«Wir sind alle unterschiedlich und können niemals gleich sein»
Das neue Album von Melissa Etheridge heisst «One Way Out»
Melissa Etheridge, 60, kennt man als Sozialaktivistin und Ikone der Homosexuellenbewegung. Klangen ihre letzten Platten zu aufpoliert und vorhersehbar, zeigt die hemdsärmelige Kalifornierin mit der markanten, rauen Stimme auf «One Way Out» wieder mehr Leidenschaft. Die Grammy- und Oscar-Preisträgerin über ihre Anfänge, die Vorzüge des Älterwerdens und den tragischen Tod ihres Sohnes Beckett.
Interview: Olaf Neumann
Melissa, «One Way Out« ist ein überraschend hart rockendes Album. Wolltest du mit den Songs deine Wut rauslassen? Ich würde nicht sagen, dass es Wut ist, sondern eher die Energie des Rock ’n’ Roll. Es ist mein natürlicher Zustand. «One Way Out» ist genau das, was ich spielen möchte. Ich möchte so elektrische Gitarre spielen, als wäre es das letzte Mal. Rock ’n’ Roll ist das, was ich fühle: Leidenschaft und Enthusiasmus.
Das Album basiert auf Songskizzen aus den späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahren und handelt unter anderem vom Coming-out. Wie sah dein Leben damals aus? Ich war damals voller Erwartung, Vorfreude und Hoffnung. Ich war eine Art Feministin, hinter der irgendwie eine starke Frau zum Vorschein kam. Ich wollte beweisen, dass ich rocken konnte. Ich denke, das zeigt sich wirklich an dieser Platte. Damals hielt ich sie für fast schon zu geradlinig, weil ich noch ein bisschen schüchtern war.
Dachtest du, dass einige dieser Songs zu kämpferisch lesbisch oder feministisch sind, um sie zu veröffentlichen? Yeah. Ich glaube, das ist es, was mich lange davon abgehalten hat, dieses Projekt weiter zu verfolgen. Die Songs waren einfach ein wenig zu kantig, jetzt scheint es aber nicht mehr so zu sein. Die Zeiten haben sich geändert.
Damals war die Sexualität von Mainstream-Rockkünstler*innen noch ein bedeutendes Thema sowohl in den Medien als auch in den Konferenzräumen der Plattenfirmen. Glaubst du, dass dein Coming-out daran etwas geändert hat? Oh, das hoffe ich! Es war damals an der Zeit, dass solche Dinge offengelegt wurden. Ich wurde oft gefragt, wie ich mir als lesbische Sängerin die Zukunft vorstellte. Meine Antwort war: Es wird der Tag kommen, an dem sich ein*e Künstler*in outet, der/die zufällig homosexuell ist. Und es wird dann nur eine weitere Kleinigkeit sein und nicht die Hauptsache, über die alle reden. Offen lebende Homosexuelle werden eines Tages in der Lage sein, eine eigene Karriere zu starten. Heute gibt es zahlreiche Künstler*innen wie mich, was mich sehr glücklich macht.
Haben Plattenfirmen dich anfangs wegen deiner Homosexualität abgelehnt? Ich glaube nicht, dass sie es mir je gesagt haben, aber eine ganze Reihe von ihnen hat mich abgewiesen. Und sie alle wussten, dass ich lesbisch bin. Sie sagten immer nur, sie hörten bei mir keinen Hit. Interessant, diese Leute heute wieder zu treffen (lacht). Dann heisst es immer: Ich lag bei dir damals so falsch!
Es war also eine schwere Zeit für dich? Es machte mich am Ende stärker und gab mir Lust auf mehr.
Wo bist du als Newcomerin aufgetreten? Ich habe in Frauenbars und in Gay-Clubs in und um Los Angeles gespielt. In Kalifornien waren die Leute schon immer sehr offen. An Orten wie Long Beach und Pasadena konnte ich regelmässig spielen und mir eine Fangemeinde aufbauen. Das hat mir wirklich geholfen.
«Ich hatte keinen Plan B! Ich wollte nur spielen.»
Was war damals deine grösste Angst? Dass ich als Künstlerin nicht genüge und nicht verstanden werde. Es hat mich jedenfalls nie niedergeschlagen, sondern mich dazu gebracht, noch härter zu arbeiten.
