Disney+ zeigt Doku über Leben und AIDS-Tod eines schwulen Musicalgenies
Zusammen mit Komponist Alan Menken revolutionierte Howard Ashman bei Disney die Welt des Musicals – mit queeren Elementen in «Little Mermaid», «Beauty and the Beast» und «Aladdin»
Der Streamingdienst Disney+ ist sicher nicht die erste Adresse, die einem einfällt, wenn es um gewichtige LGBTIQ-Dokus geht. Und doch wurde dort unlängst der grandiose Dokumentarfilm «Howard» veröffentlicht, der das Leben und den Aidstod des schwulen Musicalgenies Howard Ashman nacherzählt, der für Disney «Little Mermaid», «Beauty and the Beast» und «Aladdin» schuf.
Man muss bei Disney+ schon ein bisschen suchen, bis man in der Unterkategorie «Dokus» auf den 136-Minuten-Film von Don Hahn stösst. Was erklären mag, wieso er von queeren Medien bislang nur sehr am Rande beachtet wurde, seit er als Stream bereit gestellt wurde. (MANNSCHAFT berichtete.) Ursprünglich war der Film – als Disney-Eigenproduktion – 2018 auf verschiedenen Festivals gelaufen, danach in ausgewählten Kinos. Und auch damals hat «Howard» kaum einen echten Splash in der LGBTIQ-Presse gemacht.
Das erstaunt insofern, als dass es sicher kaum andere Disney-Produktionen gibt, in denen die Geschwister und Eltern eines Mannes unkompliziert von den Liebhabern ihres schwules Bruders/Sohnes sprechen, aber auch die Aidskrise der 1980er-Jahre mit absoluter Selbstverständlichkeit aufgegriffen wird und man sieht, wie schrecklich damals die Folgen einer positiven HIV-Diagnose für viele waren, die oft mitten aus dem Leben gerissen wurden – wie Howard Ashman. Er erlebte den Triumpf von «Schöne und das Biest» sowie «Aladdin» nicht mehr, auch nicht die bahnbrechende Renaissance von Disney-Musicals, die er ermöglicht hatte mit seinen sehr queeren Ideen zum Genre.
Mit Freund zu Familientreffen und an die Universität Die Doku erzählt das Leben Ashmans, der 1950 in Baltimore geboren wird, ausschliesslich über Archivmaterial, zu dem unendlich viele Hinter-den-Kulissen-Filmausschnitte gehören, aber auch viele private Fotos aus dem Familienalbum. Dazu hört man die Stimmen von Weggefährten, die ihn seit Kinder- und Jugendtagen kennen. Sie berichten, wie der kleine Howard schon mit 14 Jahren besessen von klassischen Broadwaymusicals ist. Seine Obsession für «My Fair Lady», «Hello Dolly» und die anderen Hits der Ära geht so weit, dass er anfängt, sein eigenes Leben als Musical zu inszenieren. Dafür baut er im Kinderzimmer Sets auf, beginnt Stücke und Liedtexte zu schreiben, die er für seine Schwester aufführt, und er trägt sich später am College für einen Theaterkurs ein. Wo er seinen ersten Lebenspartner kennenlernt: Stuart «Snooze» White. Während Howard voll von «fierce loveliness» ist, strahlt Snooze «boyish flamoyance» aus, heisst es. Zusammen ziehen sie «Scharen von Menschen» an. Inwiefern dies auch eine sexuelle Dimension hat, lässt Regisseur Don Hahn offen. Aber er erwähnt es immerhin.
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Für Schwester und Eltern Ashmans sind er und Stuart selbstverständlicher Teil der Familie, bei allen Familientreffen dabei und kein Problem. Was erfrischend zu sehen ist, schliesslich spielt sich diese Partnerschaft im Schatten der Stonewall Riots von 1969 ab, die ein verkrustetes Moralsystem in den USA sehr öffentlich und sehr sichtbar aufbrechen. Ein Moralsystem, das sich in Baltimore im privaten Kreis scheinbar schon lange verändert hatte, aber auch an der Schule und Uni, die Ashman und White gemeinsam besuchen, bevor sie sich aufmachen ins Mekka der Homosexuellen und (!) Musicalsüchtigen: New York City.
