Die Schweiz geht für die Ehe für alle auf die Strasse

In Nesslau stand die erste politische Kundgebung überhaupt auf dem Programm

Am 14. August fand in Bern der
Relaunch der Abstimmungs­kampagne für die Ehe für alle statt. (Bild: Patrick Frauchiger)
Am 14. August fand in Bern der Relaunch der Abstimmungs­kampagne für die Ehe für alle statt. (Bild: Patrick Frauchiger)

Die ganze LGBTIQ-Community zieht für die Ehe für alle in den Abstimmungskampf, in allen Landesteilen finden Events statt, sowohl in den Städten als auch in ländlichen Gebieten, wie etwa im beschaulichen Nesslau in der Ostschweiz.

Kleine Dörfer, saftiggrüne Hügel und kantige Berggipfel. Das Toggenburg in der Ostschweiz ist bekannt für idyllische Wanderungen – nicht für laute Demonstrationen und Regenbogenfahnen. Am allerwenigsten Nesslau, die kleine Gemeinde in der Nähe des Schwägalppasses und letzte Station auf der S-Bahn-Linie von St. Gallen. Das änderte sich am 21. August 2021, als sich rund 200 Personen am Bahnhof versammelten, um entlang der Hauptstrasse des 3500-Seelen-Dorfs für die Ehe für alle zu demonstrieren. Es war die erste politische Kundgebung überhaupt in der Geschichte von Nesslau.

Mehr Sichtbarkeit auf dem Land «Nesslau ist sehr ländlich geprägt. Viehmärkte, Jodeln und auch die SVP sind hier stark verankert», sagt Joel Müller, Vizepräsident der SP im Kanton St. Gallen und Mitorganisator der Kundgebung. Obwohl die Ehe für alle in der Parteibasis der SVP so einige Unterstützer*innen hat, tickt die Parteispitze anders. An der Delegiertenversammlung fasste die SVP Schweiz die Nein-Parole. «Für uns war klar: Wenn aufs Land, dann nach Nesslau», so Müller.

Am 26. September stimmt die Schweiz über die Ehe für alle ab. Nebst der Öffnung der Zivilehe sollen Kinder in Regenbogenfamilien rechtlich abgesichert werden, lesbische Ehefrauen erhalten den Zugang zur Samenspende. Gerade Letzteres wird von rechtskonservativen Politiker*innen vehement bekämpft, darunter Personen der Mitte, der SVP und der EDU. Nach Deutschland und Österreich wäre die Schweiz eines der letzten Länder Westeuropas, die die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnen.

Doch warum Nesslau? «In den Städten gibt es viele Veranstaltungen für die Ehe für alle. Wir wollten auch auf dem Land Sichtbarkeit schaffen», sagt Müller. «Gerade jungen oder ungeouteten Menschen möchten wir zeigen, dass sie nicht alleine sind.»

Rund 200 Menschen machten die Reise nach Nesslau, einem kleinen Dorf am Ende der S-Bahn-Linie von St. Gallen. (Bild: Hannes Sturzenegger)
Rund 200 Menschen machten die Reise nach Nesslau, einem kleinen Dorf am Ende der S-Bahn-Linie von St. Gallen. (Bild: Hannes Sturzenegger)

Besonders gefreut hat Müller die rege Durchmischung der Teilnehmenden. Viele reisten mit dem Zug an, einige von ihnen aus dem Kanton Glarus oder gar von der Landesgrenze aus Schaffhausen. «Da es eine Landdemo war, kamen viele Leute, darunter viele Toggenburger*innen und Heteros», sagt er. «Selbst Einheimische waren dabei, ein 17-jähriger Nesslauer und ein über 60-jähriges lesbisches Paar.»

Viel Zustimmung, ein kleiner Zwischenfall In die Schlagzeilen schaffte es nicht nur die Demonstration, sondern auch eine einzelne Frau, die laut schreiend auf die Demonstrierenden losging. Gegenüber der Polizei verweigerte sie die Personenkontrolle, weshalb sie schliesslich weggewiesen wurde.

Müller bedauert, dass der Vorfall in der medialen Berichterstattung «aufgebauscht» worden sei. Die Frau habe sich zufällig am Bahnhof aufgehalten und sei nicht gezielt wegen der Demonstration gekommen. «Mir ist wichtig, dass der Vorfall nicht mit der Einstellung auf dem Land in Verbindung gebracht wird», sagt er. «Schon bei der Zurich Pride habe ich erlebt, dass Menschen in einem Hauseingang stehen und den Umzug verfluchen.»

Bis auf einen Zwischenfall verlief die Demonstration in Nesslau ruhig. Es war die erste politische Kundgebung in der Geschichte des Dorfs. (Bild: Hannes Sturzenegger)
Bis auf einen Zwischenfall verlief die Demonstration in Nesslau ruhig. Es war die erste politische Kundgebung in der Geschichte des Dorfs. (Bild: Hannes Sturzenegger)

Abgesehen von diesem Zwischenfall habe es in Nesslau nur Positives gegeben. Mit Sonnenschein und hochsommerlichen Temperaturen spielte selbst das Wetter mit. Ein Demonstrant nahm das zum Anlass, «Petrus ist eine Schwester» auf sein Plakat zu schreiben. Müller erzählt, wie Menschen dem Demonstrationszug von Restaurantterrassen zuwinkten oder in entgegenkommenden Autos das Tempo verlangsamten und den Daumen hochstreckten. «Wir sind auch dafür», riefen ihnen Eltern zu, die im Garten mit den Kindern spielten.

