Nationaltheater Mannheim zwischen Schiller und Queerness
«Queer Doc» Leonie Lorena Wyss im Interview
Zwischen Schiller und Queerness: Ein Jahr voller Möglichkeiten. Leonie Lorena Wyss ist Hausautor*in am Mannheimer Schauspiel und berichtet über die neue Gesprächsreihe «Queer Doc», die jetzt startet.
Am Nationaltheater Mannheim startet in der Lobby Werkhaus (Mozartstrasse 9) die neue Gesprächsreihe «Queer Doc– Sprechstunde mit Hausautor*in Leonie Lorena Wyss».
In der neuen Gesprächsreihe «Queer Doc» geht es um die Themen Queerness, Medizin und das Schreiben. Wyss ist ab dieser Spielzeit neue*r Hausautor*in im Schauspiel des Theaters. Wir sprachen über die neue Rolle, die Verbindung von klassischer und zeitgenössischer Dramatik und die Bedeutung von Queerness in den eigenen Texten.
Du bist gebürtig aus Basel, aufgewachsen in Baden-Württemberg und lebst mittlerweile in Wien. Nun zieht es sich dich als Hausautor*in am Nationaltheater Mannheim für ein Jahr zurück in den Süden Deutschlands – wie kam es zu dieser Entscheidung?
Das Nationaltheater Mannheim fasziniert mich schon lange. Nicht zuletzt aufgrund der Hausautor*innen vor mir, von deren Texten ich ein grosser Fan bin. Ich war begeistert, als ich angefragt wurde, und freue mich sehr, dass es nun geklappt hat. Ich empfinde die Ausrichtung des Hauses und die Möglichkeiten, die man mir hier zur Verfügung stellt, als sehr passend zu meinem eigenen Schreiben.
Das Nationaltheater Mannheim ist ein sehr traditionsbehaftetes Haus, vor allem in Hinblick auf das Wirken Friedrich Schillers. Gleichzeitig setzt das Theater einen Schwerpunkt auf zeitgenössische Dramatik. War diese Dualität ein ausschlaggebender Punkt für deine Entscheidung, hier Hausautor*in zu werden?
Ja, tatsächlich zeigt sich das auch so ein bisschen in dem, was ich jetzt in dem Jahr hier machen werde: Zunächst ist da mein neues Stück «Apropos Schmerz (Denken Sie an etwas Schönes)», das im Januar 2025 im Studio uraufgeführt wird. Und gleichzeitig arbeite ich an «Die Räuber*innen», eine Kooperation mit dem Stadtensemble im Rahmen der Schillertage 2025. Für die Produktion schreibe ich den Text und wir beschäftigen uns, wie der Name schon verrät, mit Schillers „Die Räuber». Ein spannendes Projekt, nicht nur weil es meine erste Stückentwicklung ist. Da habe ich grosse Lust drauf. In der nächsten Woche besuche ich zum ersten Mal eine Probe. In meinem Jahr hier ist also beides vereint: das Klassische und das Zeitgenössische. Diese Gleichzeitigkeit ist für mich jedenfalls äusserst reizvoll.
Was verhandelst du in deinem neuen Stück?
In meinem neuen Stück, das im Januar im Studio Premiere feiert, erzähle ich die Geschichte einer Protagonistin, die unter chronischen Schmerzen leidet und einen endlosen Marathon durch das Gesundheitssystem durchläuft. Dabei werden ihre Schmerzen nicht ernstgenommen und oft als psychosomatisch abgetan – sie hört Sätze wie „Gehen Sie doch mal wieder joggen» oder „Versuchen Sie es mit Yoga». Diese Abwertung führt zunehmend zu einer psychischen Belastung, die schliesslich den Ausgangspunkt der Handlung bildet.
Das ist deine erste Hausautor*innenschaft an einem Theater. Mit welchen Erwartungen blickst du auf das kommende Jahr?
Ich freue mich sehr darauf, für ein Jahr eine feste Anbindung an ein Haus zu haben und hier mit den Menschen, die am Theater arbeiten, und den Menschen, die in der Stadt leben, in Kontakt zu kommen. Ich begreife das als grosse Möglichkeit für mein eigenes Schreiben, weil ich manchmal sehr damit kämpfe, dass das Schreiben so ein einsamer Prozess ist. Für mich macht das manchmal gar nicht so viel Sinn im Hinblick darauf, dass ich für die Bühne schreibe. Daher weiss ich den Austausch, den Prozess und dieses An- und Eingegliedertsein sehr zu schätzen.
Und was hast du dir persönlich vorgenommen?