Eine fleischfressende Pflanze macht ihn berühmt Die beiden starten dort zusammen die kleine Off-Bühne WPA, sie arbeiten als Team, bis es zum Streit kommt, Stuart geht und Howard alleine weitermacht. Er besucht Workshops, lernt viele Leute kennen, darunter aufstrebende junge Komponisten. Mit einem von ihnen entwickelt er ein ziemlich schräges Musical, das einerseits auf einem Horrorfilm basiert, rund um eine fleischfressende Pflanze, zum anderen Situationen aus Retro-Musicals recycelt. Das zusammen mit Alan Menken geschaffene Resultat heisst: «Little Shop of Horrors». Es wird ein Hit, der lange am Off-Broadway läuft. Es wird ein Cast Album gemacht, schliesslich sogar ein Film. Howard Ashman erregt damit Anfang der 1980er-Jahre erstmals Aufmerksamkeit.
Einer der queeren und grandiosen Momente im Stück ist, wie zum einen die «geheime» Freundschaft zwischen Seymour und seiner Pflanze zelebriert wird, für die er anfängt zu morden und von der er sich erst in letzter Sekunde befreit, als er merkt, dass das, was sie da zusammen tun nicht gut (für ihn) ist. Zum anderen singt sich Seymours Freundin Audrey die Seele aus dem Leib, mit ihren Fantasien von einem kleinen Haus mit Garten, wo sie «ganz normal» wie alle anderen mit ihrem Freund leben könnte. Menken und Ashman besetzten die Rolle der Audrey mit der kongenialen Ellen Greene, die mit ihrer Comic-artigen Quietschstimme diese Kleinbürgerträume ad absurdum führte – und doch glaubhaft vermitteln konnte.
Zur Zeit des Erfolgs von «Little Shop of Horrors» lernt Ashman den jungen Architekturstudenten Bill Lauch kennen. Und statt es bei einem One-Night-Stand zu belassen, lädt Howard Bill zum ersten gemeinsamen Date ein. Wie der Architekt überrascht feststellt, besteht dieses darin, Howard zur Verleihung der Grammys zu begleiten. Womit das aufstrebende Musicalgenie ein ziemlich öffentliches Zeichen für LGBTIQ-Sichtbarkeit setzt, in einer Zeit, als das nicht selbstverständlich ist, mit seinem schwulen Partner gemeinsam über den roten Teppich zu laufen.
Disney bringt erste offen LGBTIQ-Figur
Hollywood ruft Dank der Schlagzeilen und des Erfolgs werden Musikmanager und Filmstudios auf Ashman aufmerksam. Und so kommt er nach Hollywood, um für die Walt-Disney-Studios zu arbeiten. Er soll dort die quasi im Dornröschenschlaf befindliche Animationsabteilung reanimieren, um neuerlich Musikfilme zu kreieren, wie die, mit denen Disney einst weltberühmt geworden war und womit sie ihre Amusementpark-Attraktionen bestücken, von den Merchandise-Produkten ganz zu schweigen.
Ashman schlägt vor, die Figur der Hexe Ursula nach der queeren Ikone Divine zu gestalten
Das erste Grossprojekt, dem Ashman seinen Stempel aufdrückt, ist die Verfilmung der Kleinen-Meerjungfrau-Geschichte. Ashman schlägt vor, die Figur der Hexe Ursula nach der queeren Ikone Divine zu gestalten, die wie er selbst aus Baltimore stammt, ebenso wie John Waters. Ashman ist es auch, der in die neuen Zeichentrickfilmen grosse durchchoreographierte Nummern im Stil der Hollywoodmusicals à la Busby Berkeley aus den 1930er-Jahren einführt. Und damit einen zwar von schwulen Musicalfans geliebten Stil wiederbelebt, der von der Restgesellschaft aber inzwischen als altmodisch und unrealistisch entsorgt worden war. Ashman zeigt mit der Figur der singenden Krabbe Sebastian und dem jamaikanischen Unterwasserballett, wie viel Spass solche Berkeley-artigen Nummern machen können, wenn man sie richtig anpackt. Und er gibt quasi indirekt eine vormals von Schwulen als «Code» verwendete Form des Kommunizierens über Musicals an eine nachrückende Generation weiter. Die wahrscheinlich keine Ahnung hat, bis heute, wer Busby Berekely oder die MGM-Musicals mit Judy Garland usw. sind. Und sie trotzdem lernt zu lieben. Man kann das subversiv nennen – und schlicht genial. (MANNSCHAFT berichtete über Disneys queere Subtexte.)
