Raus aus dem Iran – Neustart in der Schweiz
Danial über seine Flucht und die Geburt von Gigi Lou
Nach Jahren der Unterdrückung kann Gigi Lou endlich auf der Bühne stehen. Hinter der Dragqueen steckt Danial, der mit 15 Jahren aus dem Iran flüchtete und nach einer langen Odyssee in der Schweiz landete.
Für Danials Flucht aus dem Iran gab es mehr als nur den einen Grund. Nicht die streng muslimischen Eltern, die ihn und seine Schwester von der Aussenwelt isolierten und regelmässig schlugen und beschimpften. Auch nicht die iranische Gesellschaft, die für einen bisexuellen Teenager keinen Platz vorsieht und gleichgeschlechtliche Handlungen mit dem Tod bestraft. Selbst der Missbrauch durch einen erwachsenen Vertrauten konnte Danial verkraften. Es war die Summe aller Dinge, die ihn dazu veranlasste, das Land zu verlassen und mit Schmugglern über die Türkei nach Europa zu fahren, um die Welt zu sehen, die sein ganzes Leben lang als verboten gegolten hatte. Danial war gerade mal 15 Jahre alt.
Im Versteck geboren: Gigi Lou Danial wuchs in der Stadt Ahwas im Südwesten des Landes in einem Mehrgenerationenhaus auf. Seine Grosseltern bewohnten das Erdgeschoss, seine Eltern die mittlere und Danial und seine Schwester die oberste Etage. Als Kind schlich er oft bei seinen Grosseltern in das alte Zimmer seiner Mutter und zog ihre alten Kleider an. «Ich konnte das den ganzen Tag lang tun. Ich tanzte dann vor dem Spiegel, schauspielerte und filmte mich dabei», sagt er und lächelt. Es waren kostbare Momente der Freiheit, in denen sein Alter Ego Gigi Lou entstehen konnte.
In Danials strengem Alltag hatte sie jedoch keinen Platz. Was mit dem Westen, mit Eitelkeit oder Genuss in Verbindung gebracht wurden, war im Elternhaus tabu und hatte eine Tracht Prügel zur Folge. «Keine Musik, kein Gel in den Haaren, kein Trimmen meiner Augenbrauen . . . nicht einmal die Ärmel durfte ich hochkrempeln», erinnert er sich. Danial befindet sich heute im schweizerischen Freiburg und sitzt im Café Belvédère – seinem «Lieblingsplatz» in der kleinen Stadt, wie er in fehlerfreiem Englisch sagt. Auch Gulam aus Tansania hat in der Schweiz ein neues Leben begonnen (MANNSCHAFT berichtete).
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Einblicke in eine andere Welt Es gab jedoch eine «Verfehlung», die die Eltern sich selbst und den Kindern erlaubten: westliche Kinderserien im Satellitenfernsehen. Der Empfang ausländischer Sender ist im Iran illegal, und Danial erzählt, wie die Polizei mit Helikoptern die Häuserdächer nach Parabolschüsseln absuchte, die auf dem Schwarzmarkt erworben wurden.
Es waren harmlose Sendungen wie «Hannah Montana», die Danial eine Welt fernab von Zucht und Ordnung vermuten liessen. Im Internet stillte der Heranwachsende seinen Wissensdurst. «Ich las über verschiedene Religionen, über europäische Kulturen, lernte aber auch, wie man Internetsperren umgehen kann», sagt er. «Ich war überzeugt, in der falschen Welt geboren zu sein. Ich fühlte mich als Europäer.»
In der Schule brachte ein Junge namens Reza aufregende Gegenstände mit: Ein Redbull, abziehbare Tattoos und Kondome. «Es waren alberne Dinge, aber ich war zwölf und fand das total cool», sagt Danial. Die beiden wurden Freunde und verbrachten viel Zeit miteinander. Auch bei Rezas Familie fühlte sich Danial gut aufgehoben. «Seine Eltern waren so cool», schwärmt er. «Sie rauchten Shishas und fuhren ihre Kinder überall hin, um mit ihnen eine schöne Zeit zu verbringen. Eine solche Familie wollte ich haben.»
