Nicht geboren, um Erwartungen zu erfüllen: Lou Reed zum 80.
Vielleicht der erste geoutete Songwriter?
Vor fast 60 Jahren erfand Lou Reed mit The Velvet Underground den Garagenrock und inspirierte Andy Warhol. Der Sänger faszinierte und irritierte gleichermassen mit Hymnen über Drogen, Bisexualität und Sadomasochismus. Kaum ein anderer stand so sehr für den Rock’n’Roll-Lifestyle wie der 2013 verstorbene New Yorker.
Der am 2. März 1942 in New York City als Lewis Allan Reed geborene Sänger und Gitarrist liess in seiner Jugend keine Gelegenheit aus, seine altmodischen jüdischen Eltern mit seinen Stimmungsschwankungen in den Wahnsinn zu treiben. Zu einer Zeit, als die Rockmusik noch in den Kinderschuhen steckte, drosch er bereits kreischende Akkorde aus seiner elektrischen Gitarre heraus und bekam Wutausbrüche, wenn ihm die gesamte Familie nicht permanent ihre Beachtung schenkte.
Elektroschocks waren damals eine sehr populäre Therapie. Dem sensiblen Teenager jagte man die gleichen Stromstösse durchs Gehirn wie einem stämmigen Massenmörder. Nach achtwöchiger Behandlung fühlte der 17-Jährige sich radikal ausgehöhlt und nahm alles nur noch verkümmert und bruchstückhaft wahr. Es war das gestörte Verhältnis, das seine Umgebung zu ihm hatte, das Lou Reed später dazu bewog, mit immer radikaleren Ideen seine Vorstellungen von Musik zu verwirklichen. Ohne diese schmerzvolle und traumatische Erfahrung hätte er einige der schönsten und zugleich bizarrsten Songs der Rockgeschichte höchstwahrscheinlich nicht geschrieben, von «Venus In Furs» über «Heroin» bis hin zu «Walk On The Wild Side».
1964 lernte Lou Reed in New York den Waliser Multiinstrumentalisten John Cale kennen. Gemeinsam mit der schönen, aber schrulligen Kölner Sängerin Nico alias Christa Päffgen, der Schlagzeugerin Maureen Tucker und dem Gitarristen Sterling Morrison gründeten sie die Band The Velvet Underground. Der Name ist einem Buch über Sadomasochismus und dem abseitigen Sexualleben der US-Mittelschicht entlehnt. Die Band spielte die lauteste und schrägste Rockmusik, die man bis dahin gehört hatte. Reeds düster-verstörende Texte handelten von Drogen, Liebe, Frieden, Hass und Rache, vorgetragen mit gleichgültiger, bewusst ausdrucksloser Stimme. Zu dieser neuartigen Musik entwickelte Andy Warhol eine bizarre Multimediashow, die er Exploding Plastic Ineviteable nannte und die zumeist von Künstler*innen und Schwulen besucht wurde, damals noch echte Randgruppen. Auch wenn The Velvet Underground sich im Lauf der Zeit mehr am Publikumsgeschmack orientierten, war nach vier sich schlecht verkaufenden Studioalben ihr Ende absehbar. Denn ihr exzentrischer, bisexueller Frontmann schien für eine Solokarriere geradezu prädestiniert. Rostam Batmanglij von Vampire Weekend nannte ihn nach seinem Tod den vielleicht ersten geouteten Songwriter.
Bereits Lou Reeds zweites Album machte ihn 1972 zum Rockstar. «Transformer» enthielt sarkastische Glam-Rock-Songs; laut, dreckig und gefährlich, die die harte und aggressive Metropole New York widerspiegelten. Produziert wurde die Platte mit Lobgesängen auf Heroinsucht von David Bowie und dessen Gitarristen Mick Ronson. Sie hatten ein feines Ohr dafür, was Reeds Songs brauchten. Nicht von ungefähr entwickelte die Aussenseiterhymne «Walk On The Wild Side» sich zu einem Welthit. Aber Lou Reed definierte sich nicht als Künstler, der dazu da war, Erwartungen zu erfüllen. Als nächstes veröffentlichte er die Sado-Maso-Rockoper «Berlin» und 1975 das schwer verdauliche Doppelalbum «Metal Machine Music».
1990 tat Lou Reed sich für das Andy-Warhol-Tribute-Album «Songs For Drella» noch einmal mit Cale zusammen, mit dem er einst The Velvet Underground gegründet hatte. Sie gilt heute als die vielleicht einflussreichste Rockband aller Zeiten und wurde in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. 1993 kam es sogar zu einer kurzlebigen Reunion der Originalbesetzung. Viel mehr Ruhm als sämtliche Aktivitäten mit The Velvet Underground brachte Reed vermutlich sein letztes grosses Projekt ein. 2009 kam es bei den Konzertveranstaltungen zum 25. Jubiläum der Rock and Roll Hall of Fame in New York zu einer schicksalhaften Begegnung: Der «King of Avant-Rock» Lou Reed jammte mit den Thrash-Metal-Göttern von Metallica. Das ungleiche Gespann nahm 2011 sogar ein Album zusammen auf, genauer gesagt den Soundtrack zu dem hundert Jahre alten Skandalstück «Lulu» des in Hannover geborenen Dramatikers Frank Wedekind.
Am 27. Oktober 2013 erlag Lou Reed in New York den Folgen einer Lebererkrankung, die auf seinen jahrzehntelangen Alkohol– und Drogenkonsum zurückgeführt wird.
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