Für die Wasserballettnummer Sebastians bekommen Ashman und Menken einen Oscar, was einem Ritterschlag gleichkommt, der das Autorenteam in die erste Erfolgsreihe manövrierte. Sie werden sofort aufs nächste Disney-Projekt angesetzt: «Die Schöne und das Biest». Und das, obwohl Ashman eigentlich den 1001-Nacht-Film «Aladdin» machen will, ein Stoff, den er schon als Kind selbst aufgeführt und für den er bereits viele Songtexte verfasst hat.
Aidsdiagnose Inzwischen hat sich Ashman mit seinem Partner Bill in der Nähe von New York ein Haus gebaut (von Bill entworfen), mitten im Wald gelegen. Weit weg von der Welt. Vielleicht, weil Ashman 1988 positiv auf HIV getestet wurde und eine Aidsdiagnose bekommt. Diese hält er anfangs geheim bei Disney, weil er fürchtet, gefeuert zu werden. Direkt nach der Oscarverleihung teilt er Menken mit, dass er krank sei. Und es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.
Für die Musikaufnahmen zu «Beauty and the Beast» – wieder im Stil der alten Musicalklassiker – kommt die Disney-Crew nach New York, damit Ashman dabei sein kann. In der Doku sieht man ihn, wie er mit Superstar und Gay Icon Angela Lansbury an der Nummer «Be Our Guest» arbeitet. Als das dann mit vollem Orchester und mit Lansburys unnachahmlichen Stil aufgenommen wird, sieht man ein riesiges Lächeln, das sich über Menkens Gesicht ausbreitet. Da wird Musicalgeschichte geschrieben!
Ashman kommt kurz danach dauerhaft ins Krankenhaus, wo er auf dem Sterbebett den Liedtext «Prince Ali» für «Aladdin» verfasst. Die erste öffentliche Aufführung von «Beauty and the Beast» in einer nichtkolorierten Rohfassung beim New York Filmfestival kann er nicht mehr besuchen. Es gibt stehende Ovationen für den Film, der zu einem der grössten Disney-Hits aller Zeiten werden soll, später als Live-Ereignis an den Broadway wandert und dann nochmal neu verfilmt wird mit den alten Liedern. Die Disney-Crew kommt nach der Festivalvorführung zu Ashman ins Krankenhaus und verabschiedet sich – für immer.
Die Disney-Crew kommt nach der Festivalvorführung zu Ashman ins Krankenhaus und verabschiedet sich – für immer
Lebenspartner nimmt Oscar entgegen Ashman stirbt 1991. Den Oscar, den er für die Songs aus «Beauty and the Beast» gewinnt, nimmt sein Partner Bill entgegen. Es ist das erste Mal in der Geschichte Hollywoods, dass ein Toter einen Oscar bekommt und der schwule Lebenspartner diesen entgegennimmt.
All das in einer Doku eingefangen zu haben – die Magie der Musik, das befreite Lebensgefühl der 70er- und 80er-Jahre, die Wucht, mit der die Aidskrise zuschlug – ist das Verdienst von «Howard». Und macht den Film sehenswert. Vielfach sogar berührend.
Wer mehr über Ashman und sein Revival der Disney-Musicalsparte erfahren will, findet bei Disney+ auch die Doku «Waking Sleeping Beauty» von 2009. Da wird Ashmans Homosexualität ebenfalls thematisiert, aber nicht in dem Umfang und nicht mit der zentralen Bedeutung, die sie in «Howard» hat. Weswegen es lohnt, auf diesen Film hier nochmals hinzuweisen. Und ihn aus den Tiefen des Disney+-Archiv rauszusuchen, wenn man das nicht bereits getan hat.
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