Queer ist hier kein Randprogramm mehr: Diese Filme begeisterten in Cannes
Kristen Stewarts Regiedebüt, ein «Brokeback Monutain»-Vergleich und ein gepiercter Penis.
Bei den Filmfestspielen von Cannes gab es so viele Filme mit LGBTIQ-Inhalten, dass unser Autor kaum Zeit hatte, alle Filme zu sichten. Hier seine Highlights.
Die 78. Internationalen Filmfestspiele von Cannes zeigen, wie selbstverständlich queeres Kino heute auf den grossen Leinwänden angekommen ist. Während man früher dort queere Filme oft mit der Lupe suchen musste, gibt es seit einigen Jahren immer wieder jede Menge LGBTIQ-Geschichten gibt es seit einigen Jahren immer wieder jede Menge LGBTIQ-Geschichten bei dem traditionsreichen Festival rund um die Croisette zu entdecken.
La petite dernière – The Little Sister
Zum vierten Mal stand die Schauspielerin Hafsia Herzi, die 2008 für «Couscous mit Fisch» den renommierten César gewann, als Regisseurin vor der Kamera. Dieses Mal hat sich die Französin den autobiografischen Roman «Die jüngste Tochter» von Fatima Daas vorgenommen, der 2021 den Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt erhielt.
Herzis Adaption erzählt von der 17-jährigen Fatima, Tochter algerischer Eltern, die mit dem Ende der Schulzeit und dem Beginn ihres Studiums in Paris ihre Queerness auszuloten und zu leben beginnt, aber im familiär-religiösen Umfeld noch nicht bereit ist zu einem Coming-out. Der dichte, emotional intensive Film begeistert mit viel Feingefühl der heterosexuellen Regisseurin, und gerade die Szenen, in denen Fatima nicht nur die Liebe, sondern vor allem auch ihre queere Wahlfamilie und damit eine ungeahnte Ausgelassenheit findet, berühren sehr.
Verdient gab es in Cannes dafür die vor 15 Jahren ins Leben gerufene Queer Palm – und die junge, beim Pride in Paris entdeckte Hauptdarstellerin Nadia Melliti wurde für ihre oft sehr nach innen gewendete Performance von der der Wettbewerbs-Jury um Juliette Binoche als Beste Darstellerin geehrt.
The History of Sound
Nicht immer, aber immer wieder erzählt der schwule, südafrikanische Regisseur Oliver Hermanus («Moffie») queere Geschichten, und erstmals hat er es damit nun in den Wettbewerb in Cannes geschafft. «The History of Sound» erzählt von der Liebe zweier Männer, die sich 1917 am Konservatorium in Boston begegnen. Lionel (Paul Mescal), ein Farmersohn aus Kentucky, und David (Josh O’Connor), Waise aus gutem Hause und in England ausgebildet, finden über die Musik zueinander, doch der Erste Weltkrieg reisst sie bald wieder auseinander. Ein paar Jahre später kommen die beiden wieder zusammen, für einen Exkursion in Maine, um die Volkslieder und Balladen der ländlichen Bevölkerung aufzuzeichnen und für die Zukunft bewahren. Ihr Glück zwischen rauen Zeltnächten und Liederabenden bei Kerzenlicht dauert nur einen Winter, doch Lionel wird es noch Jahre später in seinem Herzen tragen.
Anders als es das historische Setting vermuten lässt, ist «The History of Sound» kein Film über unterdrückte Gefühle, soziale Zwänge oder Scham. Nicht dass diese Faktoren nicht mit hineinspielen würden in die Beziehung der beiden Protagonisten, doch Hermanus konzentriert sich lieber auf ihre tief empfundenen Gefühle (in der Einsam- genauso wie in der Zweisamkeit), die O’Connor und vor allem Mescal mit meisterlicher Nuanciertheit greifbar machen. An der Croisette konnte nicht jeder mit so viel Zurückhaltung etwas anfangen, und der allzu naheliegende Vergleich mit «Brokeback Mountain» tut dem Film sicherlich keinen Gefallen. Selbst Mescal sprach sich dagegen aus (MANNSCHAFT berichtete). Doch wer sich einliess nicht zuletzt auf die musikalische Kraft des Films, konnte gar nicht anders als tief berührt sein.
Enzo
Schon die Entstehungsgeschichte von «Enzo» ist aussergewöhnlich. Eigentlich ein Projekt des Regisseurs Laurent Cantet übernahm nach dessen plötzlichen Krebstods kurz vor Drehbeginn sein guter Freund und langjähriger Mitstreiter Robin Campillo die Regie. Die beiden Filmemacher verbindet eine Vorliebe für genaues Beobachten und sensibles, wahrhaftiges Erzählen. Doch die Geschichte des titelgebenden Jugendlichen (stark: Eloy Pohu), der aus Protest gegen die gutbürgerlichen Eltern auf eine Baustelle anheuert und sich dort in einen Maurer und Soldaten aus der Ukraine verliebt, gewinnt nun durch das Zutun des schwulen «120 BPM»-Regisseurs noch eine ganz besondere Intensität in der Inszenierung des Begehrens.
The Chronology of Water
Lange Jahre hat Kristen Stewart daran gearbeitet, ihr Regiedebüt Wirklichkeit werden zu lassen, nun ist «The Chronology of Water» endlich da. Und nicht zuletzt dank Hauptdarstellerin Imogen Poots ist die Verfilmung der Autobiografie der bisexuellen Schriftstellerin Lidia Yuknavitch ein emotional aufwühlender und mitreissender Film geworden. Nicht dass die Geschichte einer jungen Frau, die das Trauma jahrelangen familiären Missbrauchs mit Drogen, Sex und Schreiben gleichermassen zu meistern versucht, nicht ihre Schwächen hätte. Stewart überfrachtet ihren Film an vielen Stellen mit so vielen Ideen, dass er immer wieder ins Prätentiöse kippt. Doch insgesamt erweist sich der zur LGBTIQ-Ikone gewordene Ex-Teeniestar als vielversprechende Filmmacherin, die visuell wie emotional nicht auf Nummer sich geht.
Pillion
Zu den vielen spannenden Erstlings-Regisseur*innen, die in Cannes dieses Jahr ihre Arbeiten präsentierten, gehört auch der queere Brite Harry Lighton. Sein «Pillion» ist eine Verfilmung des Romans «Box Hill», in dem Autor Adam Mars-Jones von einer sadomasochistischen Beziehung im Biker-Milieu erzählte. Lighton hat den Stoff ein wenig verändert und an Stellen entschärft (was nicht heisst, dass es nicht trotzdem einen gepiercten Penis zu sehen gäbe) und in ein charmant-humorvolles Beziehungsdrama mit RomCom-Einschlag verwandelt. Alexander Skarsgård als Dom in Leder-Monitur und «Harry Potter»-Star Harry Melling als Sub sind eine Wucht.
Mehr: Offen oder nicht so offen queer: Skandalfilme, die (einst) empörten (MANNSCHAFT berichtete)
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