«Bring mich noch zur Ecke» – Elise trifft Dagmar
Wie eine Begegnung ein ganzes Eheleben auf den Kopf stellt
In der Graphic Novel «Bring mich noch zur Ecke» finden zwei Frauen ineinander das, was in ihrem jeweiligen Familienleben fehlt. Eine Rezension von Simone Veenstra.
Text: Simone Veenstra
In welches Regal? Zu jenen Graphic Novels wie «Pirouetten» oder «Hinter den Mauern», die uns stückweise am realen Leben realer Figuren teilhaben lassen, ohne ein abgeschlossenes Hollywood-Abenteuer zu erzählen.
Wie sieht es aus? Zuallererst: unbegrenzt. Anstatt gewohnter Panel-Einrahmungen setzen hier die farbflächigen, aquarelligen Hintergründe keine Trennungslinien. Sie fliessen und Furmarks klar umrissene Figuren stechen kontrastreich daraus hervor. Das verblüffende Zusammenspiel, zugleich lebhaft und schweben, unterstützt damit auf künstlerischer Ebene, was in «Bring mich noch zur Ecke» zu lesen ist: Manchmal lassen sich Grenzen eben nur ganz schwer definieren.
Um was geht es? Seit 23 Jahren ist Autorin Elise mit ihrem Mann Henrik, einem Professor, verheiratet. Die Kinder sind aus dem Haus, das Paar hat sich in unaufgeregtem, ebenbürtigem Miteinander eingerichtet und geniesst es. Da lernt Elise die Ärztin Dagmar kennen und diese Begegnung stösst etwas an. Der Annäherung über SMS und Nachrichten folgt ein erstes persönliches Treffen, das nicht das letzte bleiben wird, denn die beiden Frauen finden gemeinsam, was ihnen in ihrem jeweiligen Familienleben fehlt.
Überraschend wohltuend bemühen sich alle Beteiligten fortan um eine Neuausrichtung und ihr Umgang mit den veränderten Beziehungskonstellationen scheint zunächst verblüffend erwachsen. Die einschneidende Veränderung ist nicht die Liebe zwischen den beiden Frauen, sondern Henriks Unfähigkeit, sich vom Männerbild seiner Generation freizumachen. Anstatt an seiner Abmachung mit Elise festzuhalten, miteinander ehrlich zu sein, beginnt er ein heimliches Verhältnis mit einer mehr als 20 Jahre jüngeren Doktorandin, was schliesslich zur Scheidung führt.
Wir finden «Bring mich noch zur Ecke» ist hypnotisch, ebenso unausweichlich wie ruhig, als beobachte man ein Gewässer. Die grosse Stärke des Erzählstils liegt in der Unaufgeregtheit und beweist sich im Ende: Trotz allem Verlust und der Trauer darüber lässt sich für Elise ein Neubeginn unter veränderten und womöglich wahrhaften Vorzeichen vermuten. Der Beweis, dass zu Herzen gehende Geschichten auch ohne Drama, Cliffhanger und peitschendes Tempo auskommen.
Besonderheit Zwischen den ausgeblichenen Grundfarben Blau, Gelb und Grün der Hintergründe und den schwarzen Strichen der Figuren setzt Furmark die Farbe Rot nur wenig, aber sehr gezielt ein. Damit werden ebenso unaufdringliche wie wunderbar emotionale Akzente sichtbar. So wie beispielsweise im einzigen populärkulturellen Zitat des Buches, das sich auf den Film «Tatsächlich Liebe» bezieht.
Übersetzt ist «Bring mich noch zur Ecke» von Katharina Erben, die auch die philosophisch-essayistischen Texte Liv Strömquists ins Deutsche überträgt.
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