«Queers, die für Palästina protestieren? Ich bin sehr dafür»
Interview mit Alon-Lee Green von «Standing Together»
Wie kann man Frieden im Nahen Osten schaffen? Und wie lässt sich die Queers-for-Palestine-Bewegung bewerten? MANNSCHAFT+ spricht mit dem schwulen Aktivisten Alon-Lee Green aus Israel.
Der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 war das schlimmste Pogrom an jüdischen Personen seit dem Holocaust. Damals starben mehr als 1'200 Menschen, Frauen wurden vergewaltigt und Geiseln in den Gazastreifen verschleppt (MANNSCHAFT berichtete).
Alon Lee-Green ist 36, lebt in Tel Aviv und ist seit bald 20 Jahren als politischer Aktivist tätig. Vor 9 Jahren hat er die Organisation Standing Together mitbegründet, die grösste jüdisch-arabische Basisbewegung in Israel. Sie kämpft gegen die israelische Besatzung und für den Frieden, für Gleichheit und Gerechtigkeit. Vor ein paar Wochen wurde die Marke von 6000 Mitgliedern erreicht: Palästinenser*innen und Jüd*innen, die Bürger*innen Israels sind.
Alon-Lee, wie hast du den 7. Oktober dieses Jahr erlebt, den 1. Jahrestag des Überfalls der Hamas?
Es war sehr hart. Ein Tag mit äusserst gemischten Gefühlen, aber einer Mischung aus lauter schlechten Gefühlen, sehr beängstigenden und sehr dunklen Emotionen. Wir waren dreimal im Luftschutzbunker, weil es drei verschiedene Alarme gab. Die Strassen waren leer. Es war gespenstisch. Viele Menschen hatten Angst, ihre Kinder zur Schule oder in den Kindergarten zu schicken, weil sie damit rechneten, dass es zu Angriffen und Alarmen kommen würde.
Du kritisierst die israelische Regierung, vor allem Benjamin Netanyahu, nicht erst seit Kriegsbeginn. Netanyahu verspricht einen «vollständigen Sieg». U.a. dieses Versprechen kritisierst du. Glauben die Menschen in Israel wirklich, dass es möglich ist, Hamas und Hisbollah vollständig auszulöschen, wie die Regierung es ankündigt?
Ich würde sagen, dass heute die Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit der israelischen Regierung nicht glaubt. Die Umfragen zeigen, dass wir nicht glauben, dass wir gewinnen und dass der 'vollständige Sieg' eine glaubwürdige Strategie ist.
Hamas und Hisbollah werden nach diesem Krieg nicht verschwinden. Sie werden weiter existieren. Der Krieg wird mit einer Vereinbarung enden, an denen sie beteiligt sind. Wir können uns nicht mit Bomben aus Situationen wie der aktuellen befreien.
In der Organisation, die du vor bald 9 Jahren mitgegründet hast, arbeiten jüdische und palästinensische Menschen zusammen. Das ist vermutlich nicht immer einfach.
Es ist Arbeit, immer wieder. Wir müssen für beide Gruppen relevant sein, die unterschiedliche Realitäten erleben, die unterschiedliche Preise für diese Realität zahlen. Man muss sich nur mal überlegen, was es bedeutet, Instagram zu öffnen, wenn man ein palästinensischer Staatsbürger Israels oder ein jüdischer Staatsbürger Israels ist. Man erlebt verschiedene Blasen, sieht verschiedene Geschichten und hört verschiedene Nachrichten.
Standing together will eine Brücke zwischen diesen beiden Realitäten sein und die Tatsache anerkennen, dass beide gleichzeitig existieren. Das bedeutet nicht, dass wir alle Narrative akzeptieren. Zum Beispiel das Narrativ der Regierung: Dass man die Palästinenser kontrollieren muss, wenn man sicher leben will. Wir lehnen es ab, das zu akzeptieren. Oder wenn unsere Politiker behaupten, dass alle Palästinenser Terroristen seien und es in Palästina keinen einzigen unschuldigen Menschen gäbe.
Und wir stimmen aber auch einigen palästinensischen Narrativen nicht zu, etwa dass ihr Widerstand darin bestehen muss, unschuldige Menschen in Israel zu verletzen oder zu töten.
Wir versuchen, für das Leben sowohl der Palästinenser als auch der Juden relevant zu sein. Das bedeutet, dass wir über die Verbesserung des Lebens sowohl der Juden als auch der Palästinenser sprechen und dass wir jeweils deren Probleme und Herausforderungen anerkennen.
Es geht aber auch darum, für die Zukunft einen dauerhaften, friedlichen Kompromiss zu finden.
