Hast du Geheimnisse? Damit bist du nicht allein
Welche Geheimnisse wir für uns behalten und welche wir besser teilen sollten
Im Durchschnitt hütet der Mensch 13 Geheimnisse. Was sind das für welche? Warum belasten sie uns? Sollten wir sie bewahren oder besser teilen? Eine Suche nach der Wahrheit hinter unseren Geheimnissen.
«Leise rieselt der Schnee. Still und starr liegt der See. […] In den Herzen ist’s warm. Still schweigt Kummer und Harm. […]» So beginnen die zwei ersten Strophen des Weihnachtsliedes «Leise rieselt der Schnee». Familien singen sie, wenn sie sich treffen, einander glänzende Geschenke reichen, sich ihre Bäuche vollschlagen und Herzenswärme über frostige Gedanken stellen. Nun stell dir vor: Es ist Heiligabend. Bei Familie Keller. Oma Gina und Opa Ulrich sitzen unter dem Weihnachtsbaum mit ihrem Sohn Ricardo und ihrer Tochter Valentina samt Schwiegersohn Tom und pubertierender Enkeltochter Marie. Mit diesen sechs Personen befinden sich wahrscheinlich auch 78 Geheimnisse im Raum.
Was behalten Menschen für sich? Wir alle verheimlichen etwas. Im Schnitt hüten wir 13 Geheimnisse, davon haben wir 5 noch keiner Menschenseele erzählt. Bei den anderen 8 gibt es zumindest ein*e Mitwisser*in. Herausgefunden hat das der Psychologe Michael Slepian, der die Geheimnisforschung in den vergangenen Jahren revolutioniert hat. Gemeinsam mit seinen Forschungskolleg*innen fragte er Testpersonen, was sie anderen nicht verraten – daraus entstanden 38 Kategorien der Geheimnisse, darunter Lügen, sexuelle und emotionale Untreue, Finanzen, heimliche Liebe, sexuelle Vorlieben, Drogenkonsum, sexuelle Orientierung, Unzufriedenheit mit eigenem Körper. Von 1500 Proband*innen gaben lediglich 30 an, nichts von dem, was diese 38 Kategorien fassen, erlebt zu haben.
Es gibt auch Geheimnisse, die Feuer für die Liebe sein können. Denn zu viel Offenheit in der Beziehung führt zu Offensichtlichkeit. Unser Gehirn reagiert stärker auf Überraschendes als auf Vorhersehbares: Wenn wir unser*e Partner*in so gut kennen, dass wir voraussagen können, was er*sie tun wird, ist es nicht mehr interessant für uns.
Wie jeden Heiligabend nach der Weihnachtsente wuchtet Oma Gina ihr traditionelles Tiramisu auf den Tisch. Ein Familienrezept, das sie bisher nicht einmal ihren Kindern verraten hat. Opa Ulrich liebt dieses Dessert abgöttisch, viel mehr als er heimlich für Omas beste Freundin Ingeborg schwärmt.
Sohn Ricardo hebt seinen Teller hoch, um seine Portion Tiramisu in Empfang zu nehmen – tief in sich verbirgt er vor seinen Eltern, dass er Männer liebt. Nur seine Schwester Valentina hat er vor Jahren eingeweiht. Im Gegenzug hat sie ihm verraten, dass sie einen One-Night-Stand mit einer Frau hatte, wovon ihr Mann Tom aber keinesfalls etwas erfahren darf. Was hingegen Valentina nicht weiss: Tom hat Spielschulden vom Online-Poker. Und niemand im Esszimmer bemerkt gerade, wie Marie sich die Weihnachtsente auf der Toilette herauskotzt, damit sie nicht noch fetter wird.
Warum haben wir Geheimnisse? Der wichtigste Grund für Geheimniskrämerei ist, sich selbst oder andere zu schützen. Wir haben Angst davor, nicht mehr gemocht oder respektiert zu werden. Ich bin nicht homosexuell. Ich bin nicht arbeitslos. Ich habe keine Essstörung. Oft sagen wir auch nicht, was wir denken, und halten unsere wahre Meinung geheim. Wir wollen Konflikte vermeiden, die Beziehung nicht gefährden oder streben nach Akzeptanz und Zugehörigkeit.
Im Grunde sind sie etwas Gutes, unsere Geheimnisse, und zudem wichtig für unsere Entwicklung. «Das Geheimnis ist die grösste Errungenschaft der Menschheit», formulierte der Soziologe Georg Simmel 1906. Wenn wir nicht mehr allen alles erzählen, grenzen wir uns ab und bauen die eigene Identität auf. Welcher Mensch wollen wir für andere sein und welcher nicht?