Hattest du einen Plan B? (Lacht.) Ich hatte keinen Plan B! Ich wollte nur spielen. Ich wusste, dass ich durch Bar- und Clubauftritte mein Essen auf den Tisch bringen und meine Miete bezahlen konnte. Ich habe einfach weitergemacht.
Siehst du dich rückblickend als Pionierin im Kampf für LGBTIQ-Rechte? Nun, ich war dabei in den Neunzigern, als wir wirklich anfingen, uns zusammenzuschliessen und zu organisieren. Das hat vieles verändert. Wenn du mich deshalb als Pionierin betrachtest, dann finde ich das prima. Ich bin stolz darauf, wie weit wir gekommen sind.
Hast du viele andere Frauen zum Coming-out ermutigt? Ja, das habe ich tatsächlich. Das wurde mir im Lauf der Zeit von hunderten, vielleicht sogar tausenden Leuten bestätigt. Dafür bin ich sehr dankbar.
Du singst aber auch: «Ich bin selbst kein Engel». Worauf bezieht sich das? (Lacht.) Auf eine Beziehung. Beziehungen können uns auseinanderreissen, aber wir machen trotzdem alles noch einmal, denn dafür leben wir. «I’m No Angel Myself» ist ein autobiografischer Song, der von einer guten Freundin handelt, die mit meiner damaligen Partnerin geschlafen hat. Ein grosses Drama! In dem Lied treffe ich die alte Freundin in einer Bar zufällig wieder, was rein fiktional ist. Da steckt sie in einer problematischen Beziehung mit einer anderen Frau. Wir gestehen uns, dass wir beide Fehler gemacht haben, und beschliessen, die Vergangenheit hinter uns zu lassen.
Die Pandemie hat ja alle Pläne von Musiker*innen erst einmal hinweggefegt. Fandest du diese Untergangsstimmung irgendwie inspirierend? Also, Musik hat mir sehr geholfen, das alles zu überstehen. Im Lockdown habe ich fünfmal pro Woche Streaming-Konzerte in meiner Garage gespielt. So konnte ich weiter singen und meine Fans erreichen. Das hat mich gesund gehalten und mir dabei geholfen, als Künstlerin zu wachsen. Und jetzt darf ich auch wieder Konzerte vor Publikum spielen. I’m here, let’s go!
Rock ’n’ Roll ist eine zeitlose Musik.
Schlummert eigentlich noch mehr unveröffentlichte Musik in deinem Archiv? Ja, das gibt es noch einiges, was man veröffentlichen könnte. Gerne würde ich noch so eine Platte machen. Neue Songs habe ich in letzter Zeit kaum geschrieben.
Glaubst du, dass diese alten Songs heute noch aktuell sind? Ich hoffe es. Rock ’n’ Roll ist eine zeitlose Musik. Sicherlich funktionieren die Themen in diesen Liedern heute genauso gut wie vor 30 Jahren.
Muss für LGBTIQ-Rechte immer noch gekämpft werden? Ich nenne es nicht gerne einen Kampf. Ich bin auch nicht gegen irgendetwas, ich bin für die Menschen. Es geht nur darum, die Herzen und Köpfe zu verändern. Und das braucht Zeit. Manche Menschen haben Angst. Denen muss man sagen: «Hey, ich bin ein echtes menschliches Wesen und es gibt nichts, wovor man Angst haben muss. Meine Beziehung zu denjenigen, die du liebst, hat keinen Einfluss auf dich persönlich».
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In seiner Siegesrede sagte Joe Biden, er wolle Präsident für alle sein, Demokrat*innen und Republikaner*innen, Junge und Alte, Homo- und Heterosexuelle und trans Menschen (MANNSCHAFT berichtete). Glaubst du, dass sich für LGBTIQ-Leute wirklich etwas ändern wird? Nun, es hat sich im Lauf der Jahre schon sehr viel verändert. Es ist ein langsamer Prozess, der zu weiteren Veränderungen führen wird.
