Ich kriege eine Glatze: Wie ich mich damit anfreunden will

Symbolbild: Adobe Firefly
Symbolbild: Adobe Firefly

Oft leiden Männer, wenn sie ihr Kopfhaar verlieren. Viele fühlen sich weniger attraktiv, das Selbstvertrauen sinkt. Gedanken zu einem Phänomen, das beschäftigt, aber nach wie vor tabuisiert wird.

Ich war Mitte 20, als der Haarausfall einsetzte. Damals trug ich schulterlanges Haar, das ich mit den zaghaften Ansätzen eines Bartes kombinierte. Ich fühlte mich angenehm unangepasst, ein bisschen wild, ein klein wenig rebellisch. Nicht selten sprachen mich auf der Strasse wildfremde Leute an und teilten mir mit, ich sähe aus wie ein moderner Jesus. Das gefiel mir, ich fühlte mich geschmeichelt. Überhaupt, ich liebte meine Haare! Zeitlebens hatte ich Komplimente dafür erhalten, besonders im Sommer, wenn sich der Schopf ins Goldblond verfärbte. Jahrelang war ich selig, schwebte unbeschwert im Haarhimmel.

Umso schockierender, als irgendwann ungewohnt viele Haare auf dem Kopfkissen liegen und in der Bürste hängen blieben. Es war ein schleichender Prozess, und über Monate war ich der Einzige, dem der Haarschwund auffiel. Dieser äusserte sich darin, dass sich langsam Geheimratsecken bildeten und die Haare am Stirnansatz dünner und brüchiger wurden. Ich realisierte: Früher oder später würde ich das Leben mit einer Glatze bestreiten. Diese Erkenntnis war niederschmetternd, eine Welt brach zusammen. Mir war, als dresche jemand mit einem Vorschlaghammer auf mein Selbstvertrauen ein.

Emotionale Last Ähnliches empfinden viele Männer, denen dieses Schicksal widerfährt. Dies zeigen mir nicht nur Gespräche mit Freunden, die unfreiwillig Haare lassen. Auch verschiedene Studien belegen, dass Haarausfall aufs männliche Gemüt schlägt. Vor vier Jahren ergab eine Untersuchung der Charité-Universitätsmedizin in Berlin, dass Haarverlust für Männer eine «enorme emotionale Last» darstellt und zu einer Minderung des Selbstwertgefühls führen kann. Zum gleichen Resultat kam eine multinationale Umfrage, die von Expert_innen verschiedener europäischer Universitäten durchgeführt und in der Fachzeitschrift «Current Medical Research and Opinion» veröffentlicht wurde.

Früher oder später würde ich das Leben mit einer Glatze bestreiten. Diese Erkenntnis war niederschmetternd, eine Welt brach zusammen.»

Das Forschungsteam interviewte 1536 Männer zwischen 18 und 45 in britischen, deutschen, französischen, italienischen und spanischen Grossstädten. Dabei gaben knapp 50 Prozent der Befragten an, dass sie Haare verlören. Von den Betroffenen meinten wiederum mehr als 70 Prozent, dass Haare ein wichtiges Merkmal ihres Erscheinungsbildes darstellten, während 62 Prozent die Ansicht vertraten, der Haarausfall ziehe ihr Selbstvertrauen in Mitleidenschaft. Bei jedem Fünften ging das Ausfallen der Haarpracht sogar mit depressiven Verstimmungen einher.

Eine «stille Epidemie» «Es ist deprimierend, seine Haare zu verlieren» – so lautet denn auch der Titel eines Artikels, den Paul Willis für die Zeitschrift Vice verfasste. Zahlreiche Untersuchungen zeigten, dass haarlose Männer als weniger attraktiv empfunden würden, schreibt Willis. «So überrascht es kaum, dass der Verlust des Kopfhaares für Männer eine schmerzhafte Erfahrung sein kann.» Und für Spencer Corben steht fest: «Haarausfall ist die Achillesferse des Mannes.» Der US-Amerikaner muss es wissen: Zum einen moderiert er seit über sechzehn Jahren die Radioshow «The Bald Truth» («die kahle Wahrheit»). Diese widmet sich neben den verschiedensten Fragen rund um Lifestyle und Sexualität vor allem auch dem Thema Haarausfall.

