Pornosucht – vor allem ein Problem bei Jüngeren
Was tun, wenn der Konsum von Pornografie zwanghaft und zerstörerisch wird?
Pornografie ist überall im Netz verfügbar und wird genutzt: als Stimulanz, als Flucht aus dem Alltag. Aber was, wenn der Konsum ausser Kontrolle gerät und nicht mehr stimuliert, sondern zerstört? MANNSCHAFT+ sprach mit den Medizinautor*innen Julia Dernbach und Thomas Hofmann vom ehrenamtlichen und unabhängigen Portal Arztphobie.com über das Reizthema.
Sie haben gerade auf «Arztphobie» eine Unterrubrik zum Thema Pornosucht gestartet – wo Sie neben Tipps gegen die Pornosucht und professionellen Hilfsangeboten vor allem «höchste Diskretion» versprechen. Wieso ist Diskretion wichtig und wieso kann es von Vorteil sein, eine Therapie übers Internet zu machen, statt zum Arzt bzw. zur Ärztin in die Praxis zu gehen? Arztbesuche stellen immer eine gewisse Ausnahmesituation dar. Alles, was mit unserem eigenen Körper zu tun hat, ist gesellschaftlich nach wie vor ein gewisses Tabuthema. Manche Bereiche mehr, manche weniger. Nach dem Motto: «Was sollen denn die Leute denken?» Der Mensch hat zu funktionieren, Gebrechen jeder Art – ob jetzt psychisch oder physisch – sind ein Zeichen von Schwäche. Wer zum Arzt oder zur Ärztin geht, macht diese Unperfektheit öffentlich. Er*sie schämt sich für seine*ihre Probleme und vergisst dabei vollkommen, dass wir alle an irgendeinem Punkt im Leben einmal ärztliche Hilfe benötigen. Diese Scham hält viele Menschen von einem eigentlich notwendigen Arztbesuch ab. Sie schieben Probleme vor sich her. Kleinere Beschwerden, die im Anfangsstadium noch ganz einfach zu behandeln wären, können sich unbehandelt zu einer Gefahr entwickeln.
Beim virtuellen Besuch in der Arztpraxis fällt dieser Schamfaktor gänzlich weg. Patient*innen geniessen während des Gesprächs mit den Online-Expert*innen die Sicherheit und Vertrautheit ihrer eigenen vier Wände. So fällt es ihnen leichter, sich zu öffnen. Das soziale Umfeld bekommt vom Gang zum Arzt nichts mit. Höchste Diskretion. Besonders in kleinteiligen ländlichen Gegenden ist das sicher ein nicht zu unterschätzender Vorteil.
Im Fall einer Pornosucht kommt noch dazu, dass wir es hier von Haus aus mit einem gesellschaftlichen Reizthema zu tun haben. Wer gibt denn schon offen zu, Pornos zu konsumieren? Und dann auch noch süchtig danach sein? Ein vermeintlicher Skandal! (MANNSCHAFT berichtete über Adrineh Simonian, die von der Opernbühne ins Pornofilmgeschäft wechselte.)
Pornos sind als Phänomen nicht neu. Aber nie zuvor waren sie quasi auf Knopfdruck auf jedem Smartphone abrufbar. In unendlicher Menge. Muss diese Flut von Sexfilmen zwangsläufig zur Sucht führen – oder kann sie auch positiv bewertet werden? (Jeder kann sich jederzeit zu jeglicher sexuellen Praktik informieren und entsprechende Filme anschauen.) Das schiere Vorhandensein einer Sache führt niemals zwangsläufig zur Sucht. Ob das jetzt Alkohol ist oder jede andere Art von Droge, ob es sich um Süssigkeiten handelt oder um Videospiele. All diese Dinge haben ja einen gewissen eskapistischen Mehrwert für Menschen. Die kurzzeitige Flucht aus dem Alltag, ein Mittel zur Psychohygiene. Oder im Fall von Pornografie auch das Entdecken neuer Reize. Davon kann man natürlich auch etwas in sein eigenes Sexualleben mitnehmen und so für neue Impulse sorgen.
