Pink Summits – Der Gipfel der queeren Sichtbarkeit
In Kirgistan wurde Dastan Kasmamytov aufgrund seines Aktivismus zur Zielscheibe. Nun macht er Queerness auf über tausenden Metern über Meer sichtbar. Mit seinem Projekt Pink Summits will er die Regenbogenfahne auf dem höchsten Punkt jedes Kontinents flattern lassen.
Beim Pik Putin muss nicht lange nach Ironie gesucht werden. Der knapp 4500 Meter hohe Berg in Kirgistan wurde 2011 auf Vorschlag des damaligen Präsidenten Atambajew nach Wladimir Putin benannt. Offiziell gab es bis dahin keinen Namen, im Volksmund sei der Berg jedoch als «schlechte Ziege» bekannt gewesen, sagt der kirgisische Bergsteiger Dastan Kasmamytov mit einem süffisanten Lächeln. Die umgangssprachliche Bezeichnung war keine weitsichtige Vorahnung auf den neuen Namensgeber, sondern eine Andeutung auf das unberechenbare Terrain dieses unwirtlichen Berges. Nichtexistierende Routenbeschreibungen, lockere Steine und somit die Gefahr von Steinschlag kosteten den 31-jährigen Dastan und sein Team viel Zeit und Anstrengung auf ihrem Weg zum Gipfel. An Symbolik fehlte es also nicht, als die Bergsteiger oben auf dem Pik Putin angekommen eine Regenbogen- und eine ukrainische Fahne im Wind flattern liessen.
Kirgistan: ein konservatives Land Wie die staatlich initiierte Namensehrung des Pik Putin vermuten lässt, pflegt Kirgistan gute Beziehungen mit Russland, das neben den Nachbarn China und Kasachstan zu den engsten Wirtschaftspartnern des Landes zählt. Homosexuelle Handlungen sind seit 1998 zwar erlaubt, in der islamisch geprägten Gesellschaft jedoch stark tabuisiert. Die ehemalige Sowjetrepublik anerkennt keine gleichgeschlechtlichen Beziehungen, seit 2016 gilt in der Verfassung ein Verbot der Ehe für alle. 2014 nahm das kirgisische Parlament gar das russische Propagandaverbot zum Vorbild und stellte ein Gesetz vor, das positive Inhalte über «nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen» unter Strafe stellen wollte. Aufgrund internationalen Drucks wurde der Gesetzesentwurf mehrmals verschoben und schliesslich versenkt.
Es ist nicht das erste Mal, dass am Pik Putin eine ukrainische Flagge zu sehen ist. Nach der russischen Invasion der Ukraine hatten Unbekannte im Frühling eine Fahne am Gipfel angebracht, die jedoch kurz darauf vom kirgisischen Bergsteigerverband abmontiert und mit einer kirgisischen ersetzt wurde. Gemäss Medienmitteilung, die Dastan über die Besteigung des Pik Putin Ende Oktober verschickte, sind die neuen Fahnen nun an einem schwer zugänglichen Felsen angebracht und nicht mehr so leicht zu entfernen. Dastan ist Aktivist und Initiator der Kampagne Pink Summits. Mit Aktionen wie am Pik Putin will er LGBTIQ-Organisationen unterstützen und die Sichtbarkeit der Community erhöhen.
«Du bist eine Schwuchtel?» Seine Leidenschaft fürs Bergsteigen entdeckte Dastan als Jugendlicher in einer Kletterhalle in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek – für ihn eine willkommene Abwechslung zum Schulsport. «Ich hasste Fussball», sagt er lachend in unserem Videocall. «Die Atmosphäre beim Klettern ist sehr entspannt und es spielt keine Rolle, ob du ein Mann oder eine Frau bist.»
Dastan studierte an der American University in Kirgistan und am Pierce College in den USA. Als er 2011 nach Bischkek zurückkehrte, outete er sich bei seinen Eltern. «Du bist eine Schwuchtel?», wollte seine Mutter von ihm wissen. «Ich konnte nicht Nein sagen, ich begann einfach zu weinen», erinnert sich Dastan.
