«Schwuler Osten und schwuler Westen trafen sich am Bahnhof Zoo»

Der Autor und Aktivist Peter Rausch über 60 Jahre Mauerbau

Foto: Screenshot/Gay Church
Foto: Screenshot/Gay Church

Am 13. August 1961 hatte der Bau der Berliner Mauer begonnen, der die deutsch-deutsche Teilung besiegelte. Sie war rund 155 Kilometer lang und umschloss den Westteil Berlins. 45 Kilometer verlief die Mauer quer durch die Stadt. Erst nach mehr als 28 Jahren ging die Teilung mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 zu Ende. Ein Nachruf von Peter Rausch*

Am 13. August 1961 hatte ich Ferien. Elf Jahre alt war ich als die Mauer gebaut wurde. Im Betriebsferienlager des DEFA-Gerätewerks in Neuhaus/Ostsee auf dem Darß, holzgebaut, schilfgedeckt, verbrachte ich zusammen mit 30 anderen Kindern den August. Von weitem hörte ich, da war wieder was los 1961 in Berlin.

Mein Lebensraum zu der Zeit reichte von der Fruchtstrasse bis zur Koppenstrasse. Immer war zwar was los, aber für mich nur Nachrichten, Zeitungsschau in der Schulklasse. Demos, Lebensmittelschiebereien, Kubakrise, Bonner Ultras, Fernsehantennen Richtung Westen, Grenzgänger, Olaf aus meiner Klasse war von einem Tag auf den anderen nicht mehr da, Westkino für‘n Ostgroschen, Fahnenappell, Friedensfahrt, Planerhöhung, Mauerbau, Warschauer Pakt, Colonia Dignidad. Nach Onkel Toms Hütte zum Familiengeburtstag war nun nicht mehr drin.

Alles floss an mir vorbei, war zwar mein Alltag aber nicht mein Leben. 1962 engagierte ich mich mal für Kuba, fand es falsch, dass die USA die Volksrepublik bedrohte. Da bekam ich in der Klasse kurzzeitig den Spitznamen «Kubaotto». Politik liess ich eher links liegen. Für all diese selbstgemachten Miseren erfand ich später den Namen «Heten-Angelegenheiten».

Mein heutiger Lebenspartner war vor dem Mauerbau schon einige Jahre geschlechtsreif und kannte deshalb Sex mit Freunden, Bekannten und Unbekannten in ganz Berlin. Im Rosengarten vor dem Roten Rathaus, in der S-Bahn nach Spandau, in der letzten Reihe der Zeitkinos und nördlich wie südlich der Oberbaumbrücke. Schwuler Osten und schwuler Westen trafen sich gern auch am Bahnhof Zoo. Vor und nach der Mauer. Schliesslich hatten schwuler Osten und schwuler Westen eine mindestens 150 Jahre alte gemeinsame Kultur des Geniessens, des Versteckens, der Vernetzung, der Nachrichtenübertragung, des gegenseitigen Schutzes und des Besetzens exterritorialer Gebiete.

Mich prägten Ost/West-Kontakte erst in der Mitte des Kalten Kriegs. Am 6. Juli 1965 zum Beispiel berichtete die Berliner Abendschau über die skandalösen Verhältnisse am Bahnhof Zoo. Aus dem Off: «Hier pendeln sie hin und her und stehen in den Ecken herum, Grundrechtsneurotiker, unverbesserliche Parasiten der Gesellschaft an der Peripherie einer reformbedürftigen Gesetzgebung. … Bevorzugter Treffpunkt ist die Bedürfnisanstalt für Männer in der Bahnhofsvorhalle …»

Nun wusste ich Bescheid. Zwar erreichte mich der Abendschaubeitrag erst ein paar Monate später – das DDR-Fernsehen wiederholte die Stigmatisierung von Homos erst 1966 in seiner Satiresendung Tele-BZ, – dann aber verschärft mit Kapitalismusschelte. Über die Mauer hinweg Hand in Hand initialisierten mich West und Ost, wenn auch als jene «Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft».

