Schlechter Service – oder: Das späte Leben der guten Argumente
Die MANNSCHAFT+-Kolumne «Alter Ego»
Nach einem sehr langen, sehr anstrengenden Tag ist unser Autor endlich im Bett, und nachdem ihm nach nur einer halben Seite bereits die Augen zufallen, legt er sein Buch zur Seite und löscht das Licht. Er versucht, an nichts mehr zu denken, entspannt sich, und ist kurz davor wegzudösen. Da meldet sich sein Alter Ego.
Alter Ego: Du hättest heute Morgen in dieser Bar ruhig etwas schlagfertiger sein können! Ich (schlaftrunken): Oh Mann, muss das jetzt sein. Ich war fast eingeschlafen.
Alter Ego: Das Verhalten dieses Typs war doch der Gipfel! Hat der tatsächlich seinen Finger in deinen Tee gesteckt, um zu prüfen, ob er wirklich nur lauwarm ist? Ich (seufze): Ja, hat er. Alter Ego: Um ihn darauf mit beleidigter Miene wegzuschütten, jemand anderen zu bedienen, und dir erst dann einen neuen zu machen und wortlos hinzustellen? Ich: Ja, Tatsache. Alter Ego: Und der neue Tee war auch lauwarm? Ich: Genau. Alter Ego: Und als du es ihm gesagt hast, hat er die Augen verdreht und dich wie den unverschämtesten Gast behandelt, der ihm je untergekommen ist? Worauf du nur «was für ein miserabler Service» gemurmelt hast und abgerauscht bist? Ich: Ich glaube, ich habe «Sch***service» gesagt.
Mein Alter Ego schweigt vielsagend.
Ich: Ich weiss, ich weiss! Ich war einfach zu baff, um richtig zu reagieren. Alter Ego: Ich an deiner Stelle wäre da viel souveräner gewesen. Ich: Was einen halben Tag später natürlich einfach zu behaupten ist.
Alter Ego: Ich hätte gesagt: «Sind Sie sicher, dass Sie in der Gastronomie richtig sind, wenn eine Tasse Tee Sie schon überfordert?» Oder: «Es tut mir sehr leid, dass ich Sie an die Grenzen Ihrer Fähigkeiten gebracht habe. Das wollte ich natürlich nicht.» Ich: Ja, ja, alles sehr eloquent.
Mein Alter Ego kommt in Fahrt.
Alter Ego: Oder mit Ironie! «Schrecklich, solche Kunden, nicht? Was die alles verlangen! Dass der Tee heiss ist . . . Wenn das jeder möchte.» Oder: «Heisser Tee? Am Ende will die Kundschaft noch heissen Kaffee!» Ich: Ist ja gut, ich hab’s begriffen. Nächstes Mal werde ich eine Auswahl an schlagkräftigen Antworten bereit haben, vielen Dank. Und nun möchte ich schlafen, gute Nacht.
Ich ziehe mir die Decke über die Ohren und lenke meine Gedanken weg von dem ärgerlichen Barbesuch und hin zu dem süssen Türken aus der Sportgruppe. Wie er mir letztes Mal die richtige Technik für die Dehnübung gezeigt und mich dabei angegrinst hat. Wie er mich . . .
Alter Ego: Oder du hättest übertrieben devot sein und dich tausend Mal entschuldigen können, bis er sich doof vorgekommen wäre!
Ich: Jetzt vergiss doch diesen blöden Barmann! Alter Ego: So ein Idiot. Was bildet der sich eigentlich ein?
Mein Alter Ego murmelt wütend weiter, während ich mich stöhnend auf die andere Seite drehe und mich zu entspannen versuche. Nur langsam fühle ich, wie mein Körper schwer wird, in die Matratze sinkt und sich Traumbilder in mein Bewusstsein drängen. Ich steige in einen Zug, es ist Sommer, da hinten ist das Meer, und . . .
Alter Ego: Du hättest nach der Geschäftsleitung verlangen sollen! Diese Behandlung hätte ich nicht auf mir sitzen lassen.
Eine Stunde später liege ich auf dem Sofa. Aus dem Schlafzimmer höre ich mein Alter Ego wüten und sich immer neue Schlagfertigkeiten ausdenken. Ich weiss, es wird eine lange Nacht werden.
*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com eine Kolumne oder einen Kommentar zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
Nora und Daniela leben seit zwei Jahren in einer Dom/Sub-Liebesbeziehung. Mit MANNSCHAFT+ sprechen sie über die Lust an der Kontrolle und der Unterwerfung und die «drei Säulen» von BDSM.
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