Europäische Vielfalt in vollen Zügen geniessen
… und dabei entspannt und nachhaltig reisen
In Europa ist was los! Wir erkunden vier Städte in fünf Tagen mit Interrail. Nicht nur was für Bahnfreaks.
Von: Thomas Petersen
Als die europäischen Eisenbahngesellschaften 1972 das Interrailticket auf den Markt brachten, hatte man das sich verändernde Reiseverhalten im Blick. Der Hippie-Trail, der als alternative Reisemethode seit den Sechzigern in vollem Gang war, versprach Umsatz. 21 Länder beteiligten sich – inklusive der DDR und Polen.
Unter dem Motto «Jugend trifft sich in Europa» warb damals die Deutsche Bahn (West) für grenzenloses Reisen. Die ehemalige DDR und Polen traten 1973 flugs wieder aus. Das war wohl doch zu viel Freiheit auf einmal. Über zehn Millionen Menschen haben das Ticket seither benutzt.
Für uns, eine Gruppe queerer Reiseblogger*innen und Journalist*innen, geht es von Salzburg über Wien und Prag nach Berlin. Grundsätzlich sind alle vier Destinationen immer eine Reise wert. Sei es aus kulturellen, historischen oder erlebnishungrigen Gründen. Wien zum Beispiel findet sich seit Jahren an der Spitze der weltweit lebenswertesten Städte wieder (MANNSCHAFT berichtete).
Die Vorteile einer Bahnreise mit der einfach zu bedienenden Rail-Planner-App liegen auf der Hand: Bis wenige Minuten vor Antritt der Reise kann das Ticket aktiviert werden. Ab in den Zug und erst einmal durchschnaufen. Ausserdem sparen wir gegenüber einem Auto zwei Drittel Treibhausgase ein. Und: Auf Bahnreisen können sich immer mal nette Gespräche ergeben. So ist es uns dann auch ergangen …
Must do Höhepunkte in Salzburg sind der Mirabellgarten, Mozarts Geburtshaus, die Feste Hohensalzburg, das Museum der Moderne auf dem Mönchsberg und alles rund um das Musical «The Sound of Music». Am schönsten ist Salzburg aber beim simplen Schlendern durch die Altstadt. Dabei darf man hin und wieder den Kopf heben und die atemberaubenden Häuserfassaden geniessen.
Wenn man Lust auf Rummel hat, sollte man in Wien den Prater in der Leopoldstadt besuchen. Wer auf glitzernden, geschliffenen Strass steht, kann sich in der Einkaufsmeile Kärntnerstrasse austoben und die neu erworbenen Preziosen bei einer Führung durch das Schloss Schönbrunn präsentieren. Bemerkenswert ist die Frische, die die Stadt ausstrahlt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie einer der bevorzugten Studienorte in Europa ist.
Prag lockt mit der Karlsbrücke aus dem 14. Jahrhundert. Gleich nebenan befindet sich das Altstädter Rathaus und seine astronomische Uhr aus dem Mittelalter, die zu jeder vollen Stunde die zwölf Apostel tanzen lässt. Daneben geben sich Eitelkeit, Habsucht, Tod und Wollust zeitgleich ein Stelldichein … ein echter Touristenmagnet. Ein Besuch im Ständetheater beschert einem eine – zugegebenermassen etwas provinzielle – Aufführung von Mozarts Don Giovanni, die der Meister selber dort im Jahr 1787 am Dirigentenpult aus der Taufe hob.
In Berlin kommen wir am Schwulen Museum nicht vorbei mit seinen stetig wechselnden Ausstellungen, Events und dessen Bibliotheks- sowie Archivnutzung. Zu den meistbesuchten Orten zählen das Brandenburger Tor, der Reichstag und die Museumsinsel. Das Holocaust-Mahnmal beeindruckt mit seiner geradezu körperlich fühlbaren Bedrängnis. Die Dauerausstellung «Topographie des Terrors» führt einem die Gräuel rechter Schreckensherrschaft vor Augen.
Küche Auf dieser Reise begegnet einem eine unüberschaubare Vielzahl an Knödel-Varianten. Angefangen bei den traditionellen Böhmischen Semmelknödeln in Prag über die österreichischen Varianten wie Leberknödel (herzhaft) oder Marillenknödel (süss) bis hin zu Berliner Kartoffelklössen, die durch eine Prise Majoran ihre besondere Note bekommen – für jeden Geschmack etwas dabei. Ohne Ei und Milch, natürlich auch vegan. Ausreichend Sauce sollte dabei immer mit im Spiel sein. Aber Achtung: «lean cuisine» ist das nicht gerade…
Insidertipps
In der Nähe von Wien hat der Landarzt und Winzer Gerald Wunderer vor ein paar Jahren ein Weingut erworben und produziert seitdem besondere Weine. Er hat sich die Philosophie C.G. Jungs zu eigen gemacht, der «Animus» als den männlichen Teil in Frauen und «Anima» als den weiblichen Teil in Männern bezeichnete. Und so heissen dann auch seine Weine. Ganz neu ist ein Cuvée aus Grünem Veltliner, Müller-Thurgau, Sauvignon Blanc und Gelbem Muskateller. «Pride» nennt er diesen Wein und ist allen gewidmet, die stolz darauf sind, besonders zu sein. Stolz darauf, wie sie sind. Stolz auf jene, die sie lieben. Das Weingut ist nach Voranmeldung besuchbar und liegt in Straning, eine knappe Stunde nördlich von Wien.