Nun musste ich nur noch rauskriegen, in welcher «Bedürfnisanstalt für Männer» sich die «Unverbesserlichen» in Ostberlin gegenseitig verdarben. In der Klappe am Alexanderplatz also begann mein Coming-out. Fünf Jahre später endete es, wieder durch einen gesamtdeutschen Akt. Aus einem altem Taschenkalender von Micha Eggert: «Freitag, 29. Dezember 1972: Abends in der Mocca-Bar trifft Michael Eggert eine Gruppe der h.a.s. homosexuelle aktionsgruppe saar mit Michael Faisst, Hasso Müller-Kittnau u.a. . Spontan werden einige Zettel geklebt (Toiletten im Hotel Sofia, im DT-Keller und im Bhf. Friedrichstrasse)»

1972 erreichten uns in Ostberlin die ersten Nachrichten von dieser neuen Emanzipationsbewegung. In Westeuropa machten die Homos Öffentlichkeit. Und wir machten mit. Wir «frassen» Grundsatzpapiere, Infoblätter, Diskussionsmaterial, Zeitschriften, Theorieentwürfe aus dem Westen. Und dann gründeten wir eine Gruppe im Osten. Habt keine Angst, ihr Oberen, die da im Westen und Osten sind eure Freunde. Was die machen ist Fortschritt. Solche Freunde wollten die aber weder im Osten noch im Westen haben.1979 dann über die Mauer hinweg ein Radioduell. Das gab’s weder vorher noch nachher.

Rosen stecken in der Hinterlandmauer der Gedenkstätte Berliner Mauer (Foto: Jörg Carstensen/dpa)
Rosen stecken in der Hinterlandmauer der Gedenkstätte Berliner Mauer (Foto: Jörg Carstensen/dpa)

Von Februar bis Mai 1979 sendeten Radio DDR und SFB je zwei Sendungen mit dem Gegenstand «menschliche Homosexualität», als hätten sie sich verabredet. Im Osten hiess die Sendung «Hand aufs Herz – Ratschläge zu Ihrer Gesundheit» und im Westen «Urteil oder Vorurteil – Wissenschaft im Zwiespalt». Die zwei Sendungen von Radio DDR begannen mit: «Von den zahlreichen Zuschriften betreffen viele die Homosexualität. Mir scheint, dass in diesem Punkt zahlreiche Unklarheiten bestehen. … einen schönen guten Morgen, Herr Doktor Schabl …» und endeten mit «Ja, das alles darf Sie aber nicht entmutigen, nach besseren Methoden zu forschen und vor allem in der Prophylaxe zu arbeiten. …» Die Ostwissenschaft hoffte zu der Zeit tatsächlich noch auf eine «Pille gegen Homosexualität».

Wir sollten den Heterosexuellen nicht Ablehnung sondern Verständnis und Mitleid entgegenbringen.

Die zwei SFB-Sendungen dagegen sind noch heute zeitgemäss, messerscharf und unübertroffen. Der Sender begann mit: «Die Verfechter gesellschaftlicher Vorurteile berufen sich gern auf wissenschaftliche Kenntnisse …» und endeten mit: «Wir sollten den Heterosexuellen nicht Ablehnung sondern Verständnis und Mitleid entgegenbringen … » Wie gross auch das Gefälle zwischen West- und Ostsendung war, in einem waren sie sich Ende 1979 einig: Die Wissenschaft war immer noch nicht auf unserer Seite.

In den 80ern wurde es immer klarer, das mit der homosexuellen Emanzipation ist ein langer, gemeinsamer Weg. Homophobie hatte vielleicht 6000 Jahre Zeit, sich in allen modernen Kulturen festzusetzen und sich in die Gehirne, gleich über den Hypothalamus, zu verankern, als wäre Homophobie ein Naturgesetz. Wir brauchen also noch einen langen Atem.

*Peter Rausch, 1950 in Berlin Friedrichshain geboren, gründete 1973 zusammen mit anderen die erste schwullesbischbitranssexuelle Emanzipationsgruppe in der DDR, die HIB (Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin). Ende der 80er Jahre setzte er die Emanzipationsarbeit beim BerlinerSonntags Club fort. Nach der Wende publizierte er Sachtexte wie zum Beispiel „Die bisexuelle Natur des Menschen – eine soziale Chance“ (Jena 1990). 2014 erschien sein erster Roman „HomoBlocker“. 

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