Zum anderen hat Corben die «American Hair Loss Association» (AHLA) gegründet – eine Organisation, die sich einem ganz bestimmten Ziel verschrieben hat: Unter anderem will sie die «Öffentlichkeit, medizinisches Fachpersonal, die Mainstream-Medien und den Gesetzgeber über die emotional verheerenden Auswirkungen von Haarverlust informieren», wie die AHLA auf ihrer Website schreibt. Dabei bezeichnet sie die androgenetische Alopezie – dies der medizinische Fachausdruck für den erblich bedingten Haarausfall bei Männern – als eine «stille Epidemie».

Teil des Alterungsprozesses Davon betroffen sind viele: Gemäss dem Dermatologen Pierre de Viragh, Leiter der Haarsprechstunde an der Universitäts­klinik Bern, ist Haarausfall bei Männern «sehr häufig» und Teil des natürlichen Alterungsprozesses. Jeder Fünfte sei in seinen Zwanzigern schon betroffen, jeder Dritte in den Dreissigern, und ab 40 trete die Alopezie in praktisch allen Fällen ein. «In diesem Alter gehören Geheimratsecken und eine Ausdünnung des Scheitels beinahe immer dazu», so de Viragh im Gespräch mit der Mannschaft.

Foto: Pascal Tripone
Foto: Pascal Tripone

«Seltener Einblick in die männliche Seele» Obwohl Haarausfall ein normales Phänomen der männlichen Lebensrealität darstellt, hadern die meisten damit. Das dürfte nicht zuletzt daher rühren, dass heute auch Männer einem strikten Schönheitsideal unterliegen. «Als mein Vater noch jünger war, musste ein Chef nur wie ein Chef aussehen – und dicke, kahle Chefs waren damals die stereotype Norm», schreibt Jessica Machado auf thecut.com. Für die neuen Generationen von Männern gälten nun aber andere Standards.

«Studien zeigen, dass sich Männer heutzutage sehr viel mehr Gedanken über Glatzen, Bierbäuche und schlaffe Brustmuskeln machen als ihre Gross- und Urgrossväter.» Dass die Aussicht auf Glatze den Männern Sorgenfalten auf die Stirn treibt, findet Jessica Machado «spannend». Nicht, weil «ich die Ängste der Betroffenen weiter schüren will», stellt Machado klar. «Schliesslich weiss ich als Frau nur allzu gut, wie es sich anfühlt, von anderen kritisch angeschaut und beurteilt zu werden.» Vielmehr sei es faszinierend, für einmal einen Einblick in die Unsicherheiten und die Verletzlichkeit einer ganzen Generation von Männern zu erhalten.

«Ertrag das gefälligst!» Offen über diese Sorgen zu sprechen, fällt den meisten schwer. «Die Gesellschaft verbietet es den Männern, ihr Unwohlsein mit ihrem Aussehen auszudrücken», sagt Spencer Kobren im Magazin Vice. Vielmehr werde vom Mann erwartet, dass er über solchen Dingen stehe und Bemerkungen zu seiner Optik stoisch ertragen könne. Ganz besonders – so scheint es – hat er mit Äusserungen zu seinem Haarausfall klarzukommen. Die meisten haben wohl schon miterlebt, wie Männer mit Sprüchen zu ihrem lichter werdenden Schopf konfrontiert werden. Der Tonfall der Kommentare reicht dabei von besorgt über erstaunt hin zu höhnisch-spöttisch.

«Haare haben seit jeher eine starke symbolische Bedeutung, stehen für Jugendlichkeit und Stärke.»

Spencer Kobren bezeichnet die männliche Alopezie denn auch als «letzte Bastion der politischen Inkorrektheit». «Kaum einer würde zu jemandem hingehen und die Person auf ihre Gewichtszunahme ansprechen», so Kobren. Demgegenüber gehe es völlig in Ordnung, wenn man zu einem Typen marschiere und sage: «Nun schau sich das einer an! Es sieht so aus, als ob du deine Haare verlierst!?» Gerade auch für die Medien ist der Haarausfall berühmter Männer ein gefundenes Fressen. Wer bei Google die Stichwörter «Prince William» und «Hair» eingibt, erhält knapp vier Millionen Suchergebnisse – eine Flut von Artikeln, die sich der schwindenden Haarpracht des britischen Adligen widmet. Ersetzt man deren Namen mit jenem von Schauspieler Jude Law, erhält man gar zehn Millionen solcher Einträge.