Problematisch wird es nur dann, wenn Menschen die Kontrolle verlieren. Wenn sie also abhängig werden. Aus Spass an der Sache wird zwanghaftes Verhalten. Betroffene erleben in ihrem sozialen Leben Einschränkungen aufgrund der Abhängigkeit.
Trifft Pornosucht eine bestimmte Altersgruppe mehr als andere? Pornosucht tritt bisher vor allem in der jüngeren Generation auf. Also bei all jenen Menschen, die besonders internetaffin sind. Der Grund ist klar: Der versierte Umgang mit neuen Technologien. Studien haben auch gezeigt, dass Pornografie bei jüngeren Nutzern stärkere Reaktionen im Belohnungszentrum auslöst als bei älteren Menschen.
Allerdings holen die älteren Generationen in diesem Bereich auf – und erschliessen sich ebenfalls Zugang zu InternetPornografie. Deshalb steigt auch in diesen Altersgruppen der Anteil an Pornosüchtigen.
Betrifft Pornosucht eigentlich nur Männer oder können Frauen auch pornosüchtig werden bzw. sein? Wo ist da der Unterschied im Suchtverlauf? Der überwiegende Teil der Pornosüchtigen – rund 75 Prozent – sind Männer. Sie reagieren bewiesenermassen deutlich stärker auf visuelle Reize als Frauen. Und die sind bei Pornos nun mal dominant. Grundsätzlich können aber auch Frauen süchtig nach Pornos werden. Studien gehen aktuell davon aus, dass fünf Prozent der deutschen Männer und ein Prozent der deutschen Frauen porno- bzw. sexsüchtig sind.
Rein physiologisch besteht übrigens kein Unterschied zwischen Männern und Frauen, was den Pornokonsum angeht. Das Gehirn reagiert bei beiden Geschlechtern ident auf die Reize. Was die Inhalte betrifft, gibt es schon Differenzen. Und die sind dann doch etwas überraschend. Pornhub, eines der grössten Portale für Online-Pornografie, veröffentlicht jedes Jahr unzählige Nutzer*innenstatistiken. Darunter einen Vergleich zwischen Männer und Frauen. Zwar sind die Top-15-Suchbegriffe bei beiden Geschlechtern nahezu identisch – wenn auch von der Abstufung etwas anders verteilt. Im Vergleich zu Männern suchten Frauen im Jahr 2021 aber etwa um 71 Prozent öfter nach Videos aus der Kategorie «Gangbang» und 63 Prozent öfter nach Clips aus der Kategorie «Double Penetration». Beides eher die härtere Gangart. Die Mär, dass Frauen immer nur besonders zärtliche Pornos konsumieren würden, ist also offiziell widerlegt.
Die Mär, dass Frauen immer nur besonders zärtliche Pornos konsumieren würden, ist also offiziell widerlegt
Wer meldet sich eigentlich bei Ihnen – die Süchtigen oder deren familiäres Umfeld bzw. Freunde und Lebenspartner*innen, die sich Sorgen machen? Bisher haben uns eher Mails direkt von Betroffenen erreicht – besonders bei allgemeineren Themen wir Angststörungen oder Arztphobie. (MANNSCHAFT berichtete übe queere Pornos aus der Schweiz als «fröhliches Happening».)
Hat Corona und haben die Lockdowns das Problem Pornosucht verstärkt oder beeinflusst? Corona und die Lockdowns hatten auf jeden Fall einen grossen Einfluss auf die Verbreitung von Pornosucht. Wenn wir draussen in der Gesellschaft unterwegs sind, fungiert diese wie ein Korrektiv. Sie zwingt uns dazu, unsere Begierden und Impulse zu unterdrücken bzw. sie zu managen. Durch die soziale Isolation fällt dieses Korrektiv völlig weg. Die Lockdowns boten die Möglichkeit, sich jederzeit seinen Süchten hinzugeben. Das ist ja nicht nur auf die Pornosucht beschränkt, dasselbe liesse sich bis zu einem gewissen Grad auch über den Alkoholismus sagen. Daydrinking im Büro – keine gute Idee. Daydrinking im Home Office – bekommt ja eh keiner mit.
