Ingrid Stahmer kämpfte für Vielfalt und Gleichstellung
Ein Nachruf auf Berlins ehemalige SPD-Bildungssenatorin
Ingrid Stahmer, ehemalige Sozial-, Gesundheits- und Bildungssenatorin in Berlin, ist im Alter von 77 Jahren gestorben. Stahmer gehörte von 1989 bis 1999 dem Senat an und führte die SPD 1995 in die Abgeordnetenhauswahl. Als Schulsenatorin war sie einst auch verantwortlich für den «Fachbereich für gleichgeschlechtliche Lebensweisen» und setzte Akzente wie niemand vor (oder nach) ihr in dem Amt. Ein Nachruf von Detlef Mücke aus der AG Schwuler Lehrer in der GEW Berlin.
Ingrid Stahmer ist am 30. August 2020 im Alter von 77 Jahren in Berlin verstorben. Mit ihr verliert Berlin eine Politikerin, die sich in ihrem politischen Leben schwerpunktmässig für die Gleichstellung der Geschlechter und für die Akzeptanz von Vielfalt eingesetzt hat. Als Senatorin für Schule, Jugend und Sport leitete sie 1995 eine Ära sozialdemokratischer Bildungs- und Gleichstellungspolitik ein.
Ihre christdemokratischen Vorgänger*innen im Amt «glänzten» mit unwissenschaftlichen und diskriminierenden Äusserungen, wie z. B. Hanna Renate Laurien: «in den Schulen wird Homosexualität auch durchgenommen …als eine Form, die wahrhaftig nicht die erstrebenwerte Erziehungsform ist.» Oder Jürgen Klemann, der der Auffassung war, «biologisch normal ist die Heterosexualität» und Aufklärungsprojekte in Schulen mit der Begründung ablehnte, dass «sei eine Werbeveranstaltung für ausserschulisches Intimverhalten.»
Ingrid Stahmer, die auch politisch als Schulsenatorin verantwortlich war für den «Fachbereich für gleichgeschlechtliche Lebensweisen», vertrat jedoch die Meinung, dass «jeder Mensch seine Lebensform selbst bestimmen und eigenverantwortlich leben können muss.“ Sie setzte sich deshalb für rechtliche Absicherung verschiedener Lebensformen und deren soziale Anerkennung ein. Schon 1995 wurde vom Abgeordnetenhaus Berlin Artikel 10 (2) der Berliner Verfassung dahingehend ergänzt, dass niemand wegen …seiner sexuellen Identität benachteiligt oder bevorzugt werde. Auch wurde Artikel 12, der Ehe und Familie unter besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt, erweitert: «Andere auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften haben Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung.»
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Um diese Werte im Schul- und Jugendbereich umzusetzen, unterstützte sie die Aufklärungs- und Bildungsarbeit, die in Berlin vom Fachbereich für gleichgeschlechtliche Lebensweisen geleistet wurde, um Vorurteile gegenüber Lesben und Schwulen abzubauen. Erklärtes Ziel ihrer Bildungspolitik war es zu vermitteln, dass «Homo- Hetero- und Bisexualität gleichwertige Formen des Empfindens und der sexuellen Identität des Menschen sind.»
Pädagogische Ansätze, die Vielfalt an Lebens- und Liebesformen berücksichtigen Mit ihrer politischen und finanziellen Unterstützung fand in Berlin vom 17. bis 19. September 1997 der 2. Pädagogische Kongress «Lebensformen und Sexualität – Herrschaftskritische Analysen und pädagogische Perspektiven» statt, der von der Senatsverwaltung für Schule, Fachbereich für gleichgeschlechtliche Lebensweisen, der Diesterweg Hochschule e. V., der TU, Kultur- und Erziehungswissenschaftliche Frauenforschung, der Hochschule der Künste, Fachbereich Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften und der GEW Berlin, AG Schwuler Lehrer, organisiert wurde. 500 Teilnehmer*innen aus dem In- und Ausland kamen zusammen und es gab ein Forum für Austausch und Weiterentwicklung pädagogischer Ansätze, die die Vielfalt an Lebens- und Liebesformen berücksichtigen.
