Untenrum: Aubergine, Karotte oder Gürkchen?
Für viele Männer ist die Schwanzlänge ein empfindliches Thema
Zu klein, zu dünn, zu dick, zu gross, zu krumm, zu aderig. Frieden mit Form und Aussehen des eigenen Penis zu schliessen, stellt für viele Männer eine Herausforderung dar. Aber warum?
Bereits im Mutterleib, noch bevor wir den ersten klaren Gedanken fassen oder die Wunder dieser Erde erblicken können, beschäftigen wir Kerle uns schon mit dem, was da zwischen unseren Beinen baumelt. Männliche Embryonen haben Erektionen und erforschen ausgiebig, wie es ist, ihren Penis zu berühren.
Nach der Geburt geht es weiter. Das eigene Genital wird zum Faszinationsobjekt Nummer eins. Es wird optisch begutachtet, voller Stolz präsentiert und auch die Möglichkeit, damit mehr anstellen zu können, als zu pinkeln, wird schnell entdeckt. In der Pubertät und im Erwachsenenalter sehen wir uns dann Vergleichen mit Altersgenossen ausgesetzt und schneiden dabei mal mehr, mal weniger gut ab. Unser Selbstbewusstsein gerät ins Wanken, wird verunsichert oder erstarkt. Ob im Schwimmbad, beim Entspannen in der Sauna oder beim Betrachten verschiedenster Medien – der Schwanzvergleich ist allgegenwärtig.
Von XS bis XXL «Penisgrösse ist sicher ein Thema. Die Patienten kommen zwar selten direkt mit der Frage, jedoch ist der Vergleichspenis meist der aus dem Pornoclip. Daher muss ich manchmal beruhigen», sagt Roman Hertel, Urologe aus Berlin. Vor allem junge Männer seien es, die mit sich und ihrer genitalen Ausstattung hadern würden. «Das Problem mit der Grösse kann mit Erektionsschwierigkeiten verglichen werden. Wenn die Leute vom Kopf her befreit sind, dann steht es auch nicht im Vordergrund. Sogenannte Mikropenisse sehe ich selten.»
Erst bei einer Länge von unter sieben Zentimetern im erigierten Zustand sprechen Experten von einem Mikrophallus, also einem Penis, der anatomisch gesehen derart klein ist, dass er bei weniger als zwei von hundert Männern vorkommt. Gleiches gilt für das Gegenteil, den Makrophallus. Auch er ist prozentual nur in unter zwei Prozent aller Unterhosen zu finden. Wobei es regionale sowie altersspezifische Unterschiede zu geben scheint. Ferner können auch Krankheiten zu dem einen oder anderen Extrem führen. Tumore oder Störungen des Hormonstoffwechsels sind potenzielle Gründe. «Makropenisse kommen auch bei einigen seltenen Syndromen vor. In meiner Arbeit ist mir etwas Derartiges aber noch nicht begegnet. Grosse Penisse natürlich schon, aber bislang musste ich deswegen noch niemanden zu einer chirurgischen Intervention schicken. Betroffene äussern teils lediglich, sie müssten beim Geschlechtsakt etwas aufpassen», ergänzt Hertel.
Durchschnittswerte Glaubt man David Veale und seinen Kollegen vom King’s College in London, ist ein durchschnittlicher, erigierter Penis 13,12 Zentimeter lang. Die Forscher werteten Daten aus rund zwanzig verschiedenen Studien mit über 15 000 Probanden aus und publizierten ihre Ergebnisse 2014. Messungen führte dabei ausschliesslich geschultes Personal durch.
Wenn wir also davon ausgehen, dass 13,12 Zentimeter das statistische Mittelmass bilden, heisst das gleichzeitig auch, dass sich sowohl links als auch rechts von diesem jeweils gleich viele Männer verteilen. Vielleicht hilft es zu wissen, dass ein zehn Zentimeter grosser Penis demnach deutlich häufiger vorkommt, als einer, der 19 oder 20 Zentimeter misst. Auch in Sachen Umfang muss entwarnt werden. Kaum ein Schwanz gleicht einer handelsüblichen Gurke. Mit einem Umfang von 11,66 Zentimetern bildet die Karotte wohl den realistischeren Referenzrahmen. Trotz all dieser wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse bleiben in den Köpfen vieler Zweifel bestehen.
Die Psychologin, Sexologin und Autorin Ann-Marlene Henning liefert in ihrem Buch «Männer: Körper. Sex. Gesundheit.» (Rowohlt, 2018) diesbezüglich eine spannende Überlegung. Und zwar sei die Perspektive das Problem. Während wir die Penisse unserer Geschlechtsgenossen meist frontal betrachten, sehen wir unseren eigenen von oben und damit aus dem deutlich ungünstigeren Blickwinkel, was die objektive Einschätzung betrifft. Eine Wahrnehmungsverzerrung also.