Im Zentrum von Prag besuchen wir das Q-Café. Tagsüber Café und abends Bar wurde es 2011 von einer Gruppe von fünf schwulen Freunden gegründet. Das Café wurde schnell zu einem zentralen Ort für die queere Community und zur Geburtsstätte vieler LGBTIQ-Organisationen wie zum Beispiel der Prague Pride und vielen anderen sozialen Projekten in der Stadt. Uns fällt sofort die entspannte Atmosphäre im Café auf und wir fühlen uns hier ausgesprochen wohl. Schön, auch mal wieder in einer Bar zu sein, in der die Gäste sich angeregt miteinander unterhalten, anstatt auf Dating-Apps den Abend klar zu machen.
Reiseroute Los geht’s in Salzburg. Wir entscheiden uns für eine queere Stadttour, die uns zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten führt und mit Fakten zur queeren Geschichte der Stadt versorgen. Da geht es um nächtliche Aktivitäten im Mirabellgarten, die Homosexuelle Initiative HOSI, oder um einen schwulen Ritter, dessen Liebesbriefe aus dem 9. Jahrhundert (!) im Stadtarchiv aufbewahrt werden. Einzig unser Stadtführer war ein wenig neben der Spur. Unangebrachte schwule Witze, über die schon vor zehn Jahren nicht mehr gelacht wurde. Nun denn…
Eine zweieinhalb-stündige Bahnfahrt bringt uns zu unserem nächsten Halt: Wien. Diese Stadt funktioniert am besten, wenn man sich einfach treiben lässt. Genügend Cafés gibt es ja. Wir treffen Louis Checkley, ein Jazz- und Popsänger aus Brighton, der seit drei Jahren mit dem Zimtschneckenbäcker Herr Schneck in Wien lebt. Louis ist aufgeregt, weil er gerade sein erstes Album «Move On» mit dem österreichischen Label Wohnzimmer Records produziert. Was ist Wien für ihn? «Wien war für mich ein Neuanfang. Ich habe wunderbare neue Menschen kennengelernt, neue Musik erlebt, Liebe und Glück gefunden. Die Architektur und der Vibe der Stadt sind eine grosse Inspiration für meine Musik.»
Weiter geht’s nach Prag. Irgendwie schmeckt das Essen in den tschechischen Zügen besser als bei der Deutschen Bahn. Ein Blick in die Küche verrät, dass hier tatsächlich noch richtig gekocht wird. In Prag angekommen, lohnt allemal ein zweiter Blick auf die Leuchtreklamen an Theatern, Kinos und Geschäften. Viele alte Schriftzüge sind erhalten und vermitteln – neben den Strassenbahnen – einen fast nostalgischen Eindruck der ehemaligen Tschechoslowakei. In der ganzen Stadt verstreut stösst man auf Skulpturen und Installationen des tschechischen Künstlers David Černý, die provokativ, witzig, verstörend und spannend sind. Bei manchen fragt man sich, wie sie durch die städtischen Genehmigungsverfahren gekommen sind.
Unser letzter Halt ist Berlin. Auf der Fahrt dorthin lernen wir eine Gruppe DJs aus Phoenix, Arizona kennen, die es sich nicht nehmen lassen, eine Bachelor Party in Berlin zu feiern. Im Zug wird schon mal vorgeglüht . . . Während unseres Aufenthalts findet das 30. Lesbisch-Schwule Strassenfest am Nollendorfplatz in Schöneberg statt. Seit 1993 hat sich das Strassenfest zu einer Grösse queerer Veranstaltungen in Berlin entwickelt. Auffällig ist, wie vielfältig der Besucherstrom ist – Kinderwagen inklusive. Angebote gibt es in Berlin mehr als genug. Von der queeren Jobmesse «Sticks & Stones», dem «Drag Fest Berlin», dem «Christopher Street Day», dem «Folsom Europe» oder dem Weihnachtsmarkt «Christmas Avenue».
Städte Salzburg: Hauptstadt des Bundeslandes Salzburg | ca. 150’000 Einwohner*innen Wien: Hauptstadt der Republik Österreich | ca. 1’900’000 Einwohner*innen Prag: Hauptstadt der Tschechischen Republik | ca. 1’300’000 Einwohner Berlin: Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland | ca. 3’ 800’000 Einwohner*innen Für alle Städte gilt — Beste Reisezeit: ganzjährig | Einreise und Sicherheit: keine Besonderheiten
Queer Life Natürlich haben die Marketingabteilungen der meisten europäischen Städte das Potenzial des queeren Tourismus längst erkannt. So auch in den vier Städten auf unserer Route. Immerhin handelt es sich hier um eine in grossen Teilen einigermassen zahlungskräftige Klientel. So hat man manchmal das Gefühl, dass die Tourismusverbände versuchen, sich an Queerness zu überbieten und noch die abwegigsten «Querverweise» herzustellen, um sich interessant zu machen. Hier wäre es vielleicht angebrachter, dass sie mit den diversen Krisenzentren noch enger zusammenarbeiten und dabei mithelfen, ihre jeweilige Stadt offener und vor allem sicherer zu gestalten. Übergriffe gibt es nämlich überall – und Party ist nicht alles.
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