Starke Symbolik Dass Haare für uns Menschen so wichtig sind, ist eine «historische Tatsache», wie Dermatologe Pierre de Viragh erklärt. «Haare haben seit jeher eine starke symbolische Bedeutung, stehen für Jugendlichkeit und Stärke.» So war zum Bespiel schon die unbezwingbare Körperkraft des alttestamentarischen Helden Samson untrennbar mit seinem Haupthaar verknüpft. Um ihn besiegen zu können, schoren ihm seine Gegner im Schlaf den Kopf. Erst als das Haar wieder nachgewachsen war, gewann er seine Kraft noch einmal zurück. Des Weiteren wird etwa die Zwangsrasur in vielen Kulturkreisen als Mittel der Demütigung eingesetzt. Die Nazis benutzten «das Schneiden von Haaren, um Menschen auf die empfindlichste Art zu erniedrigen», schreibt Redakteurin Claudia Becker auf welt.de. «Im Warschauer Getto machten sich SS-Männer einen Spass daraus, orthodoxen Juden die Schläfenlocke abzuschneiden.» Und nach dem Zweiten Weltkrieg habe man in Frankreich die «Frauen, die mit deutschen Soldaten ein Verhältnis hatten, durch das Scheren des Kopfes bestraft und kahlköpfig unter dem Gespött der Leute durch die Strassen gehetzt».

Bilder im Kopf Fest steht, dass man mit Haaren vieles ausdrücken und verschiedenste Effekte erzielen kann. Gerade bei Männern sende die Frisur dabei durchaus ambivalente Signale aus, erklärt Pierre de Viragh. «Unter Umständen wirken Glatzen männlich. Oder sie werden, wie das Beispiel von Buddha zeigt, mit Weisheit verbunden.» Insgesamt seien kahle Köpfe aber nach wie vor mit eher negativen Assoziationen behaftet. «Man weiss zum Beispiel von Studien, wonach es Glatzenträger bei der Jobsuche schwerer haben», so de Viragh. Und Kolumnist Daniel Jones beschreibt es in der New York Times so: «Wie jeder und jede andere bin auch ich schon Zeuge davon geworden, wie eine fortschreitende Glatze sogar die jugendlichsten und schönsten Männer plötzlich alt und clownesk aussehen lassen kann.»

Die Übeltäter? Gene und Geschlechts­hormone Warum aber fallen Haare überhaupt aus? «Der Grund liegt in den Genen, etwas vereinfacht gesagt», sagt Pierre de Viragh. Wie der Arzt erklärt, hängt es von der genetischen Veranlagung eines Mannes ab, wie empfindlich seine Haarwurzeln auf das männliche Geschlechtshormon Dihydrotestosteron (DHT) reagieren. «Das DHT ist ein Nebenprodukt des Testosterons und hat im Körper eigentlich nur eine Funktion: Im Zeitraum zwischen dem Embryonalstadium und der Pubertät sorgt es für die Ausbildung und Entwicklung der männlichen Genitalien.» Nach Abschluss der Pubertät verliere das DHT aber seinen Zweck und treibe eigentlich «nur noch Unsinn», wie es de Viragh formuliert. «Es lässt nicht nur Nasen- und Ohrenhaare spriessen, sondern auch die Prostata anwachsen. Und es bewirkt den Verlust des Kopfhaares, indem es die Haarwurzel angreift.» Diese verkümmert infolge dessen, das Haar fällt aus. «Aber eben nicht jeder reagiert gleich auf das DHT», betont de Viragh. «Je nach Genpool des Mannes sind seine Haarwurzeln mehr oder weniger anfällig auf das Hormon.»

Man kann sich wehren Vom Griff zum Toupet einmal abgesehen, waren Männer früher machtlos gegen diese Entwicklung. Heute hingegen bestehen verschiedene Möglichkeiten, um der Glatzenbildung entgegenzutreten. Da wäre zum einen das Verfahren der Haartransplantation. Dabei werden am Hinterkopf intakte Haarwurzeln entnommen und an den kahlen Stellen wieder eingesetzt. Nach ein paar Monaten sollten dann neue Haare spriessen.