Die Eltern waren überzeugt: Der liberale Westen war schuld. Doch im staatlichen Psychiatriezentrum blitzte seine Mutter ab. Homosexualität sei keine Krankheit, sagte man ihr dort. Also brachte sie ihren Sohn ins Hochgebirge zu einem Schamanen, der ihm die Veranlagung austreiben sollte. Dort musste Dastan im tiefsten Winter arabische Gebete bei Kerzenlicht rezitieren. «Es war surreal. Der Raum war eiskalt und voll mit anderen Menschen, die geheilt werden wollten», erinnert er sich. Alkoholsüchtige im Entzug hätten geschrien und sich gekrümmt, als wären sie vom Teufel besessen. «Ich war ziemlich eingeschüchtert und hatte Angst. Ich fühlte mich wie in einer Sekte.»
Zuhause hängte seine Mutter ein Poster des Schamanen «zum Schutz» in seinem Zimmer auf, frühmorgens um sechs musste er jeweils «heiliges Wasser» trinken, das sie in einer Moschee gekauft hatte.
Am Pranger der Gesellschaft Ein paar Jahre später war Dastans Sexualität nicht nur seinen Eltern bekannt, sondern dem ganzen Land. 2014 erpresste die kirgisische Polizei ihn und seinen damaligen Freund und drohte mit einem öffentlichen Outing. Die bei den Behörden in Kirgistan nicht unübliche Praxis alarmierte internationale Menschenrechtsorganisationen und sorgte auch im Ausland für Schlagzeilen. Dastan beschloss die Flucht nach vorne und outete sich bei einer Pressekonferenz von Human Rights Watch als schwul – als erster Kirgise überhaupt. Die Sichtbarkeit hatte einen hohen Preis: Dastan wurde tätlich angegriffen, erhielt Hassnachrichten und wird seither in den sozialen Medien beschimpft. Er gab der Homosexualität in Kirgistan ein Gesicht und der Bevölkerung eine Zielscheibe. «Ich hatte einen Widerstand erwartet, rechnete jedoch nicht damit, dass er so gross sein würde», sagt er. «Man warf mir Volksverrat vor, dass ich kein richtiger Kirgise und mein Verhalten unmoralisch sei.»
In den Bergen fühle ich mich sicherer als unter Menschen
Die Berge als Kraftort Die Ablehnung der Eltern und der kirgisischen Gesellschaft hinterliessen ihre Spuren. Dastan zog sich zurück, wurde apathisch. Zeichen eines Burn-outs und einer Depression machten sich bemerkbar. Im Gebirge fand er einen Ort der Zuflucht. «Die Berge gaben mir Schutz – vor der Polizei, vor dem Staat. In den Bergen fühle ich mich sicherer als unter Menschen», erzählt er. Das Klettern veranlasste ihn zudem dazu, sich mit den eigenen Wurzeln auseinanderzusetzen. «Die Berge spielen eine wichtige Rolle in der Geschichte Kirgistans, schliesslich waren wir ein Volk von Bergnomad*innen.»
Mittlerweile haben Dastans Eltern die Homosexualität ihres Sohnes akzeptiert. «Meine Apathie und Probleme im Studium bekamen sie natürlich auch mit», sagt er. «Sie haben schliesslich realisiert, dass ich mich nicht ändern kann.» Für seinen Vater sei es immer noch schwierig, seine Mutter habe andere Eltern von Schwulen kennen gelernt. «Es hat ihr sehr geholfen, dass sie nicht die einzige Mutter eines schwulen Mannes ist.»
In seiner Heimat lernte Dastan Europäer kennen, die mit dem Fahrrad nach Kirgistan fuhren. Dabei fiel ihm auf, dass es sich dabei ausschliesslich um Leute aus westlichen Ländern handelte, die über gewisse Privilegien verfügten. «Ich hatte nie von einem Kirgisen gehört, der eine solch lange Strecke mit dem Fahrrad zurückgelegt hatte», sagt er. «Also beschloss ich, genau das zu tun, um die queere Sichtbarkeit zu erhöhen.» Während drei Monaten radelte Dastan von Kirgistan in seine neue Heimat nach Berlin, wo er sein Informatikstudium begann. Die Tour inspirierte ihn für sein nächstes Projekt: Auf den «Seven Summits» – die jeweils höchsten Berge jedes Kontinents – soll die Regenbogenfahne wehen. Pink Summits war geboren.
