Märchen im Reisswolf – Ungarn geht gegen «Homo-Propaganda» vor
Ein neues Kinderbuch macht homophobe Politiker*innen sehr wütend
Dieses Buch spaltet Ungarn: «Meseorszag mindenkie» (etwa: Märchenland für alle) ist eine Sammlung neu erzählter traditioneller Märchen, die u. a. mit LGBTIQ-Charakteren in zeitgenössischem Umfeld aktualisiert wurden. Eine rechtskonservative Politikerin witterte «Homo-Propaganda» und steckte es medienwirksam in den Reisswolf. In einigen Kindergärten ist es verboten.
Nächste Woche beginnt die Frankfurter Buchmesse 2020, aber in Zeiten der Corona-Pandemie anders als sonst: ohne Besucher*innen und ohne Verlagsstände, es gibt kaum Veranstaltungen auf dem Gelände. Die Messe findet vor allem online statt. Derweil beweist die Auseinandersetzung um ein Märchenbuch in Ungarn, welche Macht Bücher noch immer besitzen.
Das Märchenbuch erzählt wohlbekannte Märchen neu – indem sie deutlich machen, «wie das Leben marginalisierter Gruppen aussieht», erklären die Herausgeberinnen der Labrisz Lesbian Association. Es treten Menschen mit Behinderung auf, Alte sowie Missbrauchsopfer, und eben auch Lesben, Schwule und trans Personen. Sie leben in polyamourösen Beziehungen oder Regenbogenfamilien, und in einigen Geschichten wird nicht die Hochzeit, sondern die Scheidung als Erlösung gefeiert.
Eine Petition des rechtskonservativen Portals CitizenGo fordert, das Buch aus den Verkaufsregalen zu verbannen, wie das Portal Ungarn heute berichtete. Zudem hat der Bezirksbürgermeister von Csepel (dem 21. Bezirk in Budapest), Lénárd Borbély (Fidesz), das Buch in den Kindergärten verboten. Gulyely Gulyás, Ungarns Kanzlei-Minister und rechte Hand von Viktor Orbán, spielte die Hetze gegen das Buch herunter. Er erklärte am gestrigen Donnerstag: In Ungarn hätten alle Regelungen, in denen die Regierung die Rechte gleichgeschlechtlicher Menschen garantierte, auch weiterhin Bestand – auch wenn er ihnen nicht zustimme, so Gulyás.
So kooperieren Russland und Ungarn in Sachen Homohass
«Wenn jemand erwachsen ist, entscheidet er, wie er sein Leben lebt – darauf möchte ich nicht eingehen.» Die «Durchführung homosexueller Propaganda in Kindergärten oder Schulen» sei jedoch schädlich, nicht hinnehmbar und womöglich kriminell, erklärte der Politiker.
Neben ihm haben vor allem Dóra Dúró, die rechtskonservative Parlamentsabgeordnete der Unsere- Heimat-Bewegung und Premier Orbán (der erst kürzlich ein christliches Westeuropa beschwor – MANNSCHAFT berichtete) dem Band längst zu grosser Popularität verholfen. Weil sich in klassischen Märchen auf einmal Jungs ineinander verlieben oder «Hänsel und Gretel» aus der Sicht der Hexe erzählt wird, vernichtete Dúró das Buch unlängst auf einer Pressekonferenz.
Geldstrafe für Coca-Cola-Werbung in Ungarn
Sie riss einzelne Seiten heraus und schredderte sie öffentlich. Denn: Ihre Partei würde nicht akzeptieren, dass Kinder «homosexueller Propaganda» ausgesetzt würden. Orbán äusserte Verständnis für ihre Aktion. Es gebe eine «rote Linie», erklärte er im staatlichen Rundfunk: «Lasst unsere Kinder in Ruhe!»
Der ungarische Verband der Verleger*innen und Buchhändler*innen (MKKE) verurteilte die Aktion. Seitdem hätten sich Drohungen und verbale Angriffe gegen Buchhändler*innen vervielfacht. Sie erhielten belästigende Nachrichten mit Malware, die E-Mail-Systeme lahmlegen sollen.
Die Folge: Das Buch entwickelte sich zum Bestseller, die erste Auflage war sofort ausverkauft, eine zweite Auflage musste gedruckt werden. Die Labrisz Lesbian Association erklärte, der Hass gegen das Buch habe einen «gegenteiligen Effekt» gehabt.
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