Vielfalt bedeutet eben auch Vielfalt der Generationen

Die besonderen Lebenslagen und -leistungen queerer Senior*innen sind im Bewusstsein der queeren Community unterrepräsentiert

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Queer im Alter: Es wäre notwendig, die Belange älterer LGBTIQ im Rest der Community in den Fokus zu rücken und das Thema positiv zu besetzen. In einem auf Jugendlichkeit getrimmten Umfeld keine leichte Aufgabe. Doch Vielfalt bedeutet eben auch Vielfalt der Generationen, schreibt Stefan Mielchen in seinem Samstagskommentar*:

Vor kurzem habe ich an einer der traurigsten Beisetzungen meines Lebens teilgenommen. Nicht weil jemand zu Grabe getragen wurde, der mir über die Massen nahegestanden hätte. Es handelte sich vielmehr um eine ordnungsbehördliche Bestattung, wie ein Armenbegräbnis im Amtsdeutsch heisst. Da verlässt ein schwuler Mann nach 76 Jahren diese Erde, dachte ich, und dann sind da ganze drei Menschen, die ihm das letzte Geleit geben. Ein Bekannter, ein Verwandter, ein Freund.

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Seine letzten Monate hatte der Verstorbene in einem Hospiz verbracht. Lungenkrebs, dazu ein schwaches Herz und Diabetes. Er wurde rund um die Uhr beatmet, aber immerhin blieb Corona aussen vor. Man kümmerte sich sehr liebevoll um ihn. Das Hospiz, ein Haus der Caritas, hatte er mit Glück gefunden. Und das, obwohl er immer auf die Kirche schimpfte, die katholische zumal. Dass er homosexuell war, hat er dort niemandem erzählt.

Wie schon sein ganzes Leben ein einziges Versteckspiel war. Mit der Mutter hatte er nie über sein Schwulsein gesprochen, der Stiefvater lehnte ihn ohnehin ab. Er verliess die Familie und das Land, suchte sein Glück in Übersee und führte doch ein Leben im Verborgenen. Nicht ohne Spass, aber fast immer ohne feste Bindung. Schliesslich kehrte er nach Deutschland zurück, blieb entwurzelt, hatte kaum Kontakte. Zu gerne hätte er in einem schwulen Altenwohnprojekt eine Bleibe gefunden. Die Warteliste war zu lang, er gab auf.

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Ein heimatloses Leben. Schambehaftet, mit der Erfahrung der Strafbarkeit des eigenen So-Seins im Rücken. Dem Gefühl, von den nächsten Verwandten nicht gewollt zu sein. Labilere Charaktere wären daran vielleicht zerbrochen. Werner, nennen wir den Verstorbenen an dieser Stelle so, hatte jedoch seinen Stolz. Das war vielleicht sein Überlebenskonzept. Von meinen Besuchen im Hospiz blieb mir dennoch das Bild eines einsamen Mannes im Kopf, der sich nicht mal auf den letzten Metern traute, seine ureigensten Bedürfnisse zu artikulieren. Etwa, dass er nicht von einer Frau gewaschen werden wollte, sollte er es alleine nicht mehr schaffen. Auch hier war die Sorge vor Ausgrenzung stärker.

Queer im Alter – noch viel zu tun «Die Angebote der offenen Altenhilfe als auch die ambulanten und stationären Angebote der Altenpflege sind weitestgehend nicht oder nicht ausreichend für die Lebenswelten schwuler Männer sensibilisiert», klagt die Bundesinitiative schwuler Senioren (BISS) schon seit langem. Gleiches gilt auch für Lesben oder trans* Menschen. Es fehlt an kultursensiblen Angeboten, an Einrichtungen, die ein diskriminierungsfreies Umfeld für LGBTI-Personen bieten und die Angst vor dem Alten- oder Pflegeheim nehmen können.

Dabei wären professionell vorbereitete Einrichtungen der Altenhilfe gerade für Menschen wie Werner und LSBTI seiner Generation besonders wichtig. Denn sie sind häufig mit ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität unsichtbar geblieben, ohne entsprechendes Selbstbewusstsein, leben nicht selten zurückgezogen, ohne grosses Netzwerk, von Ängsten geprägt. Eine wirklich würdige, an den individuellen Bedürfnissen orientierte Betreuung und Pflege ist so kaum denkbar. Erst allmählich gibt es hierfür erste Modellprojekte in Deutschland.

Musterkonzepte auch abseits der Metropolen müssen her

Deren Ziel ist es, die Einrichtungen vielfaltssensibel, inklusiv und offen für Alle zu gestalten. Doch der Weg dahin ist lang, und die wenigen bestehenden Angebote können dem vorhandenen Bedarf nicht ansatzweise gerecht werden. Musterkonzepte auch abseits der Metropolen müssen her, Aus- und Fortbildung für das Thema geöffnet, Pfleger*innen entsprechend sensibilisiert werden (MANNSCHAFT berichtete). Das alles in einem Bereich, der ohnehin und nicht nur dank Corona mit schwersten Belastungen und Personalmangel zu kämpfen hat und unter enormem Kostendruck steht.

In Deutschland leben schätzungsweise mehr als eine Millionen LGBTI über 65 Jahre. Die sind nicht alle krank oder pflegebedürftig. Doch ihre Zahl wächst weiter; die geburtenstarken Jahrgänge kommen erst noch. Dass sich die Verbände wie BISS oder Lesben und Alter politisch der Interessen dieser Senior*innen annehmen, ist wichtig und gut. Nicht minder notwendig wäre es, die Belange alter Menschen auch im Rest der Community in den Fokus zu rücken und das Thema positiv zu besetzen. In einem auf Jugendlichkeit getrimmten Umfeld keine leichte Aufgabe. Doch Vielfalt bedeutet eben auch Vielfalt der Generationen.

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Mit der Initiative «CSD ist für Alte da» (MANNSCHAFT berichtete) ist ein erster Schritt zur breiteren Bewusstseinsbildung getan, und natürlich auch zur besseren Teilhabe von Senior*innen am höchsten Feiertag der Bewegung. Doch der ist nur einmal im Jahr, was zählt ist der Alltag. Da sind noch viele weitere Schritte zu gehen.

Vorerst bleiben die besonderen Lebenslagen, aber auch die Lebensleistungen queerer Senior*innen im Bewusstsein der queeren Community unterrepräsentiert. Dies zu ändern sind die Jüngeren den Älteren schuldig, von denen nicht wenige die Freiheiten erkämpft haben, die sie heute geniessen. In einem Jahr, in dem der CSD-Betrieb hierzulande weitgehend ruht, ist vielleicht Raum, darüber einmal nachzudenken. Das würde auch Werner gefallen, den ich bei meinem letzten Besuch im Hospiz fragte, ob er noch einen Wunsch habe.  «Dass wir mehr Menschlichkeit lernen», hat er mir geantwortet.  «Mehr Wir, weniger Ich.»

*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

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