Neun Gipfel in neun Jahren Die Idee hinter Pink Summits ist simpel. Weht am höchsten Punkt jedes Erdteils eine Regenbogenfahne, wird in dieser Region etwas für LGBTIQ-Sichtbarkeit getan. Daneben organisieren Dastan und sein Team Events oder Aktionen wie diejenige am Pik Putin. Zu den Events gehören unter anderem Pride Hikes, Kletterworkshops mit der Community und Klettertouren. «Wer meinen Namen in kyrillischen Buchstaben bei Youtube eingibt, findet Berichte über mich, meistens mit homophoben Inhalten und Kommentaren», sagt Dastan. Um den Hass in Liebe umzuwandeln, will Pink Summits auf Gofundme.com für jeden negativen Kommentar einen bis fünf Euro sammeln. Vom Endbetrag sollen dann jeweils 50 % an LGBTIQ-Projekte in Russland und Zentralasien und 50 % an Pink Summits gehen.
Für die Besteigung der neun höchsten Gipfel aller sieben Kontinente hat sich Pink Summits neun Jahre Zeit gelassen. Neun Gipfel? Je nach Interpretation der Grenzen Europas und Australiens fallen unterschiedliche Berge in diese Kategorie, darunter der Mont Blanc und der Elbrus in Europa sowie der Kosciusko und der Puncak Jaya in Australien respektive Ozeanien. Heute ist unter Bergsteiger*innen allgemein akzeptiert, dass zu den Seven Summits neun Berge gehören.
Vom russischen Geheimdienst verhört Beim Start am Elbrus 2018 geriet Pink Summits – damals bestand das Team erst aus Dastan und Steffen, einem weiteren schwulen Bergsteiger – in eine brenzlige Situation. Der russische Geheimdienst hielt die beiden Männer an der Grenze fest und verhörte sie während sechs Stunden, unter anderem befragte er sie zu ihren Familien und zu ihrer sexuellen Orientierung. Der Vorfall bestärkte Dastan in seinem Ziel und machte die Besteigung des Elbrus zu einem besonders symbolträchtigen Erlebnis. «Es war ein überwältigender Moment auf dem Gipfel: Die Regenbogenfahne in einem der homophobsten Länder überhaupt hochzuheben», sagt er.
Die Seven Summits
Bis 2027 soll auf dem jeweils höchsten Berge jedes Kontinents eine Regenbogenfahne wehen. Projekt hier unterstützen
2018 Elbrus 5642m 2018 Kosciusko 2228m 2019 Kilimanjaro (Kibo) 5895m 2021 Mont Blanc 4810m 2023 Aconcagua 6961m 2024 Denali 6190m 2025 Puncak Jaya 4884m 2026 Vinson 4892m 2027 Everest 8848m
Die Erfahrung in Russland hat Dastan vorsichtiger gemacht. Die Besteigung des Pik Putins hatte bereits im Sommer 2022 stattgefunden, doch die Medienmitteilung verschickte er erst Ende Oktober, als er wieder zuhause in Berlin angekommen war. In Kirgistan wird er auch heute noch erkannt, acht Jahre nach dem öffentlichen Coming-out bei der Pressekonferenz von Human Rights Watch. «Kurz nach dem Pik Putin war ich beim Friseur und der meinte, mich von irgendwoher zu kennen», erzählt Dastan. In solchen Situationen versuche er jeweils, sein Gegenüber zu analysieren. «Muss ich mit einer negativen Reaktion oder mit Gewalt rechnen? Ich hatte Glück: Er war mir freundlich gesinnt.»