Eine Garantie, dass die transplantierten Wurzeln tatsächlich anwachsen, besteht allerdings nicht. Zum anderen verfügt die Pharmazie mit Minoxidil und Finasterid über zwei Medikamente, die als wirksam gelten. Alle anderen im Handel angepriesenen Mittelchen, Tabletten und Tinkturen – da sind sich die Experten einig – taugen nichts.

Vom Neben- zum Haupteffekt Was das Minoxidil angeht, so war dieses ursprünglich zur Senkung von Bluthockdruck entwickelt worden. Bald schon offenbarte sich aber ein interessanter Nebeneffekt: Das Medikament liess bei manch einem Patienten die Haare wieder wachsen. Daraufhin wurde die Neben- zur Hauptwirkung erhoben, heute setzt man Minoxidil nur noch im Kampf gegen den Haarverlust ein. Die Flüssigkeit wird morgens und abends sanft auf die Kopfhaut aufgetragen, wobei man sie aber nicht einmassieren sollte. «Einmassieren kann zu Irritationen führen», erklärt Pierre de Viragh. «Manch einer setzt das Medikament daraufhin ab, weil er die Irritationen fälschlicherweise für eine Allergie hält.» Wie genau das Präparat funktioniert, steht bis heute nicht abschliessend fest. Sicher falsch sei aber die oft gehörte Behauptung, Minoxidil wirke, indem es für eine bessere Durchblutung im Haarwurzelbereich sorgte, so de Viragh. «Minoxidil stimuliert die Haare auch in der Zellkultur, und zwar abgekoppelt von der Blutversorgung.»

Foto: Pascal Triponez
Foto: Pascal Triponez

Kein DHT mehr, bitte Die Wirkungsweise von Finstasterid ist demgegenüber geklärt: Es blockiert das Enzym, das für die Umwandlung von Testosteron zu DHT verantwortlich ist. Mit anderen Worten: Die Einnahme von Finasterid-Tabletten sorgt dafür, dass der Körper kein DHT mehr bildet. Jene Haarwurzeln, die auf DHT anfällig sind, bleiben dementsprechend unversehrt und erfreuen sich weiterhin ihres Lebens. Die Folgen sind erstaunlich: Bei fast allen Betroffenen wird der Haarausfall gestoppt, in vielen Fällen kann gar ein Nachwachsen der Haare beobachtet werden – all dies jedoch nur, solange die Tablette täglich eingenommen wird. Setzt man die Behandlung ab, nimmt auch der Haarausfall wieder seinen Lauf.

Haare – mit Nebenwirkungen? Finasterid ist ausgesprochen wirksam, doch ganz unumstritten ist es nicht: Seit Längerem weiss man, dass die Einnahme des Präparats zu unangenehmen Begleiterscheinungen wie Hodenschmerzen, einer Verminderung der Libido oder Potenz­schwierigkeiten führen kann. Laut de Viragh rechnet man, dass bei rund 1 von 200 solche Nebenwirkungen auftreten.

«Vereinfacht gesagt geht es um die Frage: Will ich Sex oder Haare?»

«Bei vielen, die das Medikament weiterhin einnehmen, verschwinden diese Störungen aber mit der Zeit.» All jene, bei denen das nicht der Fall sei, müssten sich entscheiden: Mittel absetzen oder weiterhin schlucken? «Vereinfacht gesagt geht es dann um folgende Frage: Will ich Sex oder Haare?», so de Viragh. Wie der Arzt erklärt, sind die Nebenwirkungen des Finasterids in aller Regel reversibel – sie verschwinden also, sobald der Betroffene auf die Pilleneinnahme verzichtet.

«Post-Finasterid-Syndrom» Nun gibt es aber auch jene, die Gegenteiliges berichten: Die Nebenwirkungen seien geblieben, obwohl sie das Medikament abgesetzt hätten, so die Aussage der Betroffenen. Das Phänomen, wonach Finasterid zu bleibenden Langzeitschäden führen kann, wird als Post-Finasterid Syndrom (PFS) bezeichnet. Geprägt wurde der Begriff von der «Post-Finasteride Syndrome Foundation», einer NGO aus dem US-amerikanischen Bundesstaat New Jersey. Finasterid könne «niederschmetternde und lebensverändernde Folgen für die sexuelle, psychische und physische Gesundheit von Männern haben», schreibt die Organisation auf ihrer Webseite. Sie will deshalb vor allem die wissenschaftliche Forschung zum PFS vorantreiben und «weltweit ein Bewusstsein für die Thematik schaffen.»