«Als schwuler Toggenburger war es ein sehr emotionaler Tag für mich», sagt Müller. «Viele Menschen kamen, um sich zu solidarisieren. Es war eine sehr schöne Demonstration.»

Die heisse Phase des Abstimmungskampfs Die Kundgebung in Nesslau war einer von unzähligen Events, die für die Ehe für alle durchgeführt werden. Zwischen dem Relaunch der Kampagne am 14. August mit einer symbolischen Hochzeit in Bern und dem Abstimmungstag am 26. September finden jedes Wochenende in allen Landesteilen mehrere Veranstaltungen statt, sowohl in Städten wie Genf, Basel oder Zürich als auch in ländlichen Regionen wie Stans, Porrentruy oder im Emmental.

Am 14. August gaben sich gleichgeschlechtliche Paare in Bern symbolisch das Ja-Wort. (Bild: Patrick Frauchiger)
Am 14. August gaben sich gleichgeschlechtliche Paare in Bern symbolisch das Ja-Wort. (Bild: Patrick Frauchiger)

Eine kleine Zahl der Unentschiedenen Die Ausgangslage für die Ehe für alle ist gut. Die Mainstream-Medien berichten viel, oft und positiv zum Thema und Umfragen beziffern die Zustimmung auf 66 % (MANNSCHAFT berichtete). 33 % lehnen die Ehe für alle aus religiösen Gründen ab oder halten die eingetragene Partnerschaft für genug, damit bleiben noch 1 % Unentschiedene – ein auffallend tiefer Wert vier Wochen vor einer Abstimmung.

«Die Meinungsbildung ist vorbei, wir befinden uns jetzt in der Mobilisierungsphase», sagt Olga Baranova, Kampagnenleiterin der Ehe für alle, gegenüber MANNSCHAFT. Der parlamentarische Prozess sei besonders lang gewesen, seit 2013 berichteten die Medien immer wieder über das Thema, so dass die Stimmbürger*innen viel Zeit gehabt hätten, ihre Position zu beziehen. «Jetzt geht es darum, unsere Unterstützer*innen an die Urne zu bringen.»

Baranova ist mit dem Stand der Dinge «sehr» zufrieden. «Es ist ein community-­naher Abstimmungskampf. Wir haben eine unglaubliche Medienpräsenz. Familien und individuelle Geschichten werden in der Gesellschaft sichtbar», sagt sie. «Zugleich gehen Tausende Menschen auf die Strasse, um Flyer zu verteilen oder einfach nur, um Präsenz zu markieren.»

Jetzt lautet die Devise, möglichst viele Ja-Sager*innen an die Urne zu bringen. (Bild: Patrick Frauchiger)
Jetzt lautet die Devise, möglichst viele Ja-Sager*innen an die Urne zu bringen. (Bild: Patrick Frauchiger)

«Eher älter, eher männlich» Die Events auf dem Land kommen bei der lokalen Bevölkerung überwiegend gut an. Es ist kein Stadt-Land-Graben und auch keine Kluft zwischen der lateinischen und der deutschen Schweiz, die das Stimmvolk bei der Ehe für alle entzweien, sondern – wie die ersten Umfragen zeigen – eine Generationenfrage.

«Die Neinstimmenden sind eher älter, eher männlich», sagt Baranova. Teilweise könne sie sogar Verständnis für diese Bevölkerungsgruppe aufbringen. «Das sind Menschen, die in einer Zeit ohne Gleichstellung aufgewachsen sind und vielleicht sogar gegen das Frauenstimmrecht waren.» Die Zeit, um Neinstimmende zu überzeugen, ist vorbei. Die letzten Events vor dem 26. September sowie die Plakatkampagne, die seit dem 30. August in der ganzen Schweiz zu sehen ist, sind Teil der von Baranova angesprochenen Mobilisierungsphase. Und doch gibt es offenbar noch Menschen, die jetzt noch ihre Meinung ändern. Nach ihrem Auftritt im Westschweizer Fernsehen RTS am 26. August hörte Baranova von einem ehemaligen Studienkollegen. «Er schrieb, dass ich es geschafft hätte, seine Mutter zu überzeugen. Sie habe sich um die Kinder Sorgen gemacht, doch mein Aussagen hätten sie beruhigt», sagt sie. «Diese Nachricht hat mich sehr berührt.»

Die Ehe für alle soll auch auf dem Land durchkommen, so Müller. (Bild: Hannes Sturzenegger)
Die Ehe für alle soll auch auf dem Land durchkommen, so Müller. (Bild: Hannes Sturzenegger)

Konkrete Prognosen für die Abstimmung möchte Baranova nicht machen. «Eine Mehrheit ist sehr realistisch», sagt sie. «Mein persönliches Ziel ist es, dass wir über 60 % erreichen. Ein solches Resultat wäre ein starkes Zeichen für die Gleichstellung.»

Joel Müller hofft, dass Events wie derjenige in Nesslau zu einem symbolträchtigen Abstimmungsergebnis führen. «Die Ehe für alle soll nicht nur wegen der Menschen in den Städten durchkommen, sondern auch wegen der Menschen auf dem Land», sagt er.

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