Hinzu kämen optische Täuschungen, die in der Art der Intimbehaarung oder dem Fakt begründet sein könnten, dass Grössenunterschiede im schlaffen Zustand deutlich stärker variierten, als im erigierten, meint Henning. Man bedenke nur das Phänomen der Blut- und Fleischpenisse. Während Letztere von Hause aus etwas dicker und grösser sind, dafür aber während der Erektion kaum noch wachsen, verhält es sich mit den Blutpenissen anders. Diese wirken im ersten Moment zwar etwas kleiner, wenn die Lust dann aber geweckt ist, legen sie proportional gesehen deutlich stärker an Grösse und Umfang zu als ihre «Artgenossen».
Trendgesteuert Welchen Einfluss unsere Gesellschaft, besonders Werbung und die Darstellung stereotyper Körper, auf unser psychologisches Wohlbefinden haben kann, lässt sich an Fällen von magersüchtigen Teenagern genauso nachvollziehen wie an dem Fitnesshype, der sich aktuell nicht nur unter schwulen Männern wie eine Epidemie ausbreitet. Selbst unser Intimbereich ist vor Vergleichen nicht mehr sicher. Exponieren darf sich scheinbar nur, wer etwas fürs Auge zu bieten hat. Das führt zu einem Ungleichgewicht in der Sichtbarkeit einer eigentlich vorherrschenden Diversität. Männer mit vermeintlich kleinen Penissen meiden aus Angst die Gemeinschaftsdusche oder das Pissoir, während die mit grossen Schwänzen überrepräsentiert zu sein scheinen. Unser Bild von Normalität wird zunehmend verzerrt.
«Diskriminierung war der Grund für meine jahrelange Scham. Zum Beispiel wurden wir in der Schule genötigt, vor dem Schwimmunterricht komplett nackt zu duschen. Zu dieser Zeit war mein Schwanz noch extrem klein und so musste ich mir immer wieder unangebrachte Sprüche gefallen lassen», erinnert sich Max, den wir dank der Suche auf einer Onlineplattform für ein Interview gewinnen konnten. Das beste Stück des 27-Jährigen misst elf Zentimeter und ist damit weit entfernt davon, in die Kategorie der zuvor erwähnten Mikropenisse zu fallen.
Aber selbst seine Grossmutter sah das anders und schleppte den heranwachsenden Max in seiner frühen Jugend zu einem Arzt, um abklären zu lassen, ob denn wirklich alles in Ordnung mit seinem Genital sei. «Solche Erfahrungen zerrütten das natürliche Verhältnis zum eigenen Körper nachhaltig. In der Sauna versuche ich immer, meinen Schritt zu verstecken, weil er nicht dem heutigen Schönheitsideal entspricht.»
Sind allein die Pornos schuld? Durchforstet man homo- und heterosexuelle Pornografie, scheint auch dort die Faustregel «mehr ist mehr» zu gelten. Ein mächtiger, praller Phallus, der mit Lust, Potenz und Männlichkeit assoziiert wird, verkauft sich eben gut.
«Aus meiner Sicht trägt die Industrie definitiv zu den Unsicherheiten vieler Kerle hinsichtlich ihrer Penisgrösse bei. Wobei es auch darüber hinausgeht. Allgemein zelebrieren die Medien den grossen Schwanz», kritisiert Sam Morris. Der aus Grossbritannien stammende Künstler und Pornoproduzent versucht, mit seinen Filmen zumindest teilweise gegen den Strom zu schwimmen. Er setzt dabei vorrangig auf den Character und die Ausstrahlung seiner Darsteller. Deren Mannespracht sieht er meist erst beim Dreh selbst.
«Der Glaube an die eigene Person ist erotischer, als jeder Schwanz es sein kann. Ich mag auch kleine, schlaffe Penisse, wie sie auf Bildern und bei alten griechischen Skulpturen zu finden sind. Ihnen haftet etwas sehr Sensitives, Wunderschönes an. Zudem muss ich sagen, dass ich einige Typen mit gigantischen Pimmeln getroffen habe, und glaubt mir, es geht wahrlich mehr darum, dass man weiss, wie man sein Teil einsetzt, anstatt rein auf die Grösse zu setzen.»
Das Los eines grossen Penis Dass ein überdimensional langes oder dickes Glied auch Nachteile mit sich bringen kann, berichtet der 39-jährige Jiannis, der ebenfalls auf die Suche unserer Redaktion nach Interviewpartnern reagierte. «Ich habe einen Blutschwanz. Das bedeutet, dass er im schlaffen Zustand relativ klein ist, bei einer Erektion aber schnell um das Vielfache anschwillt. Er wird dann bis zu 18 Zentimeter lang und misst im Umfang 15,5. Beim Sex passiert es mir oft, dass ich schnell zum Orgasmus komme, weil er sehr empfindlich auf Druck reagiert.»