Für Danials Eltern war Reza hingegen ein schlechter Einfluss. «Sie hassten ihn und seine Familie vom ersten Augenblick an und verboten mir, mich mit ihm zu treffen», sagt er. «Auch heute noch sagen sie, dass ich jetzt im Iran studieren würde, hätte ich Reza nicht getroffen. Sie machen ihn für meine Andersartigkeit verantwortlich.»
Ein Rebell erwacht Im Elternhaus prägten Beschimpfungen und Gewalt den Alltag. Die Eltern terrorisierten nicht nur ihre beiden Kinder, sondern auch sich selbst. «Es wäre aber falsch zu denken, dass meine Mutter nur in einer Opferrolle war. Nein, sie konnte sich sehr wohl selbst verteidigen und teilte auch aus», sagt Danial. Die Unterdrückung, die er durch seine Eltern erfahren hatte, liess er oft auch in Form von Ausrastern und Beschimpfungen an seinen Grosseltern aus – etwas, das er heute zutiefst bereut. «Sie waren immer gut zu uns Kindern, nicht einmal waren sie uns böse. Sie wussten, dass wir nichts anderes kannten.»
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Danial begann, sich gegen seine Eltern aufzulehnen und die Schule zu schwänzen. Er machte sexuelle Erfahrungen mit Mädchen und Jungs, nach mehreren Freundinnen folgte der erste Freund. Um die Wut seiner Eltern nicht ertragen zu müssen, haute er oft für mehrere Tage ab. Kaum ein Teenager, begann Danial zu rauchen, zu kiffen und zu koksen und probierte schliesslich auch Crystal Meth aus. Für ihn ein Akt der Freiheit. «Endlich konnte ich mich wie in den Filmen fühlen, die ich heimlich im Internet schaute.»
Vertrauensbruch Die Vergewaltigung ereignete sich am helllichten Tag unter einer Brücke. Danial war auf dem Weg zur Schule und lief einem Freund über den Weg. «Er war um die Dreissig und ich verstand mich eigentlich gut mit ihm», sagt er. «Wir kifften zusammen oder sprachen über Musik.» An jenem Tag war der Freund jedoch im Heroinrausch und bedrohte ihn mit einem Messer. Danial hält inne und schluckt leer. «Ich hatte grosse Angst. Er zwang mich, Heroin zu nehmen, und vergewaltigte mich danach.»
Sie gaben mir die Schuld und schrien mich an.
Als Danial wieder zu sich kam, war er immer noch high. Er erzählte seinem Grossvater, was vorgefallen war, und irrte während einiger Stunden in der Nachbarschaft umher. «Ich fühlte mich verloren . . . wie eine andere Person. Meinen Körper empfand ich als etwas Billiges und Schmutziges.» Als er schliesslich nach Hause ging, wussten seine Eltern bereits Bescheid. «Sie gaben mir die Schuld und schrien mich an, dass alles nicht passiert wäre, hätte ich doch das Haus nicht verlassen. Es war das Letzte, was ich brauchen konnte.»
Danials Vater erstattete Anzeige gegen den Täter und begleitete seinen Sohn vor Gericht. «Er schwitzte heftig, weil er dem Richter erklären musste, dass ich vergewaltigt wurde.» Doch sein Angreifer hatte das Land bereits verlassen, angeblich war er nach Australien geflüchtet. Um die Tat zu beweisen, bestand das Gericht auf eine Analuntersuchung. Die Behörden forderten Danial mehrmals auf, sich bei einem Polizeiposten zu melden.
«Ich lehnte ab, denn zu dieser Zeit hatte ich ja bereits Sex mit meinem damaligen Freund gehabt und befürchtete, dass sie irgendetwas herausfinden würden», sagt Danial. «Ich glaube, meine Eltern ahnten das auch.»
«Ich stellte mir vor, dass Gott eine Fabrik hatte, wo Jungs und Mädchen entstehen und ich die falschen Teile erhalten hatte.»
Vom Flüchtling zum Flüchtlingshelfer Gleichgeschlechtliche Handlungen stehen im Iran unter Strafe, nicht aber geschlechtsangleichende Operationen. Im Gegenteil: Der Staat sieht sie als «Heilung» für homosexuelle Begehren. (MANNSCHAFT berichtete) So werden Operationen nicht nur an trans Frauen ausgeführt, sondern auch an schwulen Männern – nicht selten gegen ihren Willen. Oftmals enden sie als Sexarbeiterinnen auf der Strasse, verfallen in Depressionen oder begehen Suizid.
