Wir haben Lust – Vom Kamasutra über Vanillasex bis BDSM
Ein Blick in die Schlafzimmer der Community
Sex ist vielfältig. Das finden auch die Diplompsychologin und Therapeutin Karina Kehlet Lins, die feministische Sexpertin Laura Méritt und MANNSCHAFT-Leser Björn. Wir blicken in die Schlafzimmer der Community.
Schon das älteste dokumentierte Lehrwerk für Erotik, das Kamasutra (zu Deutsch: Verse des Verlangens), bricht mit der Vorstellung, dass das Liebesspiel an allzu feste Beschränkungen geknüpft sei. Stattdessen ermutigt es, sich auszuprobieren und aktiv mit dem Partner oder der Partnerin an einer erfüllten Körperlichkeit zu arbeiten.
Doch wie sieht es heute, zirka 1700 Jahre nach dem Verfassen des Kamasutra, aus? Sind wir 2021 genauso offen, wie es der indische Autor Vatsyayana Mallanaga einst forderte? Oder stehen uns eingefahrene Ideen darüber, wie es im Bett zu laufen hat, im Weg?
Bunt triumphiert «Die menschliche Sexualität kann nur schwer in Kategorien eingeengt werden. Dafür ist die Bandbreite unserer inneren erotischen Welt viel zu gross. Alles, worauf sich die Beteiligten verständigen, ist erlaubt. Solange es mit deutlicher Einvernehmlichkeit geschieht und es sich nicht um kriminelle Dinge handelt. Zum Beispiel um Sex mit Minderjährigen», erklärt Karina Kehlet Lins. Die als systemische Psycho- und Sexualtherapeutin in Berlin niedergelassene Dänin empfiehlt, Kommunikation und Offenheit als Schlüssel zu einem erfüllten Liebesleben zu verstehen.
«Wenn man seine sexuellen Präferenzen unterdrückt, kann das dazu führen, dass man auf Dauer unglücklich wird.» Scham gegenüber den eigenen Empfindungen stellt laut Kehlet Lins einen regelrechten Nährboden für Vereinsamung, Ängstlichkeit oder Depressionen dar. «Hinzu kommt, dass sich unsere Sexualität im Laufe des Lebens verändern kann. Manch lesbische Frau gibt später an, eher bisexuell zu sein. Das ist interessant! Stellt man sich jedoch ein sexuelles Spektrum statt allzu statischer Gruppen vor, dann ist das durchaus nachvollziehbar. Es gibt kein Schwarz-Weiss, sondern eher ein buntes Mosaik. Wie im Kaleidoskop.»
Klischeebedingt Als LGBTIQ-Community eilt uns der Ruf voraus, toleranter und deutlich weniger verklemmt zu sein als Heteros. «Wenn man sowieso nicht den gesellschaftlichen Mehrheitsnormen entspricht, ist es leichter, vorgegebene Rollen zu durchbrechen. Das wiederum schenkt enorme Freiheit», argumentiert Kehlet Lins. «Queere Personen sind experimentierfreudiger.» Und trotzdem scheinen auch wir uns im Laufe der Zeit in verschiedenen stereotypen Konstrukten eingerichtet zu haben. So sagt man lesbischen Frauen beispielsweise nach, sie seien eher an vermeintlich «soften» erotischen Spielarten interessiert, während der Prototyp des schwulen Mannes als stets willig und besonders auf rauen Sex bedacht charakterisiert wird. Klischees, die auch über die Grenzen der sexuellen Orientierung hinaus relevant sind.
«Frauen sollen von Hause aus sanft sein, Männer hart», erklärt die Psychotherapeutin. Sie selbst glaube aber nicht, dass die sexuelle Identität eines Menschen rein auf biologische Faktoren (Hormone, physische Stärke, Temperament etc.) zurückzuführen sei. Vielmehr vermute sie, dass auch kulturelle Aspekte, Kindheitserlebnisse oder das individuelle soziale Umfeld beeinflussten, was ein Mensch möge und sich auszuleben traue. «Zum Beispiel kann eine Frau mit einer dominanten Seite geboren sein, dann aber schnell lernen, diese zu verstecken, weil das angeblich nicht zum weiblichen Geschlecht passt.»