«Kein sexuelles Verlangen» Dieses Bewusstsein, so scheint es, nimmt tatsächlich fortlaufend zu. «Der grösste Widerstand gegen Finasterid formt sich derzeit in den USA», schrieb vor ein paar Monaten etwa die Neue Zürcher Zeitung (NZZ). Der Titel des Artikels: «Kampf gegen Glatze ist nicht frei von Risiken». In den Staaten würden mittlerweile hunderte von Klagen die Gerichte beschäftigen. «So soll die regelmässige Einnahme des Wirkstoffs zu möglicherweise irreversiblen Folgen wie Potenzstörungen, Libidoverlust und Depressionen führen.» Auch Magazine wie Der Spiegel oder Men’s Health haben schon über das PFS geschrieben, wobei besonders der ausführliche Bericht auf menshealth.com ziemlich schwere Kost bereithält. Autor Jim Thornton zitiert nicht nur beunruhigende Studien zum PFS, sondern legt auch Erfahrungsberichte Betroffener dar. Wie jenen von Mark, zum Beispiel, bei dem die Symptome kurz nach Absetzen des Medikaments zurückgekommen seien, «und zwar schlimmer als je zuvor». Sein Lustempfinden, so Mark, sei «komplett verschwunden», ein Bedürfnis nach Sex habe er schlicht nicht mehr empfunden.

«PFS-Hysterie» Am Ende des Artikels weist Thornton aber auf den wichtigen Punkt hin, dass das PFS weiterhin eine kontroverse Diagnose darstelle. «Die PFS-Skeptiker halten es für ebenso wahrscheinlich, dass andere Gründe – der Alterungsprozess, zum Beispiel, oder psychosomatische Erkrankungen – für die Beschwerden der Männer verantwortlich sind.» Auch Pierre de Viragh gibt sich im Hinblick auf das Post-Finasterid-Syndrom vorsichtig. «In der Fachwelt ist es sehr umstritten, ob das PFS wirklich existiert.» Die Nebenwirkungsrate von Finasterid sei dieselbe wie vor zwanzig Jahren, und bei «den meisten verläuft die Behandlung problemlos», so de Viragh.

Entsprechend empfehle und verschreibe er das Mittel weiterhin. Auch der Dermatologe Ralph Trüeb, ehemaliger Leiter der Haarsprechstunde am Unispital Zürich, relativiert die PFS-Problematik. In der NZZ erklärte er, ihm sei in seiner Praxis in zwanzig Jahren noch kein einziger Fall mit Post-Finasterid-Syndrom begegnet, während Hans Wolff, Haarsprechstundenleiter an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, von einer «kollektiven Hysterie» spricht, die in den USA ausgebrochen sei. Wen aber Zweifel plagten, so der Rat des Experten, solle das Mittel absetzen.

Persönliche Erfahrung: Es funktioniert Ich selbst nahm Finasterid mehrere Jahre lang ein. Dass der Wirkstoff Nebenwirkungen haben könnte, war mir schlicht und einfach egal, als ich die erste Pille aus der Packung drückte und mit einem Schluck Wasser runterspülte. Der Wunsch, mein Haar nicht zu verlieren, war damals übermächtig – nie und nimmer hätte mich die statistisch geringe Wahrscheinlichkeit negativer Begleiterscheinungen abschrecken können. Und tatsächlich, es funktionierte: Nach kurzer Zeit kam der Haarausfall zum Stillstand, wenig später begannen gar neue Haare zu spriessen. Ich war begeistert: Als ich meinen 30. Geburtstag feierte, hatte ich dichteres Haar als mit 26! Allfällige Nebenwirkungen blieben dabei vollständig aus, ich hatte keinerlei Beschwerden. Insofern hat mir das Medikament sehr geholfen: Es bewahrte mich davor, mich umgehend und unvorbereitet mit einer körperlichen Veränderung auseinandersetzen zu müssen, die mich womöglich in die geistige Selbstzerfleischung getrieben hätte. Das Präparat verschaffte mir Zeit, sozusagen.