Noch vor dem 7. Oktober 2023 schien es extrem weit entfernt zu sein, eine Lösung, einen Kompromiss oder eine Einigung zu finden. Aber ich denke, dass uns die aktuelle Krise einer Lösung näherbringt als in den Tagen des Status quo, vor dem 7. Oktober. Der Weg zum Frieden ist derzeit tatsächlich kürzer als früher. Diese tiefste Krise unserer Geschichte ist für viele Menschen auch eine Chance zur Klarheit.
Wie könnte denn die Lösung aussehen, abgesehen von der Beendigung des Krieges und einem Waffenstillstand?
Zunächst müssen wir anerkennen, dass es bereits vor dem Krieg eine Besatzung und eine gewaltsame militärische Kontrolle über Millionen von Menschen gab. Selbst wer nicht unter der direkten Besatzung im Westjordanland oder im Gazastreifen lebt, konnte als palästinensischer Staatsbürger in Israel auf vielfältige Weise systematische Diskriminierung erleben.
Ich denke, dass wir das anerkennen müssen, denn mit einem gerechten Waffenstillstand wird es noch kein Ende geben. Ein Waffenstillstand ist der notwendige Schritt, um das Blutvergiessen in Gaza zu stoppen.
Aber wir müssen uns auch das Westjordanland ansehen und anerkennen, dass dieses Jahr das blutigste Jahr seit über 20 Jahren ist. Hunderte Menschen sterben dort. Es sterben dort aber auch jüdische Menschen durch die Gewalt der Palästinenser. Die Lösung besteht darin, die Besetzung anzuerkennen.
Und ich sage: Jede Lösung muss beinhalten, dass alle Menschen frei, gleich und unabhängig sind.
Ihr sprecht mit Mitgliedern verschiedener Parteien in Israel, du warst aber auch schon zu Gesprächen im Weissen Haus. Eure Organisation spricht ebenso mit Abgeordneten aus Deutschland, Frankreich und den Niederlanden. Ihr plädiert für eine föderale Lösung zwischen Israel und Palestinä. Wie kommt das an?
Die meisten Länder halten an der Zwei-Staaten-Lösung fest. Wir sagen den anderen Regierungen, dass wir eine schnelle oder, sagen wir, sehr kurzfristige Forderung haben, nämlich: die Anerkennung eines unabhängigen palästinensischen Staates, wie es die spanische, irische und slowenische Regierungen schon getan haben in den letzten Monaten.
«Wir dürfen nicht blind sein gegenüber dem Leid anderer Minderheiten und anderer unterdrückter Menschen auf der Welt.»
Bei den Prides in Europa, den USA und Kanada sorgten dieses Jahr Gruppen für Aufregung, die unter dem Motto Queers für Palastine demonstrierten. Es gab Streit und Diskussionen über diese Form, queere Solidarität zu zeigen. Wie siehst du das?
Queere Gruppen, die für Palästina protestieren? Ich bin sehr dafür und möchte es unterstützen. Und wir bitten die gesamte LGBTIQ-Gemeinschaft, an der Seite anderer unterdrückter Gruppen zu stehen. Wir müssen verstehen, dass gerade wir als LGBTIQ wissen, was Diskriminierung ist, was Unterdrückung ist, und dass wir in unserem Kampf dagegen die grundlegende Solidarität haben müssen. Nicht blind sein gegenüber dem Leid anderer Gruppen und anderer Minderheiten und anderer unterdrückter Menschen auf der Welt.
Wirst du angefeindet?
Von manchen Leuten schon. Das, was ich tue und sage, polarisiert. Die Leute neigen dazu zu denken, dass Polarisierung negativ ist, dass es eine negative Bedeutung hat, zu „polarisieren“. Aber ich glaube, dass Politik von Natur aus polarisiert ist. Und das machen wir, wir polarisieren.
Wenn ich zum Beispiel sage, dass ich ein schwuler Mann bin und in Israel nicht heiraten darf, und ich fordere, dass ich in Israel gleichberechtigt bin und das Recht habe zu heiraten, weil ich nach Deutschland gehen musste, um zu heiraten, so werden es einige Leute in Israel hören und dagegen sein und einige Leute werden dafür sein.
Jede Forderung polarisiert. Als die erste Frau vor über 100 Jahren sagte: „Ich fordere das Recht, ein gleichberechtigter Mensch zu sein, gewählt werden zu können und zu wählen.“ Das war sehr polarisierend. Und ich denke, dass Standing Together keine Bewegung der Provokation ist; es ist keine Bewegung, die Juden gegen Palästinenser hetzt.