So gesehen liegt es nahe, dass alleinlebende Menschen eher pornosüchtig werden als jene in Partnerschaften. Gänzlich frei von dieser Sucht sind Letztere aber auch nicht. Es passiert gar nicht so selten, dass Therapeut*innen Pornosüchtige behandeln müssen, die in einer oft langjährigen Beziehung leben. Konkrete Daten zu liefern ist allerdings schwierig. Die Weltgesundheitsorganisation führt Pornosucht bisher nämlich nicht als offizielle Sucht. Seit 2019 ist aber zumindest zwanghaftes Sexualverhalten, zu dem auch der übermässige Konsum von Pornografie zählt, als psychische Störung anerkannt. Ein Schritt in die richtige Richtung.
Was externe Faktoren für das Entstehen einer Pornosucht angeht, unterscheidet diese sich nicht gross von anderen Süchten. Ohne jetzt ins Detail zu gehen, sind es meist persönliche Traumata, die eine negative Dynamik in Gang setzen. (MANNSCHAFT berichtete über «Femboys» und «Trans» als neuesten Trend im Bereich LGBTIQ-Pornografie.)
Viele schwule Männer schauen nicht nur Pornos, sondern träumen davon, selbst in Pornos mitzumachen, Pornostar zu sein. Wie wirkt sich das aufs Thema «Sucht» aus? Das hat meiner Meinung nach keinen grossen Einfluss. Beim Entstehen einer Sucht spielen ja viele unterschiedliche Faktoren eine Rolle. Faktoren, die alle Menschen gleich betreffen. Und dabei geht es immer um einen gewissen Kontrollverlust. Wer seine Bedürfnisse und Begierden gut managet, der behält die Kontrolle. Bei der Porno- bzw. Sexsucht steht die zwanghafte Befriedigung der eigenen körperlichen Bedürfnisse im Mittelpunkt. Der Wunsch, selbst aktiv an einer Pornoproduktion teilzunehmen, spielt hier meines Erachtens nach keine Rolle.
Sie haben auch einen Button auf Ihrer Seite zur «Selbsthilfe». Was empfehlen Sie denjenigen, die Sorge haben, pornosüchtig zu sein? Mit der Pornosucht verhält es sich nicht anders als mit anderen Süchten. Unsere Empfehlung: Suchen Sie das Gespräch mit eine*r Expert*in. Vertrauen Sie sich eine*r Therapeut*in an und erarbeiten Sie zunächst gemeinsam einen Status quo. Bin ich tatsächlich pornosüchtig oder spielt sich das alles noch in einem vertretbaren Rahmen ab? Habe ich noch die Kontrolle über meine Triebe oder kontrollieren die Pornos mich?
Wer den Verdacht hat, pornosüchtig zu sein, kann sich ausserdem Zeitlimits für den Pornokonsum setzen
Im Alltag können sich Betroffene etwa mit technischen Tricks helfen. Internetseiten lassen sich ohne grossen Aufwand blockieren. Wer den Verdacht hat, pornosüchtig zu sein, kann sich ausserdem Zeitlimits für den Pornokonsum setzen und versuchen, diese schrittweise zu senken.
Sind LGBTIQ anders anfällig für Pornosucht als Heteros? Falls ja, woran liegt das, Ihrer Meinung nach? Und haben Lesben bzw. trans Personen andere Formen von Pornosucht als schwule Männer? Unterschiede zwischen den verschiedenen sexuellen Orientierungen lassen sich in Hinblick auf Pornosucht eigentlich nicht ausmachen. Von einer «anderen Anfälligkeit» würde ich deshalb nicht sprechen. In der LGBTIQ-Community spielen Pornos allerdings zusätzlich eine etwas andere Rolle. Dabei geht es um ein Sichtbarmachen. LGBTIQ-Menschen werden in vielen gesellschaftlichen Bereichen ja weiterhin ausgeklammert. Sie existieren nicht dezidiert, werden nicht direkt angesprochen. Die Pornografie ist da viel offener. Da gibt es ja für jede Vorliebe die passenden Clips. Alles ist möglich. Viele LBGTIQ-Menschen geben an, dass sie sich durch Pornos in ihrem Wesen akzeptiert und anerkannt fühlen. Das alles ist aber bitte natürlich nicht als schwarz oder weiss zu verstehen und soll keine Verallgemeinerung darstellen. Es gibt auch genug LGBTIQ-Menschen, die mit Pornos so gar nichts anfangen können.