Drei echte Geheimnisse
Auf MANNSCHAFT.com haben wir den Leser*innen ermöglicht, ihre Geheimnisse anonym mit uns zu teilen.
Männlich, 33 Jahre: «Ich stelle mir regelmässig mit meinem Freund vor, wie wir gemeinsam Sex mit jemandem aus unserem Freundeskreis haben. Das macht uns beide ziemlich an und wir haben dabei etwas Spass zu zweit.»
Männlich, 40 Jahre: «Ich habe mehrfach meinen Ehemann betrogen. Wir sind seit sieben Jahren verheiratet und er hat bis jetzt nichts mitbekommen.»
Männlich, 36 Jahre: «Mit Anfang zwanzig schaute ich mit schwulen Freunden Eurovision. Wir waren betrunken und drei übernachteten bei mir – einer davon mit mir im Bett. Er zog meine Unterhosen aus und begann mir einen runterzuholen. Ich wehrte mich, aber er sagte, ich solle mich nicht so anstellen. Also liess ich ihn machen. Heute ärgere ich mich darüber, dass ich mich nicht geweigert habe. Bis jetzt habe ich niemandem davon erzählt, weil ich nicht will, dass die Freundschaft kaputt geht.»
Kinder lernen als Vier- bis Fünfjährige etwas für sich zu behalten – ab dann können sie beispielsweise Verstecken spielen. Geheimnisse wachsen mit uns mit: Aus dem versteckten Teddy wird das Schild «Zutritt verboten», das am Jugendzimmer hängt. Die Pubertät hinter verschlossener Tür. Teenager haben Geheimnisse vor ihren Eltern und das macht sie emotional autonomer, gemäss einer Studie der Sozialpsychologin Catrin Finkenauer. Die Kehrseite: Je weniger Jugendliche ihren Eltern erzählen, umso wahrscheinlicher entwickeln sie psychische Probleme. Ein Effekt, der sich wieder aufhebt, je mehr sie ihren Freund*innen erzählen.
Die Familie Keller liebt nicht nur ihr traditionelles Tiramisu. Sie eint zudem die Tradition «Tatort». Sonntags flimmert der Krimi über den Bildschirm von Oma Gina und Opa Hans, von Sohn Ricardo, von Tochter Valentina und Schwiegersohn Tom. Der Familienchat läuft heiss, sobald es die erste Vermutung gibt, wer der*die Mörder*in sein könnte. Valentina schiebt sich gerade ihren letzten Löffel Tiramisu in den Mund, schluckt hinunter und lenkt das Gespräch auf die «Tatort»-Schauspieler*innen Mark Waschke und Karin Hanczewski, die sich als homosexuell geoutet hatten. Ricardo hält die Luft an. Fast täglich ploppt in seinem Kopf die Frage auf, warum er seinen Eltern nicht sagen kann, dass er schwul ist.
Warum ist es belastend etwas zu verbergen? Slepian und sein Kollege Bastian Brock fanden heraus, dass Menschen zuweilen derart unter ihrer Heimlichkeit leiden, dass sie sich selbst bestrafen. Von 1500 Befragten gestanden 105, dass sie in ihrer aktuellen Beziehung untreu waren, und mehr als die Hälfte von ihnen hatte es verschwiegen. Diese Personen konnten alltägliche Vergnügen nicht mehr gänzlich geniessen, so als wollten sie sich selbst bestrafen und Schmerz spüren. Dennoch fühlten sie sich nicht schuldiger als jene, die ihre Untreue gebeichtet hatten. Dieser Wunsch sich selbst zu bestrafen, folge nur auf schwerwiegende Geheimnisse, die einen sehr belasten. Daran schuld seien nicht einmal die Schuldgefühle selbst, sondern das Grübeln über die Heimlichkeit. Ja, das Grübeln ist die wahre Last des Geheimnisses. Die geheimen Gedanken kehren immer wieder zurück, suchen uns Heim in unserem Alltag und erinnern uns daran, dass wir etwas zu verbergen haben.
Die Studienteilnehmenden grübelten häufiger allein über ein Geheimnis, als dass sie es aktiv vor anderen verbergen mussten. Je mehr sie grübelten, desto schlechter fühlten sie sich. Personen, die Schamgefühle empfanden, dachten deutlich häufiger über ihre Geheimnisse nach als solche, die über Schuldgefühle berichteten, oder jene, die weder Scham noch Schuld fühlten. Slepian erklärt es so: «Es ist der Grad der Grübelei, der ein Geheimnis subjektiv zu einer Belastung macht und uns schadet.»
