«König Roger» – Schwules Begehren an der Oper Budapest
Durch einen geschickten Schachzug umging das Leitungsteam einen Verstoss gegen das Anti-LGBTIQ-Gesetz
Mit einem Blick in die Biographie des polnischen Nationalkomponisten Karol Szymanowski gastierte das Nationaltheater Kosice mit «König Roger» in der Oper Budapest.
Von: Roland H. Dippel
Am Ende wirft König Roger einen innigen Blick auf den jungen Mann. Sofort donnert der Beifall in den Schlussakkord für das Gastspiel des Nationaltheaters Kosice (Slowakei) in den Eiffel Art Studios, der dritten Spielstätte der Ungarischen Nationaloper Budapest.
Gespielt wurde am 22. August 2023 Karol Szymanowskis Musikdrama «König Roger». An mitteleuropäischen Opernhäusern ist diese Begeisterung bei offen bzw. latent schwule Sujets wie Mark Simpsons in einem queeren Club spielender Oper «Pleasure» (MANNSCHAFT berichtete) oder Tschaikowskis berühmten «Eugen Onegin» fast eine Selbstverständlichkeit.
Aber in Budapest, wo unter der rechtskonservativen Orban-Regierung ein LGBTIQ-feindlicher Kurs herrscht? Eines steht fest. In der Hauptstadt Ungarns besteht eine andere Kultur des Sehens, Bemerkens und Verstehens als in den mit Quotennäherungen und Solidaritätsadressen etikettierten Events westlicher Industrienationen. Das Publikum der 2020 eröffneten und imposanten Eiffel Art Studios ist an diesem Abend bunt, steht LGBTIQ-Netzwerken nahe und reagiert begeistert.
Die slowakische Kulturministerin Silvia Hroncová wurde von Roland Khern Toth, Operndirektor von Kosice, und Szilveszter Ókovács, Intendant der Oper Budapest, mit Blumen und Kurzansprachen begrüsst. Der Jubel und der gesellschaftliche Glanz passen aus westlicher Perspektive überhaupt nicht zum restriktiven Kurs, unter dem queere Personen in Ungarn massiv leiden.
Den staatlich subventionierten Künsten und grossen Einrichtungen wie der Ungarischen Staatsoper und der 2021 gegründeten Stiftung Haydneum für die Alte Musik Ungarns geht es betreffend Finanz- und Mittelausstattung glänzend. Persönlichkeiten wie der offen schwule Opernregisseur Balázs Kovalik dagegen haben Ungarn verlassen. Künstler*innen aus kritischen, subversiven und queer-affinen Gruppen klagen unter der Regierung Orban über Mund-, Projekt- und Finanzfesseln.
Umgekehrt wird es an seinem deutschen Arbeitsort zum Politikum, wenn der in Ungarn geborene Augsburger Generalmusikdirektor Domonkos Héja an der Oper Budapest die zu ihrer Zeit revolutionäre Oper «Carmen» dirigieren will (und dort bereits die ungarische Nationaloper «Bank ban» für CD eingespielt hat).
Dabei ist das Gastspiel mit «König Roger» paradigmatisch für den öffentlichen Umgang mit (missliebigen) Aussenseiter-Themen in Ungarn. So oder ähnlich könnte es auch in der DDR und im Sozialismus gewesen sein: Man versteht schweigend und schweigt in der Öffentlichkeit. Worum geht es in «König Roger»? Ein Fremder kommt in ein erschlafftes Regierungssystem. Er lockert die verkrusteten Strukturen, indem er die Massen zu freisinnigen Ritualen motiviert. Das Königspaar Roger und Roxane entzweit sich friedlich, der König bleibt allein. Szymanowski hatte das Textbuch des ebenfalls schwulen Jarosław Iwaszkiewicz mit rauschhaften Klängen in konzentrierten 80 Minuten vertont.
Das 1926 in Warschau uraufgeführte Opus spielt eigentlich im 12. Jahrhundert auf Sizilien, nicht aber in dieser im November 2022 am Nationaltheater Kosice herausgekommenen Inszenierung. Dort hatten der Regisseur Anton Korenči, Roland Khern Tóth und Musikdramaturg Stanislav Trnovský die Handlung in den Jugendstil verlegt.
Königin Roxane (stark in ihrer ersten grossen Partie: die junge kroatische Sopranistin Gabriela Hrženjak) ist eine mit allen erotischen Reizen um ihren Mann kämpfende Verzweifelte. Der phantastische polnische Bariton Michał Partyka als König Roger singt neben Joseph Pitt in Peter Eötvös «Angels in America» am Theater Bremen in diesem Jahr bereits eine zweite grosse Coming-out-Partie.