Ich möchte gerne eine Art Rahmenprogramm gestalten. Also nicht nur das Stück zu schreiben, abzugeben und zur Uraufführung zu kommen, sondern das als Chance zu nutzen, über das Schreiben hinaus Dinge machen und gestalten zu können. Ich würde zum Beispiel gerne Schreibworkshops geben. Oder an meine Arbeit in der politischen Bildung anknüpfen und hier in Mannheim fortführen. Zunächst aber habe ich jetzt mit der Dramaturgin Mascha Luttmann die Gesprächsreihe «Queer Doc» initiiert.
Was ist das Konzept dahinter?
Das Überthema der Gesprächsreihe ist Queerness und Medizin. Dabei geht es auch um den Begriff der Gendermedizin. Die Gesprächsreihe soll das Stück begleiten, aber auch den Prozess des Schreibens. Es ist eine Art offene Recherche, zu der wir Menschen einladen, die sich auf unterschiedliche Art und Weise mit dem Thema beschäftigen. Damit wollen wir auch Menschen in Mannheim einladen, sich schon vor der Uraufführung mit dem Thema auf eine niedrigschwellige Art und Weise auseinanderzusetzen.
Wen hast du dir für die erste Ausgabe eingeladen? Worum wird es gehen?
Karen Nolte ist zu Gast, sie ist Medizinhistorikerin und Direktorin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Heidelberg. Sie hat viel geforscht, u. a. zum Begriff der Hysterie. Ausserdem realisierte sie erst kürzlich ein Projekt über lesbische Personen in Psychiatrien in Westdeutschland in den 1970er-Jahren. Ausserdem ist Em Brett zu Gast: Eine nicht-binäre Person, die als Psycholog*in in Mannheim arbeitet. Brett engagiert sich sowohl bei Kosima, dem Zentrum zur Förderung der sexuellen Gesundheit in Mannheim, als auch bei der Beratungsstelle Plus e. V. für LGBTIQ-Personen. Thematisch soll es um Misogynie und Transfeindlichkeit in der Medizin gehen.
Wann und wie wird die Reihe fortgesetzt?
Der nächste Termin wird im November sein. Zu Gast sind dann die endoQueers – eine sich selbst organisierende Gruppe, die regelmässig Treffen für Menschen mit Endometriose und deren Angehörige initiiert und dabei Raum schafft für queere Menschen – und ein*e Gynäkolog*in aus Mannheim.
Wie wichtig ist dir dabei die Ansprache und der Einbezug der lokalen queeren Szene?
Es liegt mir sehr am Herzen, mehr über die queere Szene in Mannheim zu erfahren und wie sich queeres Leben hier gestaltet – gerade im Hinblick auf Betreuungsangebote und das Gesundheitssystem. Mit „Queer Doc» wünsche ich mir, queere Menschen von hier anzusprechen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
Welche Rolle spielen queere Lebensrealitäten in deinen eigenen Texten?
Mich als Person beschäftigen queere Themen sehr – gerade, weil sie an Theatern so wahnsinnig unterrepräsentiert sind. Aber gleichzeitig ist das auch ein zweischneidiges Schwert: Ich habe jetzt schon das Gefühl, ein Stück weit darauf reduziert zu werden und als die queere Autor*innenperson wahrgenommen zu werden. Damit kann auch eine Form von Tokenism einhergehen. Ich habe nämlich die Erfahrung gemacht, dass etwas bestimmtes von dieser Queerness erwartet wird: Etwas Quirliges, Glitzerndes, Buntes. Oft existiert in den Köpfen der Menschen eine festgelegte Vorstellung von Queerness. Ich finde es herausfordernd, mich in diesem Spannungsfeld zu positionieren: Einerseits sind queere Themen für mich von Bedeutung, andererseits möchte ich nicht ausschliesslich darauf reduziert werden.
Wie möchtest du im Sommer auf deine Zeit in Mannheim zurückblicken?
Ich wünsche mir, am Ende meiner Zeit hier mit dem Gefühl zurückzublicken, dass ich meine Möglichkeiten voll ausgeschöpft habe – dass ich die Projekte, die mir wichtig waren, erfolgreich umgesetzt habe und zugleich Erfahrungen sammeln durfte, die ich mir jetzt noch nicht einmal vorstellen kann. Ich hoffe, mit Freude an diesen Ort zurückzukehren, Menschen gefunden zu haben, mit denen ich auch in Zukunft gerne zusammenarbeiten möchte, und eine Verbindung zu dieser Stadt, dem Theater und den Menschen, die hier leben, aufgebaut zu haben.
Zur Person
Leonie Lorena Wyss (they/them) arbeitet als Autor*in und ist neben dem Schreiben in der politischen Bildungsarbeit tätig. Wyss' Arbeiten erhielten diverse Preise und Stipendien. Zuletzt erhielt Leonie Lorena Wyss für das Stück «Blaupause» den Autor*innenpreis des 40. Heidelberger Stückemarkt sowie den Retzhofer Dramapreis 2023 für «Muttertier». In der Spielzeit 2024/2025 ist Wyss Hausautor*in am Nationaltheater Mannheim.
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