Sind Cybersex und Sexting die neue Intimität?
Das menschliche Bedürfnis nach (sexueller) Nähe kann nicht einfach abgeschaltet werden
Not macht erfinderisch. Doch nicht nur in Krisenzeiten, in denen wir Distanz zueinander wahren sollen, stellen Sexting und Sex via Webcam interessante erotische Spielarten dar.
Die Corona-Pandemie führt noch immer zu Einschränkungen in unserem Sozialleben. Um Risikogruppen vor der Ansteckung mit dem hochvirulenten Krankheitserreger zu schützen, sind wir gezwungen, Abstand zu halten und die Zahl unserer Sozialkontakte auf ein Mindestmass zu begrenzen. So zumindest fordert es die Politik. Dass besagte Entscheidungen sich auch auf unser Dating- und Sexualverhalten auswirken, verwundert nicht. Eine Umfrage unter MANNSCHAFT-Leser*innen zeigt, dass 41% der Befragten diesbezüglich deutliche Veränderungen spüren. Das Versenden von erotischem Bild- und Videomaterial scheint für viele eine sinnvolle Alternative zur Zwangsabstinenz zu sein. Denn ob wir wollen oder nicht, manch menschliches Bedürfnis lässt sich nur schwer im Zaum halten.
Aufgeschreckt «Krisen bedeuten Stress. Menschen greifen dann gern auf Verhaltensweisen zurück, von denen sie gelernt haben, dass sie zu dessen Reduktion beitragen», erklärt der Psychotherapeut Ralph Kohn. «Wir alle kennen das. Die einen essen plötzlich mehr, anderen vergeht der Appetit. Es wird mehr geraucht, mehr Alkohol getrunken, es werden mehr Drogen konsumiert und mehr Medikamente eingeworfen. Einige fangen an, Listen zu schreiben oder Klopapier zu kaufen, um sich ein Gefühl von Kontrolle zu verschaffen. Andere hingegen stürzen sich in die Arbeit, machen Sport oder tun so, als wäre alles unverändert.»
Kohn betont, dass auch Sex dienlich sei, um Stress abzubauen. «Eine vermehrte Sehnsucht nach Intimität in Krisenzeiten kann Ausdruck eines Verlangens nach Sicherheit und Geborgenheit sein. Massnahmen wie Quarantänen, Ausgangssperren oder die Schliessung von Lokalen und Clubs führen dazu, dass es an Räumen fehlt, wo wir unsere zwischenmenschlichen Bedürfnisse befriedigen können.» Speziell Singles oder Alleinlebende seien davon betroffen. Im ungünstigen Fall könne es zu starken Einsamkeitsgefühlen, Ängsten und Depressionen kommen.
Wenn das Zusammenrücken untersagt ist Wie gehen wir nun aber am besten mit der Situation um? Sollten wir den Aufstand proben oder zusehen, wie wir einander nah sein können, ohne uns über geltende Empfehlungen oder Gesetze hinwegzusetzen?
Wer sonst in vollen Zügen sein Singledasein geniesst, wer räumlich von seinem Partner getrennt ist oder wer gern auf die Möglichkeit ausserpartnerschaftlichen Geschlechtsverkehrs zurückgreift, dem fällt die Akzeptanz geltender Ausgangsbeschränkungen vermutlich besonders schwer. Doch gibt es zum Glück allerlei technische Gerätschaften, die uns ein wenig Trost spenden können und in den letzten Jahrzehnten ohnehin zu einer Art Erweiterung des Körpers geworden sind. Die Rede ist von Smartphone, Laptop und Co. Dank den beliebten digitalen Helfern können wir nicht nur Kontakt zu unseren Freunden und unserer Familie halten, wir können auch potenzielle Dates akquirieren oder virtuelle Formen von Sexualität und Nähe ausleben. Zum Beispiel via Webcam.
Mit einem Klick zum vermeintlich sicheren Hochgefühl «Ich kann Sex mit einer anderen Person haben, ohne Infektionsängste überwinden zu müssen. Das ähnelt der Funktion des Kondoms und nun auch der PrEP im Umgang mit HIV», führt Kohn an. Auf die Frage, ob über Kommunikationswege wie Videochats auch tiefere Gefühle entstehen könnten, antwortet er: «Oh, absolut! Gerade wenn man berücksichtigt, dass Intimität auch jenseits von Sexualität stattfindet. Günstig ist, wenn man sich bereits ein wenig kennt. Dann kann die vorhandene Gefühlsbasis aufrechterhalten und ausgebaut werden. Lernt man sich dagegen zuerst virtuell kennen, wird mit steigendem Interesse irgendwann auch das Bedürfnis drängender, sich leibhaftig zu begegnen.»