Der slowakische Tenor Juraj Hollý gibt einen charismatischen, wenig berührungsscheuen Hirten und Lichtbringer. In der Inszenierung gibt es eine erfundene Figur: Ein junger Mann (André Tatarka) umwirbt Roger in dessen erotischen Wachträumen. Alles klar, deutlich und – wohlgemerkt – nicht auf einer privaten Off-Bühne, sondern im grössten Kulturbetrieb des Landes und einer stark beworbenen Aufführung: Unter Leitung von Chefdirigent Peter Valentovič gibt es über 200 Chor-, Kinderchor-, Orchester- und Backstage-Mitwirkende.
Eine Riesenbesetzung sogar für die 10. Internationalen Theatre Olympics, in deren erweitertem Rahmen das Gastspiel stattfand. Attila Vidnyánszky, Generaldirektor des Ungarischen Nationaltheaters und künstlerischer Leiter der Theaterolympiade, war im Vorfeld eigens nach Kosice gekommen und hatte die Produktion an eine der wichtigsten Spielstätten Ungarns eingeladen: Missverständnisse betreffend die finale Aussage der Inszenierung waren offenbar ausgeschlossen.
Auf drei Ebenen handelt es sich bei «König Roger» und dessen Aufführung aus Kosice um ein explizit «schwules Stück». Die Inszenierung greift Stationen aus der Biographie des Komponisten Karol Szymanowski (1882 bis 1937) poetisch, aber auch deutlich auf: Im katholisch-konservativen Klima Polens sind die sexuellen Neigungen Szymanowskis bis heute offiziell nicht existent, weil diese zu einem Nationalkomponisten nicht passen.
Szymanowskis schwul gefärbter Roman «Ephebos» und seine an den Liebhaber Boris Khochno gerichteten, im Programmheft abgedruckten Gedichte werden im westlichen Ausland als wesentlicher Bestandteil von Szymanowskis Biographie rezipiert, nicht aber in den ehemaligen Ost-Staaten. Schon die Premiere von «König Roger» geriet in Kosice zum Politikum: Nach dem Mord an zwei jungen Schwulen durch den Sohn eines nationalkonservativen Politikers vor einer LGBTIQ-Bar in der slowakischen Hauptstadt Bratislava (MANNSCHAFT berichtete) war sie Teil der in der ganzen Slowakei durchgeführten Aktion, dem Aufruf von Veranstaltungen zur Solidarität mit den Hinterbliebenen der Opfer.
Auf offiziellen Budapester Pressefotos sah man eindeutige Begegnungen zwischen Roger und dem Knaben. Durch einen geschickten Schachzug umging das Leitungsteam einen Verstoss gegen das 2021 in Ungarn verabschiedete Anti-LGBTIQ-Gesetz: Roger sucht mehrfach den vom Berater zum Psychoanalytiker umgedeuteten Edrisi (Maksym Kutsenko) auf. Insofern liefert die Produktion keinen direkten «Zugang zu Inhalten, die ‹Änderungen des Geschlechts sowie Homosexualität› popularisieren oder darstellen». Ca. 85% der Plätze waren in den Eiffel Art Studios besetzt, für eine relativ unbekannte Oper eine hohe Platzausnutzung. Der Budapester Staatsopernintendant Szilveszter Ókovács dankte dem Produktionsteam und Mitwirkenden herzlich.
Alle repräsentierenden und verantwortenden Anwesenden aus Ungarn und der Slowakei finden enthusiastische Worte für die Qualität und Ästhetik der Aufführung. Auf Fragen nach dem Wie, Warum und der öffentlichen Ausstrahlung der Vorstellung schweigen sie oder antworten mit einem vollkommen anderen Thema.
Verstanden werden Inhalt und Aussage des Gastspiels aus Kosice offenbar vom Publikum. Szymanowskis autobiographisch deutbare Oper gehört wie Lucchino Viscontis Film nach Thomas Manns ‹metaphorischer› Erzählung «Der Tod in Venedig» vor vierzig Jahren im deutschen Sprachraum zum kollektiven schwulen Gedächtnis slawischer Länder. «König Roger» besitzt für die queere Community dort also eine nonverbale Signal- und Erkennungsfunktion. Erst recht in dieser Inszenierung, die das sichtbar macht. Schon deshalb sind solche Projekte unter der Orban-Regierung, aber auch in der Slowakei wichtig. Doppelmoral bietet also durchaus Chancen zu einer latenten Breiten- und Diskurswirkung.
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