Viele Studien weisen darauf hin, dass Geheimnisse auf die Stimmung schlagen: Stress, Depression, Einsamkeit, Angst, mangelndes Selbstwertgefühl und leidende kognitive Leistungsfähigkeit. Clayton Critcher und Melissa Ferguson verlangten von ihren Testpersonen, ihre sexuelle Orientierung in einem Interview zu verschweigen. Anschliessend untersuchten sie das räumliche Denken. Die Geheimnishüter*innen schnitten 17 Prozent schlechter ab als die Kontrollgruppe. Sogar die körperliche Kraft schwand um 30 Prozent, als sie nach der Befragung mit der Hand einen Gegenstand zusammenpressen sollten.
Tom zermürbt sein schlechtes Gewissen. Seine Frau und seine Tochter haben etwas Besseres verdient. Er muss mit dem Pokern aufhören. Soll er es Valentina beichten oder sich lieber gleich professionelle Hilfe suchen? Er giesst sich einen Schluck Rotwein nach und wundert sich, wo Marie so lange bleibt.
Was hilft, wenn ein Geheimnis zu schwer auf der Seele liegt? Slepian empfiehlt, seine Geheimnisse kontrolliert zu lüften, um «sich sein ganzes wahres Selbst zurückzuholen». Sich jemandem anzuvertrauen, helfe dem Wohlbefinden, weil man sich dadurch besser unterstützt und im Stande fühle, mit dem Geheimnis umzugehen, – zudem ändere es die Art, wie Menschen darüber nachdenken, und reduziere das Grübeln. Es muss nicht die betroffene Person sein, der man sich offenbart, sondern eine unbeteiligte Partei, etwa ein*e Therapeut*in, Coach*in oder Leidensgenoss*in in einer der Apps oder Plattformen, die eigens dafür gegründet wurden. Nachweislich hilft auch Tagebuchschreiben wie eine Studie gezeigt hat, in der Studierende einen Text über ein bisher verheimlichtes Trauma schrieben, bevor sie gegen Hepatitis B geimpft wurden. Diese wiesen vier und sechs Monate später höhere Hepatitis-B-Antikörperlevel auf sowie insgesamt bessere Immunwerte als Studierende, die über neutrale Themen schrieben.
Valentina und Ricardo sind ein Herz und eine Seele, seit sie nicht mehr unter dem gleichen Dach wohnen. Sie treffen sich jeden Mittwoch in ihrer Lieblingsbar und plaudern so lange, bis sie knapp den letzten Bus schaffen.
Tom ist aufgestanden, um nach Marie zu schauen. Hoffentlich geht es ihr gut. Er klopft an die Toilettentür. Als Marie die Tür öffnet, sieht er in ihre feuchten Augen, der Kopf rosa und im Raum hängt ein säuerlicher Geruch. Er geht auf Marie zu und schliesst die Tür hinter sich.
Wem vertrauen wir Geheimnisse an? Soziologin Finkenauer fand in ihrer Forschung heraus, dass wir die meisten unserer Geheimnisse mit mindestens einer Person teilen, was unsere Beziehung zu ihr stärkt. Geheimnisse sind auch ein Bindemittel, mit dem wir unser Umfeld steuern, Grenzen um uns herumziehen, entscheiden, wen wir hereinlassen und wen nicht. Finkenauer nennt es «die Währung der Freundschaft».
Am ehesten vertrauen wir unsere Geheimnisse Menschen an, die empathisch und fürsorglich sind und sich durchsetzen können. Das fand Slepian gemeinsam mit Dr. James Kirby heraus. Zudem habe sich gezeigt, dass Menschen hilfsbereiter sind als man denkt.
Trotzdem sollten wir uns gut überlegen, ob wir ein Geheimnis mit der besten Freundin teilen wollen. Können wir damit leben, wenn sie unsere intimste Seite kennt oder gar trotz allen Vertrauens unser Geheimnis weitersagt? Geben wir ihr nicht auch eine Belastung weiter?
Auch zu fremden Geheimnissen wandern unsere Gedanken zurück und sie erinnern uns daran, dass wir fortan mitverantwortlich dafür sind, sie zu bewahren. Ein Geheimnis anvertraut zu bekommen, belastet und stärkt eine Beziehung zugleich.
