ESC: Ein weltweiter Mutmacher für sexuelle Minderheiten
Warum der Eurovision Song Contest in homophoben Ländern mehr Toleranz gegenüber der LGBTIQ-Community erreichen kann
Der Countdown läuft. Bald schallt es wieder aus den Smart-TVs heraus: «Twelve points go to …» – es ist Zeit für den Eurovision Song Contest (ESC). Dieses Jahr als 64. Ausgabe in Tel Aviv. Für Fans das Highlight des Jahres, für Haters ein reich gedecktes Bashing-Buffet. Und für sexuelle Minderheiten ein Mutmacher, meint unser Samstagskommentator*.
Seit 1956 ertönt jeweils an einem Samstagabend im Mai die Eurovision-Fanfare, die manch einem Fan das erste Pipi des Abends in die Augen treibt. Was als gemeinsames Unterhaltungsprogramm der Eurovision Broadcasting Union (EBU), der europäischen Rundfunkorganisationen, begann, ist heute ein Musik-Happening mit weltweit 186 Millionen Zuschauern (2018). Für viele Künstler ein Sprungbrett auf die grossen Bühnen dieser Welt – ABBA, Céline Dion oder Udo Jürgens lassen grüssen.
«Beim Sieg von Dana International sprang ich vor Freude auf und ab«
Wo viel Aufmerksamkeit herrscht, entfaltet sich auch ein Odeon für persönliche wie politische Botschaften der Künstler*innen: So geschehen am ESC 1998, als Dana International als trans Künstlerin mit ihrem Song «Diva» den ESC-Titel nach Israel holte. Ihr Auftritt machte damals vielen Menschen der LGBTIQ+-Community Mut, sich selbst zu sein und dazuzustehen. Die Kehrseite der Medaille: In ihrem Heimatland gingen konservativ-religiöse Kreise auf die Barrikaden. Ägypten verbot gar die arabische Version ihres Titels.
Bashing-Buffet für Haters Als «krank» und «verhaltensgestört» bezeichnete ein Kommentator der österreichischen Kronen Zeitung den Auftritt von Conchita Wurst am Opernball 2019 und kassierte dafür zu Recht eine Rüge des Presserats. Beim ESC-Sieg von Conchita Wurst 2014 gab es in den Kommentarspalten der sozialen Netzwerke ähnliche oder noch heftigere Reaktionen aus konservativen Kreisen ganz Europas – das Bashing-Buffet für die Haters war eröffnet: Wursts Auftritt war ihrer Meinung nach «der Beginn des Zerfalls Europas» oder gar «das Ende der Menschheit». Autokratische und konservative Politiker schwangen sich gleich mit aufs Trittbrett und nutzten das Bashing-Buffet als Wahlkampfbühne, indem sie von «traditionellen Familienwerten» faselten oder der «Gay-Propaganda Einhalt gebieten» wollten, um «die eigenen Kinder und die Zukunft des Landes zu schützen».
Botschaft von Conchita Wurst & Dana International: Toleranz für Menschen, die anders sind
Dabei war die Botschaft von Conchita Wurst dieselbe wie von Dana International: Toleranz für Menschen, die anders sind. Nicht mehr und nicht weniger. Es war keine Kriegserklärung an Heterosexuelle. Auch kein Versuch, Europa zu zerreissen oder die Menschheit in den Abgrund zu stürzen. Sondern ein Musikwettbewerb, bei dem nicht nur starke Songs und Darbietungen zu sehen waren, sondern auch ein zerbrechliches Wesen, das zeigen wollte, was es heisst zu leiden, weil es anders ist.
Siegt der Hass? Die dreiköpfige BDSM-Band aus Island «Hatari» – zu Deutsch Hass – findet «ja». Denn sie prophezeit mit ihrem diesjährigen ESC-Beitrag das Ende des vereinten Europas. «Hatrið mun sigra» lautet der Songtitel: «Der Hass wird siegen.» Die Band bezeichnet sich als antikapitalistisch und als antiisraelisch. Der ESC sei «ein Bild von Glanz, Lüge, Reinwaschen, Propagandamaschine und Verrat».
Da drängt sich schnell die Frage auf: «Cui bono – wem nützt Hataris Auftritt wirklich?» Warum soll sich eine antikapitalistische Band einem kommerziellen Musikwettbewerb anschliessen und nicht einen «Gegen-Contest» aus Protest gründen? Eine mögliche Antwort darauf könnten die verlockenden Einschaltquoten sein, die fürs eigene Musikbusiness durchaus verkaufsfördernd sind.
Oder ist ihr Auftritt reine Satire? Schliesslich verkündete die Band Ende 2018 ihr eigenes Ende, weil sie ihr Ziel, «den Kapitalismus zu stürzen», nach gerade mal drei Jahren Existenz verfehlt hätte. Doch irgendwie hat es mit dem Rücktritt nicht so geklappt: Hatari steht in ihrem antikapitalistischen Kampf im ESC-Finale 2019.
