Hose, mit seiner Forderung nach einer „konservativen Revolution“ eine inhaltliche Debatte zu beginnen, die nach dem Kern konservativer Politik in einem sich veränderndem politischen Umfeld fragt.
Getrieben sind all diese Ängste letztlich von den Wahlerfolgen der AfD, einer Partei, deren politisches Geschäftsmodell nur auf einem Moment beruht: Angst. Angst vor Veränderungen, Angst vor dem Verlust des gesellschaftlichen Status, Angst vor Unübersichtlichkeit des Lebens, Angst vor den Unsicherheiten der Welt, den Folgen der Globalisierung.
An vier (!) Stellen geht der Koalitionsvertrag auf Themen von LGBTIQ* ein. Drei seien zitiert:
„Wir respektieren geschlechtliche Vielfalt. Alle Menschen sollen unabhängig von ihrer sexuellen Identität frei und sicher leben können – mit gleichen Rechten und Pflichten. Homosexuellen- und Transfeindlichkeit verurteilen wir und wirken jeder Diskriminierung entgegen. Wir werden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hierzu umsetzen. Wir werden gesetzlich klarstellen, dass geschlechtsangleichende medizinische Eingriffe an Kindern nur in unaufschiebbaren Fällen und zur Abwendung von Lebensgefahr zulässig sind.“
„Wir werden die erforderlichen Anpassungen und Ergänzungen, die sich durch die Öffnung der Ehe für Personen gleichen Geschlechts ergeben, zügig vornehmen. Menschen sollen unabhängig von ihrer sexuellen Identität frei und sicher leben können – mit gleichen Rechten und Pflichten. Die Arbeit der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld ist für die Förderung der Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in Deutschland unverzichtbar. Wir wollen die Bundesstiftung daher weiterhin über eine institutionelle Förderung in ihrer Aufgabenwahrnehmung absichern.“
„Wir kämpfen gegen Menschenhandel, illegalen Organhandel sowie Ausgrenzung und Gewalt aufgrund sexueller Orientierung.“
Ein Argument für sogenannte Große Koalitionen war immer, ambitionierte Projekte auf den Weg zu bringen. Ambitionierte Projekte, das hieße in Bezug auf LSBTIQ*-spezifische Themen: Das bestehende Transsexuellengesetz (TSG) als Sondergesetz aufzuheben und notwendige Regelungen in ein Gesetz zur Anerkennung und zum Schutz der Geschlechtervielfalt zu integrieren. Dazu gehört: das gerichtliche Verfahren zur Vornamens- und Personenstandsänderung in ein einfaches Verwaltungsverfahren zu überführen, das Offenbarungsverbot auszubauen und seine Verletzung härter zu sanktionieren, die Pflicht zur entwürdigenden Begutachtung abzuschaffen und die Leistungspflicht der Krankenkassen gesetzlich festzuschreiben.
Stattdessen werden wir in einem Koalitionsvertrag damit abgespeist, dass die neue GroKo die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes umsetzen wird. Ziel der Regierung ist es also, ihre verfassungsgemäßen Pflichten zu erfüllen?
Die Blockade Deutschlands in den EU-Institutionen, eine Novelle der Antidiskriminierungsrichtlinie auf den Weg zu bringen und auch das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG) wirksam weiterzuentwickeln sind Baustellen, die auf der politischen Tagesordnung stehen. Aber nicht im Koalitionsvertrag.
Unterstützung für Regenbogenfamilien: Fehlanzeige Weitere Stichworte sind: Nachbesserungen bei der Rehabilitierung und Entschädigung der Verfolgten nach den §§ 175 StGB und 151 StGB-DDR, die Regelungslücken schließen und auch diejenigen entschädigen, deren soziale Existenz durch Ermittlungen – ohne Urteil – vernichtet wurde. Die überfällige Erweiterung des Diskriminierungsverbots in Artikel 3 des Grundgesetzes um sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität, umfangreiche Unterstützung für Regenbogenfamilien, die massive Bekämpfung von Homo-, Bi- und Transfeindlichkeit quer durch alle gesellschaftliche Bereiche. Zu all dem lesen wir im Koalitionsvertrag nichts.
Sigmar Gabriel spielt einzelne Gruppen gegeneinander aus Deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als die Dinge weiter, erneut und energischer in die eigenen Hände zu nehmen. Dazu braucht es Mut. Mut, den wir kennen, wenn wir mit unserem nicht-heteronormativen Begehren oder Identität in die Öffentlichkeit gegangen sind. Mut, den wir hatten, als wir erkannt haben, dass wir nicht gewinnen, wenn anderen in der Gesellschaft etwas weggenommen wird und wir dazu geschwiegen haben. In diesem Mut liegt eine Chance für Zusammenhalt und Solidarität, wie wir ihn im britischen Film „Pride“ gesehen haben. Der im Übrigen eine Antwort sein kann auf Ausfälle wie den letzten von Sigmar Gabriel, der Gruppen unlängst wieder gegeneinander ausspielte.
Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*,Inter* und Queers werden – wenn sie wollen, dass für sie irgendetwas passiert – ihre Themen in die eigenen Hände nehmen müssen, Verbündete suchen und Solidarität üben. Sie müssen Mut entwickeln und damit zeigen, dass es sich lohnt, Mut zu haben. Und damit auch einen Beitrag im Kampf gegen die grassierende Angst leisten. Angst, die nie eine gute Beraterin ist.
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