Stark und selbstbewusst Laura Méritt, Inhaberin des ältesten feministischen Sexshops Europas, Herausgeberin von Werken wie «Mein lesbisches Auge» (konkursbuch, 2020) und Betreiberin der Sexinstitution «Freudensalon», nimmt selten ein Blatt vor den Mund. Schon lange kämpft die 60-Jährige für mehr Selbstbestimmtheit in Sachen weibliche Lust und räumt in diesem Zuge auch gern mit Vorurteilen auf. «BDSM* ist in unterschiedlichsten Ausprägungen Teil des lesbischen Lebens. Das Interesse daran ist hoch und entsprechende Workshops von mir sind immer gut besucht.»
Méritt betont, dass es vor allem homosexuelle Frauen gewesen seien, die der breiteren Öffentlichkeit verschiedenste Sexualpraktiken nähergebracht hätten. «Was härtere Spielarten sind, definiert dabei jede*r unterschiedlich. BDSM umfasst generell aber deutlich mehr als das Experimentieren mit oder die Faszination am Schmerz.» Laut der Sexpertin gehe es ferner um Vertrauen, darum, Kontrolle abzugeben oder die Verantwortung zu übernehmen, sich bewusst in eine submissive beziehungsweise dominante Rolle zu begeben. «Konsens wird hier grossgeschrieben!», unterstreicht sie. Berücksichtige man dies genauso wie das Kommunizieren eigener Präferenzen, den Spass am Neuen und die Akzeptanz gegenüber Grenzen, schaffe man den notwendigen Rahmen, um sich beim Ausüben von BDSM-Techniken sowie auch allen anderen Varianten einvernehmlicher Sexualität sicher fühlen zu können.
«Manch lesbische Frau gibt später an, eher bisexuell zu sein.»
Ungeahnte Kräfte Karina Kehlet Lins geht in ihren Ausführungen noch einen Schritt weiter und beleuchtet eine spannende Funktion, die BDSM für Menschen haben kann, die in der Vergangenheit Opfer sexueller Gewalt geworden sind oder generell Ohnmacht im sozialen Gefüge erleben: Traumata können mithilfe von BDSM neu inszeniert und bewertet werden. Als Gestalter*in hat man so die Möglichkeit, revidierende, heilende Erfahrungen zu machen.» Von aussen betrachtet sehe das vielleicht seltsam aus, nur sei unser Seelenleben eben zu komplex, als dass man davon ausgehen könne, mit einer einzigen Bilderbuchlösung jeder psychischen Verletzung gerecht zu werden.
«Für mich als Therapeutin ist die Frage am wichtigsten, wie es einem nach dem Sex geht. Fühlst du dich gut oder eher unwohl?», so Kehlet Lins. «Wir tendieren dazu, etwas als unmoralisch zu bewerten, wenn wir es nicht verstehen oder selbst eine andere Art von Sexualität praktizieren.» Zu versuchen, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen, könne aber auch fern der Paarbeziehung den Horizont erweitern.
Als Ausnahmeerscheinung deklariert Obwohl er sich durchaus als neugierig und offen bezeichnen würde, hat BDSM im Lustrepertoire von Björn bisher noch keinen Platz gefunden. Generell scheint der Angestellte im Marketingbereich weniger dem propagierten Bild des typisch schwulen Mannes zu entsprechen. Keine ausschweifenden Sexpartys, kein Fetisch und kein Interesse an Dominanzspielen – Björn steht beim Beischlaf auf Zärtlichkeit.