Vielleicht weil die Bandmitglieder nun doch etwas vom infernalen Kapitalismus gekostet haben? Ihr Auftritt verspricht auf jeden Fall einen teuflisch harten Industrial-Techno-Kracher. Mit der Prophezeiung des eigenen oder des europäischen Endes allerdings könnte sich die Band wie so manch irdischer Hellseher zuvor irren.
Mehr als Kommerz Der ESC ist gewiss ein kommerzieller Mix aus Glanz und Gloria. Auch das oft fehlende Singen in der eigenen Landessprache ist kritikwürdig. Ebenso das gegenseitige Zuschanzen der Punkte von Nachbarstaaten, das aber fast schon wieder kultig ist, weil sich dann jeder zu Hause vor dem Bildschirm als Punkte-Prophet betätigen und seine Bias bestätigen kann: «Hab’ ich’s doch gesagt.»
Doch das würde den ESC zu einseitig darstellen. Der ESC steht in erster Linie für ein gemeinsames europäisches Rundfunkprojekt, das nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg aufzeigte, dass wir im Miteinander mehr erreichen können als im Gegeneinander. Ferner verbindet der Musikwettbewerb Menschen unterschiedlicher Couleur: Jedes Jahr liegen sich Tausende in der Contest-Arena ebenso fröhlich in den Armen wie ganze Trauben an Menschen, die millionenfach in Pubs, Clubs oder zu Hause gemeinsam feiern und mitfiebern.
Die Macht eines Kusses Homophobe Hater liessen sich durchaus ignorieren. Ebenso plausibel wäre ein ESC-Ausschluss von Ländern mit homophoben Politikern und Geistlichen oder diskriminierenden Gesetzen wie Polen, Rumänien oder Russland (die Liste ist nicht vollständig).
«Laut YouTube-Kommentaren bin ich der hässlichste Mensch»
Doch damit würden die Homophoben gewinnen. Erstens, weil ein Boykott Künstler*innen und anders Denkenden dieser Länder schaden würde. Denn nicht alle teilen die öffentlich kundgetanen homophoben Ansichten. Zweitens wäre es ein Sturzbach auf die Mühlen der homophoben Kräfte – nach dem Prinzip «Seht her – die Gay-Propaganda diskriminiert ja selbst». Und drittens, was am schlimmsten wäre: LGBTIQ+-Menschen, die in solchen Ländern leben, verlören einen der wenigen Strohhalme an Hoffnung auf eine freiere Zukunft.
Denn der ESC ist ein wichtiger Botschafter für mehr Toleranz, wie dies ein Kuss zweier Männer im Publikum beim ersten ESC-Halbfinale 2019 gezeigt hat: Eine Kiss-Cam mit dem Herz aus dem ESC-Logo forderte Paare zum Küssen auf und fing dabei neben heterosexuellen Paaren auch ein schwules Paar ein, das seine Liebe mit einem Kuss bezeugte. Und dieses Zeugnis flimmerte letztlich auch über die Monitore homophober Hater, Politiker und Geistlicher aus (noch) nicht so toleranten Staaten oder Wohnstuben.
Toleranz heisst Menschlichkeit Liebe Haters dieser Welt, bevor ihr am diesjährigen ESC eure homophob-rassistische Keule wieder schwingt, wie ihr das gegenüber dem schwulen ESC-Teilnehmer aus Frankreich mit marokkanischer Herkunft, Bilal Hassani, bereits getan habt, bedenkt eines: Toleranz heisst Menschlichkeit. Wir alle sind Menschen – egal, woher wir kommen und ob wir androgyn, asexuell, bi- oder heterosexuell, intersexuell, lesbisch, pansexuell, queer, religiös oder nicht, schwul, trans oder einfach anders sind: Genau diese Vielfalt zeichnet uns Menschen aus. Wer die Menschheit in ihrer Vielfalt schätzt, ist tolerant und per definitionem nach Duden menschlich. Wollt ihr also unmenschlich sein?
Jetzt ist es bestätigt: Madonna tritt beim ESC auf
Oder seid ihr offen und mutig genug, das Bunte und Vielseitige, das gewiss auch in euch steckt, mit anderen zu teilen? Zum Beispiel an den unzähligen ESC-Partys, indem ihr mal das, was euch als fremd und unangenehm erscheint, einfach mal kennenlernt und mitfeiert? Denn LGBTIQ+-Menschen sind aus Fleisch und Blut wie ihr. Sie teilen sogar die genetische Verwandtschaft mit euch, selbst wenn euch ein paar Ideologen das Gegenteil einhämmern wollen. Lasst euch darum dieses Wochenende von der Musik inspirieren. Denn Musik ist Liebe. Und Liebe verbindet. Hass dagegen tötet.
*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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