In dieser Zeit führte die AG Schwuler Lehrer in der GEW Berlin auch Gespräche mit Ingrid Stahmer und erzielte viele positive Ergebnisse. So wurde beschlossen, die Richtlinien zur Sexualerziehung, die seit dem Jahre 1972 galten, zu aktualisieren und dabei die Weiterentwicklung der Sexualwissenschaft und –pädagogik zu berücksichtigen. Die 2001 veröffentlichten neuen Richtlinien zu Sexualerziehung waren damals bundesweit die fortschrittlichsten.
Für uns schwule Lehrer war der folgende Passus besonders wichtig: «Gerade in der Zeit, in der die Heranwachsenden sich über ihre gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung klar werden und dies auch nach aussen deutlich machen (Coming-out) benötigen sie ein akzeptierendes Umfeld, Informationen und Ansprechpartner/innen. Wichtig sind persönliche Vertrauensbeziehungen und Vorbilder. Offen homosexuell lebende Lehrkräfte und deren Akzeptanz im Kollegium tragen zu einer schulischen Atmosphäre bei, die die sexuelle Identitätsentwicklung von Schülerinnen und Schülern erleichtert.»
Schwule wurden damit nicht mehr als «Triebverbrecher» bezeichnet wie im Film aus dem Jahr 1974 «Christian und sein Briefmarkenfreund», der als einziger Film zum Thema Homosexualität in den Landesbildstellen ausgeliehen werden konnte, sondern galten nun als Vorbild für Jugendliche in der Coming-out-Phase.
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Weiterhin gab es eine «Handreichung für die weiterführenden Schulen – Lesbische und schwule Lebensweisen» und unterstützende Rundschreiben an die Schulen, die auf die emanzipatorische und gewaltpräventive Arbeit von Projekten hinwiesen und engagierte Lehrkräfte ermutigen sollten, auch «heikle» Themen im Unterricht anzupacken.
Schliesslich beauftragte Frau Stahmer ihre Verwaltung, eine Studie zur psychosozialen Situation junger Lesben, Schwuler und Bisexueller in Berlin zu erstellen: «Sie liebt sie. Er liebt ihn.» Die GEW Berlin druckte die Veröffentlichung in mehrtausendfacher Auflage. Die erschreckenden und ernüchternden Ergebnisse der Studie waren Grund für die Senatsverwaltung, die Angebote für junge Lesben, Schwule und Bisexuelle weiterzuentwickeln und die Aufklärungs- und Fortbildungsarbeit zum Thema gleichgeschlechtliche Lebensweisen in Schule und Jugendhilfe zu intensivieren.
Das, was in Berlin erreicht wurde, strahlte auf andere Bundesländer aus. Von daher ist es das Vermächtnis von Ingrid Stahmer, zu ihrer Zeit die Weichen gestellt zu haben für eine Weiterentwicklung. Ihre Weitsicht führte dazu, dass es in fast allen Bundesländern heute «Aktionspläne für Vielfalt und Akzeptanz» und in Berlin die «Initiative für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt» gibt.
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Dies und ihre Grundeinstellung hat schliesslich auch dazu geführt, dass im Jahr 2019 sich Sandra Scheeres, eine ihrer Nachfolger*innen, «im Namen des Berliner Senats für das damals von staatlicher Seite verübte Unrecht entschuldigt hat», als dieser Anfang der 1970er Jahre versuchte, schwule Lehrer mit einem Berufsverbot zu belegen.
Die AG Schwuler Lehrer in der GEW Berlin dankt Ingrid Stahmer für die Einleitung eines Paradigmenwechsels in der Bildungs- und Gleichstellungspolitik und behält sie in Erinnerung als eine Politikerin, bei der zu spüren war, dass ihr Engagement für ihre politischen Ziele auch eine Herzensangelegenheit war.
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