«Sex ist für mich eine intime Angelegenheit. Das soll nicht heissen, dass es nicht auch zügellos sein darf, aber vor allem ist es ein körperliches In-Beziehung-Gehen. Wenn ich also Sex habe, dann möchte ich eine Begegnung auf Augenhöhe.» Unterwerfung sei für Björn schlichtweg nicht reizvoll und ihn beschleiche das Gefühl, dass es für viele Homosexuelle eine Art Schutzfunktion sei, um auf Distanz bleiben zu können und sich nicht verletzlich zeigen zu müssen. «Ich sehe mich als Liebhaber von Vanillasex* eher in der Minderheit. Mein Eindruck ist, dass Sadomasochismus, Fistfucking und rauere Arten von Sexualität ziemlich gängig in der Community sind», führt Björn weiter aus. Zumindest erlebe er dies, wenn er sich auf diversen Dating-Apps und -Plattformen umschaue. «Jemanden zu finden, mit dem man sich zu zärtlichem Sex verabreden kann, ist schwierig.»
Drohende Verrohung? Dass er mit seinen Präferenzen benachteiligt sein könne, glaubt der 32-Jährige nicht. «Wenn es nicht passt, passt es eben nicht und es wird kein Match draus. Ganz einfach. Ich wünsche mir weniger mechanisches Rein-Raus und mehr sinnliches Erleben.»
Erfahrungen aus Karina Kehlet Lins Praxisalltag zeigen, dass Björn mit seinen Ansichten keinesfalls allein dasteht: «Ich höre von vielen schwulen Männern, dass sie das ‹stumpfe Ficken› total leid sind.» Auch wenn es manchmal hoffnungslos erscheine, bestehe also durchaus eine reelle Chance, einen Partner zu finden, der sich nicht am gängigen Pornostereotyp des immer potenten, wenig emotionalen Mannes orientiere.
Leider bleibt unsere Gesellschaft aber oft von toxischen Vorstellungen jedweder Couleur durchtränkt. Diese für immer aus dem kollektiven Gedächtnis zu streichen, bedeutet Arbeit. Phänomene wie Chemsex, sprich Geschlechtsverkehr unter dem Einfluss von Rauschmitteln, tun ihr Übriges und sorgen dafür, dass wir den Exzess zelebrieren, statt uns auch von subtileren Gefühlsregungen stimulieren zu lassen.
Mach, was dir guttut «Es braucht vor allem Mut, die eigene Zärtlichkeit anzunehmen und anderen zärtlich zu begegnen», gibt Björn zu bedenken. «Und die Einsicht, dass mein Fuckbuddy keine Maschine, keine Gummipuppe und kein Avatar aus einem Schwulenporno ist. Sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut.»
Laura Méritt setzt ebenfalls auf die Kraft der Aktivität und rät, die eigene Scham zu überwinden, um ein erfülltes Sexualleben geniessen zu können: «Wir sollten uns zutrauen, Wünsche zu formulieren. Niemand sollte sich verstecken müssen.»
«Viele betrachten Sex einzig als biologischen Trieb. Ich sehe Sexualität hingegen eher als Ressource», sagt Karina Kehlet Lins und bezieht sich auf wichtige psychische oder soziale Funktionen des Liebesaktes. Zum Beispiel Stressbewältigungsmechanismen, kommunikative Aspekte oder die Möglichkeit, mehr über sich selbst zu lernen.
Egal in welcher Gestalt er uns auch begegnen mag – ob wild und ungezähmt oder still und einfühlsam – Sex bildet für viele Menschen eine wichtige Grundlage, um ganzheitlich Zufriedenheit empfinden zu können. Wie so oft bedarf es dafür aber auch der Überzeugung, Verantwortung für sich selbst und die Menschen, mit denen man in Kontakt tritt, zu tragen. Gelingt das nicht, stehen Expert*innen wie Karina Kehlet Lins oder Laura Méritt zur Verfügung, um Wege aufzuzeigen, wo vermeintlich Hoffnungslosigkeit droht. Niemand von uns ist perfekt, niemand unfehlbar. Also auf ins Schlafzimmer, sprechen, sich outen und das tun, was sich richtig anfühlt!
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