HIV-Epidemie – in Rumänien immer noch traurige Realität
Den Krankenhäusern gehen seit drei Monaten die HIV-Medikamente aus. Mal wieder.
Männer, die mit Männern Sex haben, setzen sich im postkommunistischen Land einem grossen HIV-Risiko aus. Auch noch im Jahr 2018.
Eine Regenbogenfahne im Garten weist mir den Weg zum Eingang. Hier hat ACCEPT, die grösste LGBTIQ-Organisation Rumäniens, ihren Hauptsitz. Die ausgeleierte Fahne ist der Inbegriff der politischen Situation für die LGBTIQ-Community des postkommunistischen Landes.
Florin Buhuceanu begrüsst mich herzlich in seinem Büro. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass Florin der Gründungsvater der LGBTIQ-Bewegung in Rumänien ist. Seit er 2004 mit «GayFest» das erste öffentliche LGBTIQ-Event Rumäniens veranstaltet hat, ist er das Gesicht der ganzen Community.
Eigentlich wollte ich Rumänien besuchen, um mehr über die Stimmung nach dem gescheiterten Referendum zu erfahren. Eine unzureichende Stimmbeteiligung hatte im Oktober eine Initiative versenkt, die eine konservative Definition der Ehe als Bindung zwischen Mann und Frau gefordert hatte. Doch in einem ersten Skype-Gespräch hatte mich Florin gebeten, einen Schwerpunkt auf eine dringendere Krise zu setzen.
Viele Menschen glauben, die HIV-Epidemie sei ein Relikt der Achtziger- und Neunzigerjahre. In Rumänien könnte nichts weiter entfernt von der Realität sein. Schon seit drei Monaten gehen den Krankenhäusern im Land die HIV-Medikamente aus, am schwersten betroffen sind MSM – Männer, die mit Männern Sex haben. Es ist die einzige Bevölkerungsgruppe Rumäniens, die Jahr für Jahr von höheren Infektionsraten betroffen ist. Meine anstehenden Gespräche deuten darauf hin, dass strukturelle Diskriminierungen und Missmanagement die Gründe dafür sind.
Doppeltes Stigma In der rumänischen Nationalbibliothek treffe ich Mihai Lixandru, den Leiter des «Queens Checkpoint», dem einzigen Testangebot des Landes für MSM. «Die am stärksten diskriminierten Menschen hier sind HIV-positive Menschen und schwule Männer. Schwule, die mit HIV leben, sind doppelt stigmatisiert», erklärt er.
Das Testangebot existiert erst seit letztem Jahr. «Zu Beginn hatten die Leute Angst, vorbeizukommen. Als wir unsere Dienstleistungen ins Queens verlegten (der einzige LGBTIQ-Club Bukarests, Anm. d. Red), fühlten sie sich sicherer.»
Das Projekt will noch bis Ende 2018 rund 600 HIV-Tests durchführen – ein Ziel, dass gemäss Mihai leicht zu erreichen, sogar zu übertreffen sein wird. «Die Nachfrage ist gross, aber wir können nicht überall sein.»
Mit einem zweiten Projekt – «Checkpoint Caravan» – besucht Mihai regelmässig andere Städte Rumäniens, um die dortige MSM-Community zu erreichen.
Eine hohe Dunkelziffer In Bukarest sind 7 % der durch «Queens Checkpoint» getesteten MSM HIV-positiv. «Diese Zahl ist jedoch höher ausserhalb der Hauptstadt», so Mihai. Beim «Checkpoint Caravan» ist einer von zehn MSM positiv.
Die Realität dürfte gemäss HIV-Aktivistin Alina Dimitriu allerdings schlimmer aussehen. «Wir können nicht die gesamte MSM-Community abdecken. Viele lassen sich in Krankenhäusern testen», sagt sie. «Aus Angst vor Diskriminierung geben sie sich dort als heterosexuell aus.» Die Falschinformation bringt gesundheitliche Risiken mit sich: Heterosexuelle Männer erhalten keinen analen Abstrich, eine mögliche Gonorrhoe im Anus bleibt unentdeckt.
Eine fehlende Sexualaufklärung Ein Uber bringt mich zu meinem letzten Interview des Tages. Der Fahrer will wissen, was mich nach Rumänien bringt. Mit etwas Zurückhaltung sage ich ihm, dass ich die Situation von HIV und AIDS in seinem Land untersuchen möchte. Ohne zu zögern bringt er die Epidemie mit der schwulen Community in Verbindung. Ich erkläre ihm, dass HIV/Aids nicht nur ein «schwules Ding» ist, dass sich jeder Mann und jede Frau mit dem Virus anstecken kann. Mein Versuch schlägt fehl. Mangelnde Aufklärung kann man nicht in fünf Minuten wett machen.
