Fräulein Capulet will lieber leben und feiern: «& Julia»
Das Erfolgsmusical feiert Premiere im Stage Operettenhaus
Einen Klassiker der Bühnenliteratur umschreiben – kann das gut gehen? Noch dazu Shakespeares melodramatische Tragödie schlechthin neu entwickeln zu einem Pop-Musical, einer Komödie namens «& Julia»? Kann das funktionieren?
Das Jukebox-Musical mit den grössten Hits u.a. von Britney Spears, Katy Perry und den Backstreet Boys zeigt eine neue Interpretation von Shakespeares grossem Liebesdrama. Es erzählt, was passiert wäre, wenn Julia sich für das Leben entschieden hätte. Unter den Premierengästen waren u.a. Tokio-Hotel-Sänger Bill Kaulitz und Backstreet-Boy Howie Dorough.
Es funktioniert ganz hervorragend! Das wird bei der Premiere der neuen Produktion des international erfolgreichen Musicals «& Julia» auf der Bühne des Stage Operettenhaus in Hamburg von Beginn an klar. Bereits mit den ersten Takten der ersten Nummer, «Larger than Life», hat die Produktion das Publikum im Griff und sie wird es auch im Verlauf des Abends nicht mehr loslassen. Schnell wird deutlich, dass es den Verantwortlichen gelungen ist, basierend auf einem ganzen Strauss an Nummer-1-Pop-Hymnen aus der Feder von Songwriter, Musikproduzent und fünffachem Grammy Award-Winner Max Martin sowie einem wirklich überraschenden Buch des Emmy- und Golden Globe prämierten Autoren David West Read, etwas Neues und Eigenständiges zu kreieren.
So nimmt die Story einen überraschenden Verlauf, und schafft es, sich zu einem Plot zu entwickeln, bei dem die Liebe, Emotionen, aber auch Diversität, Gender-Fluidität und vor allem Selbstermächtigung des freien Individuums im Zentrum stehen. Das alles mit einer ungemein charmanten Leichtigkeit und Entspanntheit, nie belehrend. Dafür mit einer Selbstverständlichkeit, wie man sie in gesellschaftlichen Diskussionen gerne öfter erleben würde. Dadurch gelingt es, diese relevanten Themen einem breiten Publikum zugänglich zu machen und das mit unsagbar viel Empathie und vor allem einem hohen Entertainmentfaktor.
Auf die Frage, wie schwierig es war, diese Themen und den Entertainmentgedanken fein auszutarieren sagt Stephan Jaekel, Unternehmenssprecher der Stage Entertainment: «Ich finde es extrem gut gelungen, wie die Szenen im Skript, die die Repräsentanz der unterschiedlichsten Lebensentwürfe, die Fragen von Akzeptanz, Toleranz und Selbstfindung verkörpern, umgesetzt sind. Das kommt mit einer Leichtigkeit einher, fein ausbalanciert und eben nicht mit erhobenem Zeigefinger. Das haben wir natürlich vor allem dem Autor des Stückes, David West Read zu verdanken, der dafür ein ganz feines Händchen hat, der immer wieder wichtige Themen anspricht, sie aber dann auch mit Humor wieder bricht und ihnen eine gewisse Leichtigkeit zurückgibt und sie damit eben auch zugänglich macht, auch für eine Mehrheitsgesellschaft.»
Das Musical «& Julia» ist in der Tat keineswegs ein Stück nur für queere Zuschauer*innen, das Publikum in Hamburg war sehr gemischt und hinterliess den Eindruck, dass absolut alle mitgenommen wurden. Dazu Jaekel: »Wir richten uns mit unseren Musicalstücken an ein möglichst grosses Publikum, wir wollen niemanden ausschliessen und es freut uns natürlich, wenn Menschen ihre Seh-Gewohnheiten, was das Genre Musical betrifft, ausweiten.»
Dieser Auffassung kann man sich sofort anschliessen, auch wenn einige Szenen, Dialoge und auch Musikstücke von Personen mit einer queeren Biografie durchaus sehr emotional erlebt werden können. Dabei markiert das Ende von Shakespeares «Romeo und Julia» den Anfang von «& Julia». In einem literarischen Wettstreit zwischen dem Dichterfürsten und seiner Ehefrau Anne Hathaway entsteht eine Idee: Was wäre, wenn Julia sich nicht für den Tod mit Romeo entschieden hätte, sondern stattdessen das Leben wählen würde? In «& Julia» bekommt die Capulet-Tochter eine zweite Chance auf die Liebe und das Leben – zu ihren Bedingungen! Um nach Romeos Tod das Drama in Verona hinter sich zu lassen, flieht Julia nach Paris. Hier erlebt sie neue Abenteuer, ist mit Herausforderungen konfrontiert und gewinnt das Selbstvertrauen, um ihr Schicksal selbstbestimmt in die eigenen Hände zu nehmen.
An dieser Stelle soll der Inhalt der Story gar nicht weiter gespoilert werden, denn ein Anteil am Genuss, dieses Stück zu erleben, liegt in den unerwarteten Wendungen, den Überraschungen, die die Geschichte für die Zuschauer*innen bereithält. Das Ganze gepaart mit einem Wortwitz, gerne auch mal etwas deftig, mit Doppeldeutigkeiten, ganz viel Humor und immer wieder Anspielungen auf den literarischen Ideengeber. Da ertappt man sich schnell bei dem Gedanken, ob die ursprünglich so seltsam anmutende Idee, einen Klassiker von Shakespeare als Vorlage für ein Pop-Musical zu wählen, nicht am Ende dichter an Englands literarischer Ikone ist, als es manchem Kultur-Puristen genehm sein mag?