Ralph Kohn Der Dipl.-Psych. (45) arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Berlin-Schöneberg und ist Co-Autor des Fachbuches «Sexuelle Orientierung in Psychotherapie und Beratung»
Letztlich sei der Grad an Intimität aber genauso begrenzt wie das Medium selbst, betont der Berliner Psychotherapeut. Beispielsweise könne man sich zwar ins Gesicht, nicht aber gegenseitig in die Augen schauen. Zudem fehle es an sensorischen Reizen wie Berührungen, Geschmäckern oder Gerüchen. Am Ende spiele auch die Chemie – im wahrsten Sinne des Wortes – eine wichtige Rolle.
Fern der Krise Sexting, also Chats mit erotischer Grundstimmung und explizitem Vokabular, aber auch das Versenden und Zurverfügungstellen von freizügigem Bildmaterial sind Phänomene, die keineswegs neu sind. Mit dem Siegeszug des Internets eröffneten sich auch für unsere sexuellen Gelüste bis dato ungeahnte Möglichkeiten. Der Erotikmarkt erkannte dies und reagierte. Von Amateur-Webcam-Sites bis zu kostenpflichtigen «Only Fans»-Profilen bei gängigen Social-Media-Plattformen lockt das Netz überall mit lustvollen Versprechungen. Und zwar sowohl für Konsument*innen als auch potenzielle Stars der Stunde. Es braucht nur das passende Equipment, ein wenig Exhibitionismus, und schon kann man von der heimischen Couch aus bequem Geld oder sogenannte Tokens, eine virtuelle Pseudowährung, verdienen. Da bekommt der Begriff Homeoffice plötzlich eine recht eigenwillige Konnotation verpasst.
Real versus virtuell «Sich sexuelle Erregung und Befriedigung online zu verschaffen, bietet durchaus einen Mehrwert im Vergleich zur Masturbation ohne Mediennutzung. Ähnlich wie das Bemühen des Pizza-Bestellservices weniger Aufwand bedeutet, als einkaufen zu gehen und zu kochen», sagt Kohn. Grundsätzlich gelte aber, dass die reale Erfahrung durchaus nachhaltiger sei. Nur bringe die auch gewisse Hürden mit sich. «Während ich mich auf einer Camsex-Plattform durch ein reiches Angebot klicken kann und zwar genau dann, wenn ich gerade Zeit und Lust habe, muss ich in reale zwischenmenschliche Kontakte und Beziehungen wesentlich mehr investieren», ergänzt Kohn.
In virtuellen Gefilden könne man sich jedoch ohne grossen Aufwand den eigenen Fantasien hingeben, ohne allzu grosse Befürchtungen vor Versagen, Zurückweisung, Abwertung oder Beschämung haben zu müssen. «Die Schwierigkeit ist, dass Bindungsbedürfnisse meist keine Einbahnstrasse sind. Wir wollen begehren und begehrt werden, wollen geliebt werden und auch lieben. Das lässt sich real und ganzheitlich aber nur mit einem leibhaftigen Gegenüber verwirklichen.»
Eine eigenständige erotische Spielart «Für mich sind virtuelle Sexerfahrungen etwas, das vom normalen Sex losgelöst ist. Man kann sich jedes Mal mehr oder weniger mit einer anderen Person neu erfinden und ausloten, was einen erregt», sagt Max. Der Angestellte im Immobilienbereich hat einen festen Partner. Trotzdem greife er häufiger auf Optionen wie Camsex oder Sexting mit Fremden zurück. Das sorge für einen besonderen Kick, den er in seiner Beziehung nicht erfahre. Bei der Auswahl seines digitalen Gegenübers achte er stets auf Persönlichkeit. «Es gibt nichts Schlimmeres, als die Tatsache, wenn sich ein Typ beim Camsex nicht richtig ausdrücken kann oder dumme Sprüche bringt. Das ist definitiv ein Abturner.»
Er möge es, wenn er auf jemanden treffe, der dominant sei: «Ich würde mich als typisches Klischee bezeichnen. In der Arbeit muss ich mich oft beweisen, durchsetzen und leite ein grosses Team. Am Abend vor der Kamera gebe ich dann gerne mal die Kontrolle ab.» In Bezug auf seine Partnerschaft bezieht der 26-Jährige klar Stellung: «Ich hole mir meine Lust lieber ab und an virtuell, anstatt mich mit jemandem zu treffen und mich somit Risiken wie Geschlechtskrankheiten auszusetzen. Mein Freund steht zudem nicht auf das Verschicken sexueller Nachrichten. Ich allerdings mag das. Chats mit anderen Männern bieten mir Abwechslung und zusätzliche Bestätigung.»