Sichtbarkeit auch in Schweizer Höhen Soweit ist knapp die Hälfte der neun Gipfel geschafft. Auf den Elbrus folgten der Kosciusko und der Kilimanjaro, nach einer Corona-bedingten Pause bestieg Pink Summits – mittlerweile aus einem siebenköpfigen Team bestehend – letztes Jahr den Mont Blanc. Für Dastan ebenfalls ein besonderer Moment, konnte er doch gemeinsam mit seinem Freund Christian auf dem Gipfel stehen. «Er ist ebenfalls Bergsteiger, wir lernten uns letztes Jahr kennen», sagt er. Neben Wetter, Höhe und Terrain ist die Planung der Bergtouren jeweils auch stark vom Land abhängig, in dem sie stattfinden. In der Schweiz gab es klar gekennzeichnete Routen und das Team konnte jeden Abend in einer Hütte übernachten. In anderen Ländern muss Pink Summits Zelte und Schlafsäcke mitbringen oder in Camps übernachten, auch die Routen müssen gründlich recherchiert oder selbst gesucht werden. Einfachste Aufgaben wie das Kochen von Wasser werden zur Herausforderung, jeder Schritt kostet wertvolle Energie.
Sprichwörtlich Luft nach oben gibt es beim Thema LGBTIQ-Sichtbarkeit auch in den Schweizer Bergen. «Selbst in Zermatt haben uns die Leute angestarrt, als ich mit meinem Freund Hand in Hand in voller Bergsteigermontur durchs Dorf lief», sagt er.
Zurzeit bereitet sich Pink Summits auf den fünften Gipfel der Seven Summits im Januar 2023 vor: den des Aconcaguas in Argentinien. Mit seinen 6961 Metern muss die Besteigung akribisch geplant werden. Je höher der Berg, desto grösser der Andrang anderer Bergsteiger*innen. Ab 5000 Metern wird der Sauerstoff dünn, eine Akklimatisierung des Körpers und das Risiko einer Höhenkrankheit müssen berücksichtigt werden. Dazu kommen das Einholen von erforderlichen Kletterbewilligungen sowie den Aufenthalt im Base Camp mit dem dazugehörigen ärztlichen Check-up.
Finanzielle und körperliche Strapazen Bergsteigen ist ein teures Hobby. Die Expedition auf den Aconcagua kostet über 5000 Euro pro Person, für den König der Berge – den Mount Everest – muss mit 60 000 Euro aufwärts gerechnet werden. Die hohen Kosten sind das eine, die körperlichen Anstrengungen das andere. «Es gibt schon Momente, in denen ich mich frage, weshalb ich mir das antue», sagt Dastan. Er könne ja im Tal bleiben und sich für das Geld einen teuren Spa-Aufenthalt leisten, fügt er lachend hinzu. Der Reiz bestehe in der Herausforderung, etwas, das unbewältigbar scheine, zu bewältigen. «Wenn alles vorbei ist, bleiben nicht die Schwierigkeiten in deiner Erinnerung, sondern der schöne Moment, wenn du mit der Gruppe auf dem Gipfel stehst.»
Bekräftigend seien auch die vielen positiven E-Mails sowie die persönlichen Begegnungen, die Dastan unterwegs mache. So erreichte ihn beispielsweise die Nachricht eines Kirgisen aus China, der durch ihn erfahren habe, dass es überhaupt andere schwule Kirgisen gibt. Bei einer Veranstaltung lernte Dastan einen Landsmann aus einem abgelegenen Dorf kennen, der nicht wusste, was Homosexualität bedeutet. Die homophobe Berichterstattung über Dastan in Kirgistan hatte also auch positive Seiten. «Durch das Video, das er über mich gesehen hat, verstand er, dass auch er schwul ist», sagt Dastan. «Es sind solche Geschichten – Geschichten aus kleinen Dörfern, deren Namen ich noch nie gehört habe –, die mich zum Weitermachen anspornen. Ich will nie aufhören, auch auf kirgisisch und russisch über Pink Summits zu sprechen.»
Sie lieben einander und reisen an Orte, an denen sie ganz sie selbst sein können. Schweden, Thailand und Mexiko gehören zu ihren drei Lieblingen. Was Maartje Hensen und Roxanne Weijer dort wärmstens empfehlen und welche Tipps sie für andere Queers haben (zum MANNSCHAFT+ Reisebericht).
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