Als Kind habe er sich schon ein paarmal gefragt, ob er nicht trans sei. «Ich stellte mir vor, dass Gott eine Fabrik hatte, wo Jungs und Mädchen entstehen und ich einfach die falschen Teile erhalten hatte. Doch ich weiss mittlerweile, dass ich nicht trans bin. Die Weiblichkeit ist ein Teil von mir, wie es auch Gigi Lou ist.»
Die Ambulanz stand bereits vor Danials Elternhaus, als sein Grossvater den Vater von der Flucht nach Europa überzeugte. Danial trug schon seit Längerem die Nummer eines Schmugglers mit sich, die er dann seinem Vater überreichte. Für ihn war klar, dass er sich zuerst noch von seinem besten Freund verabschieden musste. «Ich rief Reza an und sagte: ‹Hey, ich haue ab. Kommst du mit?› Er kam mit mir, dieser verrückte Typ!»
Danial, sein Vater und Reza flogen noch in derselben Nacht mit der ersten Maschine nach Istanbul. Zehn Tage später landeten Danial und Reza mit dem Boot auf der griechischen Insel Lesbos. Danial war gerade mal 15, Reza 16 Jahre alt.
Hier war vorerst Endstation. «Die Grenze zu Nordmazedonien war für iranische Staatsangehörige geschlossen», erinnert sich Danial. Lediglich Geflüchtete aus Afghanistan, dem Irak und Syrien konnten weiter nach Westeuropa ziehen. Drei Versuche, mit gefälschten afghanischen Papieren die Grenze zu überqueren, scheiterten. Schliesslich sagte er zu Reza: «Niemand muss sich verschleiern und man darf Alkohol trinken. Wieso bleiben wir nicht einfach hier?»
Danial schaut gerne auf die neun Monate zurück, die er mit Reza in Griechenland verbrachte. Er erlebte seine erste Pride und konnte aufgrund seiner Kenntnisse in Arabisch, Englisch und Farsi als Übersetzer arbeiten. Während seines Engagements traf er sogar Angelina Jolie, die im Frühjahr 2016 die griechischen Flüchtlingslager besuchte. «Ich hatte damals grüne Haare, aber hey: Wir alle treffen mal schlechte Entscheidungen», sagt er lachend.
«Wo zur Hölle ist die Schweiz?»
Tiefpunkt in der Schweiz Der Alltag für Danial und Reza in Griechenland wurde schnell langweilig. Als minderjährige Flüchtlinge durften sie keine bezahlten Arbeiten annehmen und erhielten auch kein Geld für Verpflegung oder Unterhalt. «Im Lager gabs jeden Abend Bohnen mit Brot. Es war furchtbar», sagt er. Eines Abends geriet er in eine Auseinandersetzung mit einem afghanischen Flüchtling.
«Wer mir sagt, dass ihm nicht gefällt, wie ich aussehe oder wie ich mich benehme, muss die Dinge einstecken können, die ich ihm ins Gesicht sage.» Der Afghane kehrte mit einer ganzen Gruppe zurück, um auf Danial einzuschlagen. Er erlitt mehrere Prellungen und bat die Verantwortlichen, die Polizei rufen. «Das taten sie aber nicht. Das war der Moment, in dem ich Reza sagte, dass wir in Griechenland kein besseres Leben führen könnten.»
Danial wollte nach London gehen, doch sein bester Freund bestand auf der Schweiz. Die Wirtschaft sei stark, man habe dort eine gute Zukunft. Danial lacht, wenn er an seine Reaktion zurückdenkt: «Wo zur Hölle ist die Schweiz?» …
Mit der finanziellen Unterstützung seines Vaters engagierte Danial einen Schmuggler, der ihm und Reza gefälschte französische Papiere ausstellte. Binnen dreier Wochen könne er ihnen einen Flug von Athen nach Genf organisieren. Doch Danial war mit seiner Geduld am Ende. «Ich rief ihn täglich an und nervte ihn so sehr wegen unserem Flug, dass er mir ein Ticket für die erste Klasse ausstellte», sagt Danial lachend.