In der Tat machen viele meiner Gesprächspartner*innen das Fehlen einer guten und strukturierten Sexualaufklärung als einen der vielen Gründe für das HIV-Problem in der rumänischen Gesellschaft verantwortlich.
Iulian Petre ist der Geschäftsleiter von UNOPA, der nationalen Organisation für Menschen, die von HIV/Aids betroffen sind. Nachdem Rumänien der EU beigetreten war, stellte der «Global Fund to Fight AIDS» seine Spendengelder an rumänische NGOs ein. «Wir gelten jetzt als Land mit einem mittleren Einkommen», sagt er. «Man geht davon aus, dass wir unsere Präventions- und Bildungsprogramme selbst finanzieren können.»
Auch hier sieht die Realität anders aus: Ich denke an Alina, die auf die hohen Schwangerschaftsraten bei Minderjährigen oder die HIV-Infektionszahlen bei Teenagern aufmerksam macht. Florin zählt die Engstirnigkeit rumänischer Politiker als weiteren Grund auf: «Das einzige Ministerium, das sich um HIV/Aids kümmert, ist das Gesundheitsministerium. Das Ministerium für Bildung und Jugend sollte ebenfalls involviert werden.»
Lieferengpässe Eine andere, eher aussergewöhnliche, Erklärung kommt von Iulian Petre, dem als UNOPA-Direktor eine gute Beziehung zur Regierung wichtig ist: «Die erhöhte Lebensqualität und Lebenserwartung durch die Medikamente ist für die Epidemie mitverantwortlich», sagt er. Er glaubt, dass innerhalb der MSM-Community ein Wandel stattgefunden hat. «Man sieht die Infektion nicht länger als Gesundheitsrisiko. In ihren Köpfen ist es eine chronische Krankheit, die behandelt werden kann.»
Zwischen 1988 und 1992 ereignete sich in rumänischen Krankenhäusern eine humanitäre Katastrophe. Bis zu 14‘000 Kinder wurden aufgrund prekärer Hygienebedingungen mit dem HI-Virus angesteckt. 7‘000 dieser Kinder sind heute noch am Leben und in ihren Dreissigern.
«Das macht die Lieferengpässe der HIV-Medikamente noch unverschämter», sagt Florin von ACCEPT. «Der gleiche Staat, der die damaligen Kinder infiziert hat, gefährdet ihre Gesundheit erneut, indem er ihnen den Zugang zu ihrer Behandlung erschwert.»
Der HIV-Aktivistin Alina zufolge bestehen die Lieferengpässe zur Zeit bei 11 Krankenhäusern. UNOPA-Geschäftsleiter Iulian wehrt sich. Die Lieferengpässe seien nicht strukturell bedingt. «Die meisten Krankenhäuser können die Behandlung nach zwei Wochen wieder anbieten. In der Tat besteht dieses Problem schon seit zwei, drei Monaten.»
Es ist nicht das erste Mal, dass HIV-Medikamente in Rumänien vergriffen sind. «Seit 2007 hat es jährlich Lieferengpässe gegeben. Dieses Jahr war es der grösste», sagt Florin.
Ein neuer Plan? 2007 endete auch der letzte nationale Strategieplan Rumäniens im Kampf gegen HIV/Aids. All meine Gesprächspartner*innen betonen die Dringlichkeit eines neuen Plans. «Viele Probleme hätten verhindert werden können, wenn wenigstens ein Plan existieren würde, der sich mit der Thematik befasst», sagt Alina.
Ihr Wunsch wird vielleicht bald Realität. Ein neuer nationaler Strategieplan, erarbeitet vom Gesundheitsministerium in Kooperation mit mehreren NGOs, soll bald im rumänischen Parlament behandelt werden.
«Der Plan wurde ursprünglich von den NGOs erstellt», sagt LGBTIQ-Aktivist Florin. Man habe auf ein detailliertes und realistisches Budget geachtet, um die Gunst der Gesetzgeber zu gewinnen. «Zudem erweitert der Plan den Verantwortungsbereich auf andere Ministerien, darunter das Ministerium für Bildung und Jugend. Schliesslich zeichnet sich der Premierminister verantwortlich im Umgang mit einer solchen Epidemie.»
«Der Premier hat mir zugesichert, dass der Plan akzeptiert wird», folgert UNOPA-Geschäftsleiter Iulian Petre. «Ich möchte keine grossen Erwartungen schüren, aber ich bin zuversichtlich.»
Rémy Bonny ist seit mehreren Jahren ein Experte für LGBTIQ-Anliegen in Osteuropa und hat bereits für mehrere grosse Nachrichtenkanäle berichtet. Er ist oft unterwegs, um Vertreter*innen der Community zu treffen und zu interviewen. Im November war er unter anderem in Rumänien, Slowenien und Moldawien anzutreffen. remybonny.be
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