«Wir können ihn natürlich nicht mehr fragen, aber ich habe das starke Bauchgefühl, das sich William Shakespeare heute Abend königlich amüsiert hätte und sicher die Grösse besessen hätte, die Selbst-Ironie zu erkennen und wertzuschätzen», meint Jaekel. «Ich glaube, dass Shakespeare vor allem einer der grössten Unterhalter im Theaterbetrieb gewesen ist und diese Form hätte ihm ganz bestimmt Freude bereitet!»
Hervorragender Hamburger Cast
Grossen Anteil an der nachhaltigen Wirkung des Stücks auf das Publikum hat der Hamburger Cast. Hauptdarstellerin Chiara Fuhrmann überzeugt als Julia mit Präsenz, Emotionen, gesanglicher Leistung und darstellerischen Fähigkeiten. Das Zusammenspiel von Willemijn Verkaik als Anne Hathaway und Andreas Bongard als ihr Ehemann William Shakespeare sprüht vor Energie und die gesanglichen Darbietungen von Willemijn Verkaik dürften auf Deutschlands Musicalbühnen wirklich ihresgleichen suchen.
Schnell treten auch weitere Rollen hervor, so gelingt es Jacqueline Braun als Amme Angelique und ihrem Duettpartner Carlos de Vries als Lance mit Humor und stimmlicher Qualität schnell das Publikum für sich zu gewinnen. Absolut anrührend und mit viel Feingefühl sowohl im Spiel wie in den Stimmen dazu, Oliver Edward als Francois und Bram Tahamata als May, die ihre zarte Liebesgeschichte mit Leben erfüllen. Der gesamte Cast schafft es auf der Bühne, mit einer traumwandlerischen Verbindung zueinander zu agieren, als hätten sie nicht gerade eine Premiere, sondern bereits die hundertste gemeinsame Vorstellung gegeben.
Ausgesprochen gelungen erscheint der Ansatz, die Texte der bekannten Songs, die natürlich das Musical tragen, nicht komplett einzudeutschen. Mit einigen deutschen Einführungstexten gelingt es Jana Mischke und Heiko Wohlgemuth entscheidende emotionale Zugänge zu schaffen, die Fortführung der Songs mit englischen Originaltexten ermöglicht dem Publikum dennoch sofort an eigene emotionale Erinnerungen an jede der bekannten Nummer-1-Hymnen anzudocken. Das funktioniert durchgängig und so gibt es immer wieder spontanen Szenenapplaus, wird das Publikum zu guter Letzt interaktiv Teil der Inszenierung.
Eine weitere Hürde dürfte die Übersetzung der Dialoge ins Deutsche dargestellt haben. Nach den Spielorten Manchester, im Londoner Westend, am Broadway, in Toronto, Singapur, Melbourne oder zuletzt in Sydney, ist die Hamburger Inszenierung die erste in deutscher Sprache. Würde der teilweise dezente Wortwitz, die Doppeldeutigkeiten und damit auch die Verbindungen zu William Shakespeare erhalten bleiben können? Auch dies ist gelungen. Dazu wirken die Hinleitungen zu den einzelnen Musikstücken nie gezwungen, sie ergeben sich organisch aus dem Verlauf der Story und mehr als einmal hat man das Gefühl, ein Stück, ein Text sei ausschliesslich für dieses Musical, für genau diese Szene entwickelt worden.
Dazu tragen sicher auch die wundervollen neuen Arrangements bei, die es schaffen, genau den schmalen Grat zu treffen zwischen dem Erhalt des Bekannten und dem Entstehen von etwas Neuem. Ergänzend schaffen Licht, Bühnenbild und Kostüme bei gar nicht einmal übertriebenem Chi-Chi auch ein optisches Erlebnis, das dann schon eher an einen Sommernachtstraum, denn an die düstere Story von Romeo und Julia» erinnert (wie sie in der Berliner Musical-Version von Peter Plate und Ulf Leo Sommer erhalten bleibt – MANNSCHAFT berichtete).
Wenn ein Musical bei seiner Vorpremiere bereits Minuten nach der Pause spontan Standing Ovation erhält und das ausverkaufte Haus nach dem Schlussakkord mit nicht enden wollendem, stehendem Applaus Cast und Team feiert, dann darf eine Produktion wohl für sich in Anspruch nehmen, einen neuen Hit auf der Bühne gelandet zu haben. Gefragt, ob er mit einem derartigen Erfolg der Premiere gerechnet habe, sagt Stephan Jaekel: «Wir haben uns alle Mühe gegeben, nachdem wir es im englischen Original gesehen haben und wir auch grossen Respekt davor hatten, zu schauen, ob es gelingt den Wortwitz, die Spritzigkeit der Dialoge, die in diese wunderschönen Songs überleiten, zu erhalten, mit der Übertragung ins Deutsche und mit der Frage, wie wir die Übergänge in diese wunderbaren Songs herleiten wollen.»
«Kaum sind die letzten Noten verklungen, möchte man es am liebsten gleich noch einmal erleben.»
Die Reaktionen des Publikums zeigten, dass sich diese Mühe ausgezahlt hat. Dazu entstehen auf der Bühne neue, ikonisch anmutende Bilder, die das Publikum mit kraftvollen Erinnerungen beschenken. Was nach dem absolut kurzweiligen Abend bleibt, ist ein Theater voller Menschen, mit strahlenden Augen und einem Lächeln im Gesicht, und – die Erkenntnis, dass dieses Musical Sucht-Potenzial entwickelt. Kaum sind die letzten Noten verklungen, möchte man es am liebsten gleich noch einmal erleben.
Text: Stephan Bischoff
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