Kann man, wenn man einmal pornosüchtig geworden ist, zurückfinden in eine «normale» zwischenmenschliche Beziehung? Und was heisst heute überhaupt «normal»? Ist Porno das neue normal, wenn es um Sexualität geht? Zeigen uns Pornodarsteller*innen, was im Bereich Sex alles möglich und vielleicht auch erstrebenswert ist? Das Wort «normal» verwende ich im Zusammenhang mit Sexualität nur sehr ungern. Eigentlich überhaupt nicht. Solange alles konsensual abläuft und man sich im Rahmen der Gesetze bewegt – have fun! Und natürlich nutzen viele Menschen Pornos, um sich Inspiration fürs eigene Liebesleben zu holen. Singles und Paare gleichermassen. Es geht eben immer darum, wie man mit einem bestimmten Reiz umgeht.
Wie bereits mehrmals erwähnt, ist der springende Punkt bei jeder Sucht der Kontrollverlust. Dazu kommt der spürbar negative Einfluss auf das Sozialleben. Das Zurückfinden zu einem gesunden Umgang mit dem Suchtauslöser ist schwierig, aber nicht unmöglich. Die Psychotherapie kennt mittlerweile ein breites Portfolio an Ansätzen, die je nach Ausformung der Sucht zum Erfolg und zurück in eine gewisse «Normalität» führen können.
Sie bieten auf Ihrer Seite einen Test an: «Bin ich pornosüchtig?» Wie haben Sie den konzipiert und was ist dabei wichtig zu wissen? Als Grundlage für unseren Test haben wir die typischen Symptome einer Porno- bzw. Sexsucht herangezogen, als Quellen dafür dienten uns diverse Artikel aus der US-amerikanischen wissenschaftlichen Community. Dort ist das Thema deutlich besser erforscht als bei uns hier im D-A-CH-Raum. Der Test dient übrigens nur als grobe Richtlinie, die Intensität und die Ausformung der Sucht sind klarerweise von Person zu Person verschieden. (MANNSCHAFT berichtete darüber, wie man Pornosucht erkennen kann.)
Wie sehen die die Zukunft des Pornos als Alltagsphänomen und den künftigen Umgang damit? Welche Veränderungen prognostizieren Sie? Die Pornobranche fungierte immer wieder als Innovationstreiber. Heim-Videorekorder wurden zum Beispiel erst so richtig beliebt, als die Pornoindustrie Anfang der 1980er-Jahre damit begann, ihre Filme auf Kassetten anzubieten. Davor waren die Geräte in lediglich ein Prozent der US-amerikanischen Haushalte vertreten. Der nächste grosse Push werden VR-Brillen sein. Damit lassen sich (speziell für dieses Format produzierte) Pornos aus dem Blickwinkel eines der Protagonisten betrachten.
Was den Umgang mit Pornos betrifft, ist eine Prognose schwierig. Das ist eine Fragestellung, die nur im gesamtgesellschaftlichen Kontext beantwortet werden kann. Zwar sind an allen Ecken Tendenzen einer neuen Prüderie und einer Rückkehr erzkonservativer Standpunkte zu erkennen – denken wir nur an die Aufhebung der landesweiten Legalität von Abtreibungen in den USA – Pornos werden aber unter gar keinen Umständen jemals wieder verschwinden. Sie sind ein fixer Bestandteil unserer Gesellschaft und werden das auch immer bleiben.
Pornos werden unter gar keinen Umständen jemals wieder verschwinden
Wenn man sich bei Ihnen meldet, wer berät einen dann? Die E-Mails aller Personen, die sich bei uns melden, werden an uns beide weitergeleitet. Wir sind keine ausgebildeten Mediziner, weshalb wir auch keine dezidierte Beratung anbieten können. Was wir machen: Wir empfehlen entweder eine fortführende Ärztesuche oder den Kontakt mit verschiedenen Online-Plattformen von Psycholog*innen.
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