In Ungarn wurde kürzlich ein Gesetz verabschiedet, das Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert und gegen fundamentale Werte der Europäischen Union verstösst (MANNSCHAFT berichtete). Warum tun sich manche Länder so schwer mit den LGBTIQ-Rechten? Es gibt immer noch Angst, und es gibt immer noch religiöse Angst. Manche sind überzeugt, dass jede*r nach bestimmten Regeln leben sollte, und wenn man das nicht tut, ist man schlecht. Solange Menschen diese Ängste haben, glauben sie auch, dass sie das Recht haben, die Moral zu vertreten. Es ist ein ständiges Auf und Ab, aber wir bewegen uns vorwärts und verstehen, dass wir alle unterschiedlich sind und niemals gleich sein können. Das ist nicht die Natur der Menschheit.
Früher habe ich mir selbst vorgeschrieben, wie ich auszusehen habe.
Du bist kürzlich 60 Jahre alt geworden. Für manche ist diese Zahl ein Wendepunkt im Leben. Für mich liegt in der Zahl 60 ein gewisses Mass an Freiheit. Meine Kinder sind jetzt alt genug, um auf eigenen Füssen zu stehen. Und ich habe einfach mehr Freiheit. Man muss sich nicht mehr an alle der alten Regeln halten. Früher habe ich mir selbst vorgeschrieben, wie ich auszusehen habe. Ich mache mir heute wirklich keine Gedanken mehr über diesen ganzen Kram. Ich lebe im Moment. Das ist ganz köstlich. 60 ist ein supercooles Alter!
Die meisten Erwachsenen fühlen sich jünger als ihr tatsächliches Alter. Auch ich fühle mich jünger. Ich denke nicht an ein bestimmtes Alter. Ich betrachte mich als eine Erfahrung. Und ich weiss, dass das, was ich liebe, mich belebt und frisch hält.
Du hast die Etheridge-Stiftung zur Erforschung der Ursachen und Auswirkungen der Opioidabhängigkeit gegründet. Hat die Pandemie die Opioidkrise noch verstärkt? Yeah. Ich habe letztes Jahr meinen Sohn Beckett verloren. Die Isolierung der Menschen schuf definitiv mehr Not im Bereich der Drogenabhängigkeit. Das tat vielen wirklich weh. Jetzt ist es an der Zeit, die Hand auszustrecken und Antworten zu finden.
Dein Sohn Beckett Cypher starb im Mai 2020 im Alter von 21 Jahren an den Folgen einer Opioidabhängigkeit. Warum konntest du ihm nicht helfen, drogenfrei zu werden? Ich kann so viel für einen Menschen tun, aber er muss seine eigene Entscheidung treffen. Er muss die Kraft und den Willen dazu aufbringen. Einige können das nicht. Mein Sohn hat es versucht und versucht. Ich erinnere mich an den Tag, an dem er einfach losliess und vier Tage später starb. Ich konnte ihn nicht mehr erreichen.
Was hat dir in dieser schweren Zeit geholfen? Im letzten Jahr habe ich mich viel mit Beckett herumgeschlagen. Ich habe versucht, ihm zu helfen und ihn auf den Weg zu bringen. Ich bin dabei selbst an einen Punkt kommen, an dem ich wusste, dass er vielleicht nicht überleben würde.
Melissa Etheridge
Geboren als Melissa Lou Etheridge in 1961 in Leavenworth im US-Bundesstaat Kansas. Die Tochter eines Lehrers und einer Computerexpertin wird 1987 in einem Club in Long Beach/Kalifornien von Island-Records-Gründer Chris Blackwell entdeckt. Bereits ihr Debütalbum «Melissa Etheridge» (1988) wird mit Platin ausgezeichnet. Für die Single «Ain’t It Heavy» von dem Millionenseller «Never Enough» erhält sie 1992 einen Grammy. Mit dem Titel ihres fünften Albums «Yes I Am» (1993) outet sie sich als lesbisch. Die Platte verkauft sich allein in den USA über vier Millionen Mal. In den Jahren 2004 und 2005 übersteht Melissa Etheridge eine Brustkrebserkrankung. 2007 wird sie für «I Need To Wake Up» aus «Eine unbequeme Wahrheit» mit einem Oscar in der Kategorie «Bester Song» ausgezeichnet, 2011 erhält sie einen Stern auf dem «Hollywood Walk of Fame». Die Wahlkalifornierin ist in zweiter Ehe mit der Schauspielerin Linda Wallem verheiratet und Mutter von vier Kindern, die allesamt aus Samenspenden stammen. Ihr Sohn Beckett Cypher starb 2020.
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