Mehr Selbstvertrauen Ich erinnere mich, wie ich in jenen Tagen mit meinem Bruder über das Thema sprach. Auch sein Haar hatte sich zu lichten begonnen, doch im Gegensatz zu mir liess er der Natur freien Lauf. Natürlich machte er keine Freudensprünge ob der Tatsache, dass sich seine einst luxuriösen Locken langsam von der Bühne verabschiedeten. Aber er war mit seiner eigenen Person derart im Reinen, dass er die Entwicklung ertragen konnte. Er ruhte in sich, während ich meinen Eigenwert noch allzu sehr über mein Aussehen, und mein Aussehen noch allzu sehr über meine Haare definierte.

 

Foto: Pascal Triponez
Foto: Pascal Triponez

Ein langer, aber machbarer Weg Vor ein paar Monaten habe ich das Medikament nun abgesetzt. Nicht, weil doch noch Nebenwirkungen aufgetreten wären. Auch nicht, weil mich der langsam wieder einsetzende Haarausfall urplötzlich kalt liesse. Noch immer ertappe ich mich manchmal dabei, wie ich wehmütig an die Zeit zurückdenke, in der ich mit der Hand durch meine langen Haare fahren konnte. Noch immer versetzt es mir bisweilen einen Stich ins Herz, wenn sich ein weiteres Haar löst und vor meinen Augen zu Boden schwebt, einem gelbverfärbten Blatt im Herbstwind gleich. Und noch immer kann es vorkommen, dass ich mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung auf den makellosen und unversehrten Haaransatz des Mannes starre, der mir im Zug gegenübersitzt oder auf der Strasse meinen Weg kreuzt. Im Gegensatz zu früher aber kann ich diese Gefühle besser ertragen und einordnen.

Zurück zur Natur Meinen Entscheid, das Finasterid abzusetzen, verstehe ich als die Folge eines Anspruches, den ich an mich selbst gestellt habe: Den Anspruch, mich von den Fesseln belastender Schönheitsdiktate zu befreien und mein Lebensglück nicht länger davon abhängig zu machen, ob ich Haare auf dem Kopf trage oder nicht. Fakt ist, dass ich ein gesunder Mensch bin. Der tägliche Griff zu einem Medikament, das in meinen Hormonhaushalt eingreift, war von einem medizinischen Standpunkt aus noch nie angezeigt. Vielmehr bestand aus persönlicher Sicht eine gewisse Dringlichkeit zur Einnahme: Finasterid half mir durch eine Zeit, in der mir der Haarausfall noch sehr zugesetzt hätte. Insofern bin ich dankbar für das Mittel und einer der Letzten, der negative Worte darüber verliert. Doch nun – so glaube ich – komme ich ohne klar. Vor allem will ich ohne klarkommen.

Selbst in die Hand nehmen Ein letzter Punkt sei an dieser Stelle noch erwähnt: Wenn man dem Autor Daniel Jones glaubt, dann dürfte die kopfhaarlose Zukunft sowieso ganz erträglich werden. «Die Kahlrasur erlebt derzeit ihre Hochblüte», schreibt Jones in der New York Times. Der Trend komme gerade zur rechten Zeit für «Typen wie ihn, die diesen drastischen Schritt nie gewagt hätten, wenn nicht zahlreiche andere vor ihm den nötigen Mut gehabt hätten». Man habe es Männern wie Kelly Slater und Jason Statham, Vin Diesel, Michael Stipe oder Sir Ben Kingsley zu verdanken, dass ein blanker Kopf unterdessen salonfähig sei. «Darüber hinaus ist es ein grosser psychologischer Vorteil, sich irgendwann komplett von der schütter werdenden Haarpracht zu trennen», meint Jones: «Es ist dasselbe, wie wenn man der Partnerin oder dem Partner den Laufpass gibt, bevor sie oder er es kann», so Jones’ bildhafte Erklärung. «Oder wie wenn man ins Büro des Chefs stürmt und sagt: Du kannst mich nicht feuern – ich kündige!»

Fotos: Pascal Triponez Photography Make-up: Philipp Keusen Model: Winston Arnon

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