Der Mittfünfziger Andreas, der 22 Zentimeter in seiner Hose unterbringen muss, berichtet hingegen von einer anderen Einschränkung: «Manchmal ist mein Schwanz meinem Sexualpartner zu gross! Das ist dann hinderlich.» Seine Sexualpräferenz habe das allerdings nicht beeinflusst. Andreas ist versatil. «Vielleicht wäre ich gern häufiger passiv. Aber viele Männer wollen von einem grossen Penis gefickt werden. Also muss ich öfter ficken, als mir lieb ist», witzelt er. Und auch der Moment, in dem Andreas entdeckte, dass er anders als die Anderen ist, klingt mehr nach spassiger Anekdote als nach traumatischem Erlebnis. «Ich habe mit ungefähr zwölf Jahren realisiert, dass mein Peniswohl recht gross ist. Damals verglich ich ihn mit dem meines Cousins, der sehr viel kleiner war. Wir haben uns das damals so erklärt, dass mein Cousin ein halbes Jahr jünger ist als ich, und sind davon ausgegangen, dass sein Penis wohl noch auf die Grösse von meinem anwachsen würde. Was daraus geworden ist? Keine Ahnung. Vielleicht ist sein Penis noch gewachsen. Ein halbes Jahr ist eine lange Zeit.»
Und die Moral von der Geschicht‘ Humor scheint ein probates Mittel zu sein, um mit Verunsicherung oder erlebter Andersartigkeit umzugehen. Sich und die Umwelt nicht zu ernst zu nehmen, kann helfen, das eigene Gleichgewicht zu finden. «Mein kleiner Schwanz hat auch seine praktischen Seiten», sagt Max. «Man sieht nie, wenn ich in der Öffentlichkeit einen Steifen habe.» Ausserdem bekäme er öfter Angebote von Männern, die beim passiven Analverkehr einen nicht allzu grossen Penis bevorzugen würden. Die Erfahrung habe Max gelehrt, dass die Beschaffenheit seines Genitals beim Sex nie eine wirklich negative Rolle gespielt hat. «Bei einer Körpergrösse von 1,66 Metern erwartet man vermutlich keine Wunder. Demzufolge scheine ich selbst wohl derjenige zu sein, der am ehesten an seinem Penis zweifelt. Eigentlich sollte ich mir über seine Grösse keine Gedanken machen. Seitdem ich bei einer Onlinedating-Plattform meine Schwanzgrösse mit ‹S› angegeben habe, bekomme ich verstärkt Post von Liebhabern kleiner Exemplare.»
Die Tatsache, dass man es in unserer Community nicht nur zulässt, sondern teilweise sogar aktiv möglich macht, dass wir Dates nach den Grössenangaben ihrer Geschlechtsteile aussuchen können, scheint bizarr. Als wären wir Kunden eines Bekleidungsgeschäfts. Als müssten wir die Etiketten einzelner Stücke unbedingt vorab prüfen, um zu erkennen, was uns am besten passt. Dem Ruf des Konsums folgend, sind wir es dabei jedoch selbst, die dafür sorgen, dass wir zu Produkten degradiert und aufgrund von überzogenen Normvorstellungen aussortiert werden. Das gilt es zu stoppen! Mithilfe von Aufklärung und Entmystifizierung.
Unterstütze LGBTIQ-Journalismus
Unsere Inhalte sind für dich gemacht, aber wir sind auf deinen Support angewiesen. Mit einem Abo erhältst du Zugang zu allen Artikeln – und hilfst uns dabei, weiterhin unabhängige Berichterstattung zu liefern. Werde jetzt Teil der MANNSCHAFT!
Das könnte dich auch interessieren
People
Bill Kaulitz: «Der Mann an meiner Seite muss Eier haben»
Begegnung mit einem Pop-Phänomen
Von Martin Busse
TV
Musik
Unterhaltung
Queerfeindlichkeit
«Machokultur»: Hohe Diskriminierung gegen Queers in Schweizer Armee
Eine neue Studie legt erschreckende Zahlen offen. LGBTIQ Dachverbände fordern deshalb einen «Kulturwandel».
Von Newsdesk Staff
News
Schweiz
News
ILGA: «Nicht schweigen, wenn Menschenrechte verletzt werden!»
Erläuterungen zum Ausschluss der israelischen Gruppe von Julia Ehrt
Von Kriss Rudolph
Schwul
Vorurteile wegboxen: «Wir zeigen eine wehrhafte Queerness»
Fotograf Marc Martin und trans Darsteller Jona James zeigen ihre Ausstellung über Sport, Männlichkeitsbilder und Schwulsein in Berlin. Dabei wird vieles in ein neues Licht gerückt.
Von Carolin Paul
TIN
Kultur
Fotografie