Nach dem Coming-out: Du bestimmst, wie dein Leben gelebt wird
Seit es den Begriff der Homosexualität gibt, waren es immer die anderen, die einem gesagt haben, wer man ist
Heute ist der Begriff der Sichtbarkeit zu einem Synonym für Freiheit geworden. Es ist die Möglichkeit, ein offenes und angstfreies Leben zu leben. In der Vergangenheit war Sichtbarkeit aber das Gegenteil von Freiheit, so unser Autor in seinem Kommentar*.
Es gibt zwei unbewusste Überzeugungen, die viele schwule Männer haben. Diese konkret zu benennen oder gar zu begründen, fällt vielen nicht leicht. Es ist mehr ein Gefühl, das einen begleitet, oder ein Instinkt, den man zu haben glaubt. Diese Überzeugungen haben ihre Wurzeln in der Vergangenheit und wirken bis heute nach. Man könnte sagen, dass sie Teil der kollektiven Geschichte der schwulen Community sind. Etwas, das tief in jedem einzelnen verankert ist, auch wenn man es persönlich gar nicht erlebt hat.
1. Schwul zu sein bedeutet, Konsequenzen in Kauf nehmen zu müssen Heute ist der Begriff der Sichtbarkeit zu einem Synonym für Freiheit geworden. Es ist die Möglichkeit, ein offenes und angstfreies Leben zu leben. In der Vergangenheit war Sichtbarkeit aber das Gegenteil von Freiheit. Weil es keine selbstgewählte Sichtbarkeit war: Historisch gesehen wurde Homosexualität vor allem durch ihre Verfolgung sichtbar. So existierte Homosexualität in Österreich über 200 Jahre fast ausschliesslich in Verbindung mit strafrechtlichen Konsequenzen. Diese Tatsache wirkt bis heute nach. Wer nicht verfolgt werden wollte, hatte ein anderes Ziel: unsichtbar sein und bleiben.
Einer der Gründe, der schwule Männer heute noch daran hindern könnte, sich zu outen, ist diese Erfahrung aus der kollektiven Vergangenheit: Die stille Überzeugung, dass Sichtbarkeit bedeutet, Konsequenzen in Kauf nehmen zu müssen. Auch, wenn das gar nicht mehr der Fall ist. Und weil Ängste nun mal irrational sind, bleibe ich lieber versteckt und unsichtbar.
Dieses historische Motiv wird von einer weiteren Erfahrung verstärkt, die ganze Generationen traumatisiert hat: das Aufkommen von Aids in den Achtzigern. Nur wenige Jahre zuvor gab es in Österreich erste Erfolge der Liberalisierung: 1971 wurde Homosexualität legalisiert. Schwule Männer wollten damals gleiche Rechte und begannen, diese auch einzufordern. Kurz nach diesem grossen Erfolg der strafrechtlichen Emanzipation traten die ersten Fälle von AIDS auf. Die symbolische Interpretation lautet: Wenn ich sichtbar und gleichberechtigt sein will, werde ich über kurz oder lang dafür bestraft.
2. Schwul zu sein bedeutet, von anderen definiert zu werden Seit der sogenannten «Erfindung» des Wortes Homosexualität durch den Schriftsteller Karl Maria Kertbeny im Jahr 1869 haben die unterschiedlichsten Bereiche versucht, Homosexuelle für ihre Theorien zu vereinnahmen: Für die Justiz war Homosexualität eine Straftat, für die Psychologie eine Krankheit, für die Kirche eine Sünde. Und sie alle hatten unterschiedliche Zugänge, wie man nun mit dieser neuen Gattung der Homosexuellen umgehen soll: Einsperren, psychisch behandeln oder die Gefühle unterdrücken. Mit anderen Worten: Seit es den Begriff der Homosexualität gibt, waren es immer die anderen, die einem gesagt haben, wer man ist und wie man sein Leben leben muss. Die unbewusste Überzeugung lautet hier: Es sind immer die anderen, die mir sagen, wer ich bin. Es ist dieser intuitive Blick auf die Bedürfnisse der anderen, der verhindert, ein Leben nach den eigenen Vorstellungen und Wünschen zu leben.
Wozu nun der Blick auf die gemeinsame Geschichte? Er hilft, herauszufinden, wie man selbst zu sich und den anderen steht. Erst wenn man diese kollektiven Überzeugungen kennt, kann man sie korrigieren. Sie ist nämlich nicht falsch. Denn: Schwul zu sein bedeutet nicht, von Haus aus Angst vor Konsequenzen haben zu müssen. Und: Ich bin derjenige, der bestimmt, wie mein Leben gestaltet und gelebt wird. Und nicht die anderen.
*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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