Im Herbst 2016 kamen Danial und Reza in der Schweiz an und stellten ihre Asylgesuche. Der Aufenthalt in der Asylunterkunft von Estavayer-le-lac war für Danial verheerend. «Ich verbrachte eine schlimme Zeit und verlor mich komplett», sagt er. Er stürzte sich in die Drogen, verlor die Lebenslust. «Das waren schlimme Tage. Man hat nichts zu tun und findet sich plötzlich in einer fremden Gesellschaft wieder, die erwartet, dass man französisch lernt.»
Nach dem Konsum von LSD landete Danial schliesslich in der Notaufnahme, denn der Rausch schien nicht mehr aufzuhören. Er erhielt die Diagnose HPPD, eine Abkürzung für Hallucinogen Persisting Perception Disorder. Betroffene leiden in regelmässigen Abständen unter Pseudohalluzinationen, obwohl sie nicht mehr unter Drogeneinfluss stehen und die Substanzen den Körper bereits verlassen haben. «Ich trage viele Ängste und Traumata mit mir herum. Die Drogen hatten dann keine guten Auswirkungen auf mein Gehirn» sagt er. Über die psychische Störung ist nicht viel bekannt, bei Danial äussert sich diese in Form von Taubheitsgefühlen an verschiedenen Körperstellen und von verzögerten Sinneswahrnehmungen.
Die Störung machte aus dem heute 20-Jährigen eine komplett andere Person. «Ich bin heute auf ein gesundes Leben angewiesen», sagt er. «Sport, Yoga, kein Alkohol, nicht zuviel Zucker. Bereits nach zwei Zigaretten beginnen die Halluzinationen.»
Gigi Lou lebt Im Frühjahr 2018 erhielt Danial schliesslich seine Aufenthaltsbewilligung und wurde dem Kanton Freiburg zugeteilt. «Das Erste, was ich tat, war shoppen», sagt er lachend. «Ich kaufte eine Tonne Make-up, eine Perücke und hohe Absätze. Gigi Lou konnte endlich zurückkehren!»
Weniger Glück hatte Reza, der einen negativen Asylentscheid erhielt, nun aber Berufung eingelegt hat. «Er ist unglaublich talentiert», sagt Danial. «Im März wird in Lausanne sein Theaterstück ‹Retrouvailles› aufgeführt, das er über seine Flucht geschrieben hat.»
Seit Januar hat Danial im Zürcher Club Heaven mit «Category is . . . » sein eigenes Partylabel, an dem er als Gigi Lou auftritt. Im April ist er im Stück «Alice Revisited» im Théâtre Les Halles in Siders zu sehen. «Auftreten ist wie eine Art Therapie für mich», sagt er. Seine Party widmet er jeden Monat einem anderen Thema und will so andere dazu ermutigen sich selbst zu sein. «Selbst hier in der Schweiz sehe ich so viele Queers, die immer noch Mühe haben. Deswegen will ich einen Safe Space ohne Homophobie, ohne Vorurteile und ohne Angst schaffen.»
Zwischen Danial und seinen Eltern herrscht zurzeit Funkstille. Sie besuchten ihn zweimal in Griechenland und schickten ihm regelmässig wieder Geld, letzten Dezember traf er sich mit seinem Vater in Berlin. «Wir hatten einen üblen Streit. Und obwohl ich meinen Eltern immer wieder vergebe, kommen stets alle Dinge in mir hoch, die sie mir angetan haben», sagt er. «Sie haben mein Leben und meine psychische Gesundheit zerstört.»
Heute ist Danial stolz, dass er auf eigenen Füssen stehen kann. Mit seinen Grosseltern pflegt er regelmässig Kontakt – auch mit seiner Schwester, die das Elternhaus ebenfalls verlassen hat, um bei ihrem Freund zu wohnen.
«Darf ich dich um etwas bitten?», fragt Danial am Ende des Interviews. «Stelle meine Eltern bitte nicht als Monster dar, denn das sind sie nicht. Ich liebe sie immer noch. Ich schulde ihnen mein Leben.»
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