Die Psychologin Anita Kelly fand in einer Studie heraus, dass 40 Prozent der Befragten Geheimnisse vor ihren Therapeut*innen hatten. Bei diesen Patient*innen verbesserten sich die psychischen Symptome sogar schneller. Kelly vermutet dazu: «Wenn sie ein idealisiertes Bild von sich selbst zeichnen, damit der Therapeut sie positiver beurteilt, dann hilft ihnen dies womöglich dabei, tatsächlich diese Person zu werden.»
Letzten Mittwoch hat Valentina Ricardo nahegelegt, er solle es nun endlich den Eltern sagen. Weihnachten wäre doch perfekt. Dann seien Mama und Papa auf Liebe eingestellt und sie selbst wäre schnell zur Stelle, um ihn zu unterstützen.
Valentina nippt an ihrem Rotweinglas und versucht ihren Eltern zu entlocken, was sie darüber denken, dass die «Tatort»-Schauspieler*innen schwul und lesbisch sind. Mark Waschke und Karin Hanczewski gehören zu ihren Lieblingen. Vielleicht macht sie das etwas milder in ihrem Urteil? Derweil im Badezimmer: Maries Augen schwimmen in Tränen, den Kopf in Papas Schoss vergraben. Tom streichelt ihren Hinterkopf. «Wir finden eine Lösung, meine Maus. Mach dir keine Sorgen. Lass uns morgen mit Mama darüber sprechen. Niemand ist böse auf dich. Wir tun alle ab und zu Dinge, die uns nicht guttun. Und jetzt Kopf hoch, mach dich frisch und komm zurück. Du willst doch nicht das Singen verpassen?»
Immer dann, wenn es einen anderen Menschen betrifft, sollte ich besser den Mund halten
Wann sollte man ein fremdes Geheimnis bewahren? Psychologin Felicitas Heyne sagt: «Immer dann, wenn es einen anderen Menschen betrifft, sollte ich besser den Mund halten. Meine eigenen Geheimnisse kann ich natürlich offenbaren, wem ich will.»
Schwierig wird es, wenn wir ein schlechtes Gewissen bekommen wegen dem, was uns anvertraut wurde, falls eine andere Person dadurch zu Schaden kommen könnte. Wenn der Bruder der Schwester gesteht, dass er einen Einbruch begangen hat. Wie soll sie damit umgehen? «Da ist man dann immer das Ventil oder die Abladestelle für die betroffene Person. Sie fühlt sich erleichtert, aber man selbst spürt die Belastung», sagt Heyne.
Es gibt auch Geheimnisse, die man besser teilen sollte: tragische Ereignisse in der Familie wie eine Fehlgeburt, Suchterkrankungen, wenn sich jemand selbst schädigt oder Geheimnisse, bei denen es um Gewalt gegenüber anderen Menschen geht.
Wenn wir spüren, dass es uns schwerfällt, das Geheimnis zu bewahren, weil es uns zu schwer belastet, dann sollte man das bei der betroffenen Person ansprechen und sagen, wie man sich damit fühlt, und sie bitten, das Geheimnis in einem gewissen Zeitraum zu lüften.
Oma Gina winkt ab. «Schwul, lesbisch und was die Leute heutzutage nicht alles sind.» Auch Opa Ulrich blickt nicht mehr durch. «Soll doch jeder machen, was er will. Hauptsache die beiden spielen weiter «Tatort», ohne dort so schmuddeliges Zeug zu zeigen. Das will ich nicht sehen.»
Tom setzt sich an den Tisch zurück und fragt, wann sie singen wollen. «Gleich», sagt Oma Gina. «Vorher muss ich euch noch etwas sagen. Ehrlich gesagt, hat mich Opa dazu gedrängt. Nun gut, Recht hat er ja schon.»
Marie betritt den Raum und fragt: «Womit, Oma?» «Damit, dass ihr beide, Valentina und Ricardo, ab nächstes Jahr das Tiramisu zubereiten solltet. Mir wird es allmählich zu viel mit der Kocherei.» Valentina und Ricardo zwinkern sich zu und klatschen wie Kinder in die Hände. Oma Gina steht auf. «Und nun lasst uns zum Baum gehen und singen.»
Leise rieselt der Schnee, Still und starr liegt der See, Weihnachtlich glänzet der Wald: Freue Dich, Christkind kommt bald. In den Herzen ist’s warm, Still schweigt Kummer und Harm, Sorge des Lebens verhallt…
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