Queere Rechte dürfen keine «Orchideen-Themen» sein
Die SPÖ will «Radikale Solidarität»
Österreichs Sozialdemokraten fordern in einem Manifest, dass der Einsatz für queere Themen nicht als nebensächlich abgetan wird.
Von Christian Höller
Umfragen zufolge sind in Österreich die oppositionellen Sozialdemokraten die stimmenstärkste Partei. Nun verlangen deren Vertreter*innen, dass sich die Linke nicht nur mit Sozialpolitik und Umverteilung, sondern auch mit queeren Themen beschäftigen muss.
Haben wir keine anderen Probleme? Angesichts der vielen aktuellen Krisen ist immer wieder zu hören, dass sich die Linke mehr mit Sozialpolitik und Umverteilung beschäftigen sollte – und weniger mit LGBTIQ-Gleichstellung, Feminismus oder Antirassismus. Doch eine solche Gegenüberstellung von Klassenpolitik und Identitätspolitik sei falsch und müsse überwunden werden. Das ist eine Kernthese des Buches und Manifests «Radikale Solidarität» mit Beiträgen von prominenten Vertreter*innen der österreichischen Sozialdemokratischen Partei (SPÖ) und von linken Aktivist*innen.
Das Buch liest sich unter anderem wie eine Positionsbestimmung für die nächsten Wahlen. Offiziell sollen in Österreich die Parlamentswahlen erst im Jahr 2024 abgehalten werden. Doch nach Korruptionsvorwürfen um frühere und aktive ÖVP-Politiker*innen gibt es immer wieder Gerüchte, dass die aus ÖVP und Grünen bestehende Regierungskoalition früher zerbrechen könnte. Einer aktuellen Umfrage des Wochenmagazins Profil zufolge liegt die oppositionelle SPÖ derzeit mit 28 Prozent auf Platz eins, dahinter folgt die rechtsgerichtete Freiheitliche Partei (FPÖ) mit 24 Prozent. Die christdemokratische ÖVP schafft nur noch 23 Prozent. Die Grünen kommen auf elf Prozent.
Wie in anderen Ländern fordern auch in Österreich manche linke Vertreter*innen, dass sich die Politik angesichts der aktuellen Krisen mehr um soziale Fragen und weniger um Minderheitenrechte kümmern soll. Sie fragen sich unter anderem, wie wichtig eine Pride-Parade sei, wenn gleichzeitig hunderttausende Menschen in Armut leben. „Gerade in der Linken erleben wir in den letzten Jahren eine Debatte, die Identitätspolitik gern gegen die sozialen Fragen ausspielt», schreibt der SPÖ-Parlamentsabgeordnete Mario Lindner, Bundesvorsitzender der „Sozialdemokratie Homosexualität» (SoHo Österreich) und einer der Initiatoren des Manifests.
Laut Lindner werde Linken und Progressiven der Vorwurf gemacht, sich viel zu lang für «Orchideenthemen» wie queere Rechte, Feminismus und Antirassismus eingesetzt zu haben. Die identitätspolitische Linke hätte Minderheiten bedient und deren Interessen vor die Interessen der Mehrheit gestellt – und damit diese Mehrheiten verloren. «Der Wahlsieg Trumps wird für diese These genauso als Beweis angeführt, wie der Brexit und viele andere Phänomene des Rechtsrucks», schreibt Lindner. Die identitätspolitische Linke soll die «normalen» Menschen in die Arme von Rechten und Autoritären getrieben haben, weil sie sich lieber Orchideenthemen als „echten» Problemen gewidmet haben. Gegner*innen der identitätspolitischen Linken behaupten daher, dass sich die Politik wieder mehr auf soziale und wirtschaftliche Themen konzentrieren sollen. Dann würden sich die Probleme von Frauen, Queers oder Migrant*innen von alleine lösen.
Doch eine solche Haltung lehnen die Autor*innen des Manifests ab. Beide Themen – Soziales und Identität – hängen ihrer Ansicht nach untrennbar zusammen. «Die Idee eines Auseinanderdividierens gesellschaftlicher Kämpfe, die Idee einer Priorisierung, die manche Forderungen als wichtig und andere als unwichtig einstuft, ist in eine Sackgasse gelaufen», so Lindner. Es müsse klar sein, dass auch schlecht bezahlte Schwule am Bau arbeiten und Transfrauen mit Fluchterfahrung in Krankenhäusern tätig seien. Sie alle haben nicht nur das Recht auf einen guten Lohn und gerechte Arbeitsbedingungen, sondern auch darauf, nicht diskriminiert und gesellschaftlich abgesichert zu werden. Der Gegensatz zwischen der vermeintlich «weissen, heterosexuellen, männlichen Mehrheit» und den «Randgruppen» sei laut Lindner «konstruiert und verschleiert nur die echten Probleme unserer Gesellschaft, die in Wahrheit alle von uns betreffen.»
Nach Ansicht des Politikers reiche es aber nicht aus, den Mythos der Orchideenthemen nur einseitig zu überwinden. «Es muss klar sein, dass auch jene Vereine, Initiativen und Aktivist*innen, die für Diversität kämpfen – die Proponent*innen der Identitätspolitik –, über den Tellerrand ihrer eigenen Communities hinausschauen und grössere gesellschaftliche Fragen angehen», fordert der Politiker. Es reiche nicht aus, dass sich feministische Bewegungen oder die LGBTIQ-Community oder migrantische Organisationen nur auf ihre eigenen Forderungen konzentrieren.
Laut Lindner müssen auch Pride-Paraden Umverteilung einfordern – «und auch feministische oder migrantische Proteste werden soziale Fortschritte ins Zentrum rücken müssen». Als Vorbild nennt er die „Lesbians and Gays Support the Miners“, die auch durch den Film «Pride» bekannt geworden seien. Es seien Vertreter*innen des queeren Grossbritanniens gewesen, «die sich im Widerstand gegen Margaret Thatchers radikale Politik der Spaltung an die Seite der Minenarbeiter und ihrer Familien stellten und Solidarität über ihre eigenen Forderungen hinaus vorlebten», heisst es in dem Buch. Und gleichzeitig seien jene Minenarbeiter und ihre Gewerkschaften an der Spitze der Londoner Pride-Demonstrationen marschiert. Lindner: «Sie haben solidarische Politik verstanden, so wie wir sie heute verstehen müssen.»
In dem Buch «Radikale Solidarität» beleuchten SPÖ-Politiker*innen sowie linke, queere und feministische Aktivisti*innen und Expert*innen die unterschiedlichen Diskriminierungsmechanismen und die Notwendigkeit des gemeinschaftlichen Zusammenhalts aus verschiedenen Blickwinkeln. Die Erlöse des Buches kommen dem in Wien ansässigen Verein «Queer Base – Welcome and Support for LGBTIQ Refugees» zugute.
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