Bedürfnisorientiert Sören pflichtet den Aussagen von Max bei: «Auf Webcam-Portalen kann man gezielt Leute finden, um speziellen Vorlieben nachzugehen. Es ist anonym und deutlich einfacher, als ein klassisches Sexdate zu organisieren.»
Der 32-Jährige sammelte seine ersten Cam-Erfahrungen in einer Beziehung. Damals habe die berufliche Situation seines Partners dafür gesorgt, dass eine räumliche Distanz zwischen ihnen zum Alltag dazugehörte. Nach der Trennung besuchte Sören regelmässig Websites, auf denen ihm ein unbekanntes Publikum beim Onanieren zusehen konnte. Oder er selbst zum Beobachter wurde. Interaktionen fanden ebenfalls statt und man verlagerte den Chat nicht selten auf einen privaten Messenger-Service, wo man sich gegenseitig zum Höhepunkt begleitete. «Ich brauchte das, um Druck abzubauen. Heute nutze ich das Ganze nicht mehr so häufig, da mein Interesse daran schwindet. Man will sein Gegenüber ja auch berühren und fühlen.»
Vielleicht ist es aber auch genau die Aufregung, erwischt werden zu können, die einen bestimmten Reiz ausmacht.
Der Datenschutz lässt grüssen Max und Sören sind sich einig. Obwohl es wichtig sei, möglichst viel von demjenigen, der da am anderen Ende des PCs oder Smartphones sitzt, sehen oder hören zu können – sprich, eine gewisse Resonanz zu erfahren – solle man gleichzeitig auch Vorsicht walten lassen. Die Gefahr, dass Videos oder Bilder gespeichert und weiterverschickt werden, sei nicht unerheblich. «Man weiss nie, welche Idioten da draussen unterwegs sind. Das habe ich immer im Hinterkopf und teile generell keine persönlichen Informationen. Gott sei Dank wurde ich noch nie aufgenommen. Beziehungsweise bin ich damit bisher nicht konfrontiert worden», so Max. Vielleicht ist es aber auch genau die Aufregung, erwischt werden zu können, die einen bestimmten Reiz ausmacht.
Fetisch oder Sucht? Meist stecken hinter der Nutzung von Webcam-Sex oder Sexting unterschiedliche Fetische. Während manch einer dadurch exhibitionistische und voyeuristische Tendenzen auslebt, zieht es manch anderer vor, physischen Sex mithilfe digitaler Barrieren hinauszuzögern oder sogar unmöglich zu machen. «Die erlebte Erregung kann von einem solchen Spannungsfeld durchaus profitieren», sagt Ralph Kohn. Wenn man aber feststelle, dass die mit einem realen Partner gelebte Sexualität nicht mehr möglich sei, es zu Erektions- oder Schwierigkeiten im Lusterleben komme, sofern kein Bildschirm zwischengeschaltet sei, solle man dies durchaus kritisch betrachten. Eine ausgewachsene Sucht könne genauso dahinter stecken wie andere Ursachen. «Nicht selten bestehen schon vor dem Einstieg in eine leidvolle Entwicklung Probleme, die einem unbeschwerten Umgang entgegenwirken. Beispielsweise innere Konflikte, die eigene nichtheterosexuelle Orientierung anzunehmen und damit die Basis für eine schwule Identität zu schaffen. Internalisierte Homonegativität und Schamgefühle können sogar dazu führen, dass Camsex der einzige Weg ist, Homosexualität überhaupt zuzulassen.» Wie in allen Bereichen gelte, dass es durchaus sinnvoll sei, sich mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen kontinuierlich auseinanderzusetzen und sich bei Überforderung professionelle Unterstützung zu suchen.
Jede*r, wie er oder sie will, aber mit Vorsicht Solange man niemand anderem Schaden zufügt, sollte jede*r das machen dürfen, worauf er oder sie Lust hat. Das fängt beim Senden expliziter Fotos über Datingapps an und setzt sich bis zum Ausüben einer Tätigkeit wie der als Camsex-Darsteller fort.
Menschliche Erregungsmuster sind komplexe Konstrukte, die sich nicht mit einfachen Worten erklären lassen. Zu experimentieren, kann helfen, sich selbst, den Partner oder die Partnerin besser kennen zu lernen. Diskriminierung und Vorurteile sind dabei jedoch fehl am Platz. Was wiederum das Recht am eigenen Bild oder Text betrifft, ist Vorsicht angebracht. Fallen lauern schliesslich überall, da unsere Handys zu kleinen Ortungsgeräten und Datenverarbeitungsmaschinen geworden sind. Was einmal aufgenommen oder versendet wurde, lässt sich nur schwer wieder löschen.
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