Wir sind auch ganz anders als die internationale Linke, die sagt: Befreit Palästina einfach vom Fluss bis zum Meer! Nein, wir fordern die Freiheit Palästinas, aber wir fordern auch die Sicherheit der Juden. Und wir sind davon überzeugt, dass das zusammenpasst.
Die Kritik an der Queers-for-Palastine-Bewegung lautet: Es gibt weder im Gaza-Streifen noch im Westjordanlang queere Rechte, stattdessen: Verfolgung.
Man muss die Tatsache anerkennen, dass es queere Palästinenser gibt, die von der grossen palästinensischen Gesellschaft, aber vielleicht auch von der israelischen Regierung unterdrückt werden, wenn sie in Gaza bombardiert werden.
Und es ist eine Tatsache, dass der israelische Geheimdienst innerhalb unserer Armee die sexuelle Identität und die Geschlechtsidentität von LGBTQ-Personen nutzt, um sie zu erpressen, damit sie zu Kooperationspartnern und Informanten werden. Hier wird die sexuelle Identität und Geschlechtsidentität von Menschen genutzt, um sie zu erpressen. Das ist das Ekelhafteste, was man der LGBTIQ-Community antun kann.
Es gibt eine Gruppe schwuler Leute vom israelischen Geheimdienst in der Armee, die nach ihrem Dienst einen Brief geschrieben haben, in dem sie gestehen, dass sie es getan haben.
Israel spioniert die meisten Palästinenser aus, um diese Menschen systematisch zu kontrollieren. Wenn sie schwul sind, drohen sie, sie vor der Familie zu outen.
Ist eigentlich etwas über möglicherweise noch lebende Queers unter den Geiseln bekannt?
Sehr gute Frage. Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Es spricht aber auch niemand darüber. Möglicherweise ist das so, um sie zu schützen, falls es sie gibt. Denn die Hamas ist bekanntlich keine Unterstützerin von LGBTIQ. Vielleicht ist es also tatsächlich eine kluge Sache, selbst wenn queere Geiseln gäbe, nicht darüber zu sprechen.
In Deutschland ist es oft schwierig, über Israel zu diskutieren und das Vorgehen der Regierung zu kritisieren. Weil Kritik am Staat oft sofort als antisemitisch zurückgewiesen wird.
Man muss unterscheiden, was Antisemitismus ist und was nicht. Eine jüdische Person in Deutschland, Frankreich oder den USA für die Taten und Taten der israelischen Regierung verantwortlich zu machen, ist Antisemitismus. Einer Person zu sagen, dass sie den Magen David, den Davidstern, nicht tragen darf, weil das Israel oder den Krieg unterstützt, ist Antisemitismus.
Kritik am Staat Israel ist kein Antisemitismus. Zu sagen, dass Israel Kriegsverbrechen begeht, ist kein Antisemitismus. Solidarität mit den Palästinensern ist kein Antisemitismus. Die palästinensische Flagge auf einem Aufkleber auf einer Strasse in Wien oder Berlin anzubringen, ist kein Antisemitismus.
«Wenn alles Antisemitismus ist, ist nichts Antisemitismus. Das muss sehr, sehr klar sein.«
Eine Person, die nicht zwischen Antisemitismus und dem, was kein Antisemitismus ist, unterscheiden kann, schadet dem wirklich wichtigen Kampf gegen Antisemitismus. Denn wenn alles Antisemitismus ist, ist nichts Antisemitismus. Und das muss sehr, sehr klar sein.
Wer denkt, dass ein guter Freund des israelischen Volkes automatisch alles unterstützt, was Israel tut, verletzt in Wirklichkeit das israelische Volk. Denn das ist seit fast zwei Jahren auf der Strasse, um gegen die israelische Regierung zu demonstrieren.
Du bist mit einem deutschen Mann verheiratet. Redet ihr zuhause über den Krieg? Oder lässt du das lieber draussen?
Es ist gar nicht möglich, es draussen zu lassen. Erstens ist es mir gar nicht möglich, meine Arbeit, meine Leidenschaften und meine täglichen Aktivitäten an der Haustür abzulegen.
Und ich weiss im Guten wie im Schlechten, ich bin ein absoluter Mensch. Und dieses Jahr war das intensivste und härteste. Und es ist ein Jahr, in dem man dieser Realität nicht entkommen kann.
Es trifft dich auch, wenn du schläfst, wenn du von einem Alarm aufwachst und an einen sicheren Ort rennen musst. Die Realität ist da und sie trifft dich mitten ins Gesicht.
Es ist derzeit auch nicht einfach, ein Ausländer in Israel zu sein. Unsere Gesellschaft zerfällt. Unsere Gesellschaft wendet sich gegeneinander. Es gibt eine Welle des Faschismus in unserer Gesellschaft.
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