Der alte weisse Mann steht auf – «Woke Linke» als Bedrohung?
An der Uni heisst es mintunter: Wer nicht gendert, ist rechts!
Linke Identitätspolitik hat den Anspruch, den Blick für Diskriminierung zu schärfen und Minderheiten eine Stimme zu geben. Kritiker werfen der Bewegung jedoch vor, ebenso wie Rechtspopulisten die Demokratie zu untergraben.
Von Christoph Driessen, dpa
Der 62 Jahre alte weisse Mann Dieter Nuhr ist gegen gendergerechte Sprache. «Dieser Glaube, die Realität würde sich der Sprache anpassen, ist ja ohne jeden Beleg und ein Zeichen für ideologischen Kontrollwahn», sagte der Kabarettist vor einiger Zeit in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur. Seine Haltung bringt ihm neben dem einen oder anderen Shitstorm auch Unterstützung ein: Am Montag ist Nuhr der wohl prominenteste Teilnehmer eines Berliner Kongresses mit dem Thema «Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit?»
Organisiert wird die Veranstaltung von der Denkfabrik Republik21 für «neue bürgerliche Politik». Deren Leiter, der Historiker Andreas Rödder, arbeitet derzeit in der CDU zusammen mit Partei-Vize Carsten Linnemann an einem neuen Grundsatzprogramm, das 2024 beschlossen werden soll. Rödders Stellvertreterin ist die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder, ebenfalls CDU. Gleichwohl versteht sich R21 als überparteilich.
In einem am Montag in Berlin veröffentlichten Manifest warnt R21 vor einer Bedrohung der freien Gesellschaft durch linke Identitätspolitik. «Die Grundlagen der freien Gesellschaft und unseres demokratischen Gemeinwesens werden durch populistische und extremistische Rechte ebenso wie durch woke Linke bedroht», heisst es darin.
Der aus den USA stammende Begriff «woke» bedeutet so viel wie «wach sein» und bezog sich anfangs allein auf rassistische Diskriminierung. «Stay woke!» hiess so viel wie: «Schau hin und tu was, wenn Schwarze schlecht behandelt werden!» Im Laufe weniger Jahre erweiterte sich die Bedeutung auch auf andere Minderheiten. Zuletzt lag der Fokus stark auf trans Menschen.
Wer sich heute in Deutschland dazu bekennt, «woke» zu sein, hat den Anspruch, einen geschärften Blick für Ungerechtigkeiten aller Art zu haben. Unter Umständen fallen dann Dinge auf, die vorher nie infrage gestellt worden sind. Zum Beispiel: Warum läuft im Fernsehen ganz viel Männer- und nur sehr wenig Frauensport?
Zum «Woke-Sein» gehört meist auch das Gendern. Der emanzipatorische Ansatz dahinter ist, dass Frauen – und Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau fühlen – so lange benachteiligt worden sind, dass sie jetzt ein Recht darauf haben, deutlich sichtbar und gehört zu werden.
Der vielzitierte alte weisse Mann steht hingegen für jene Gruppe, die nie aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe diskriminiert wurde. Deshalb soll er jetzt erstmal still sein, denn er hat jahrhundertelang fast als Einziger geredet. Als zunehmend kritisch wird dabei auch gesehen, wenn gutwillige alte weisse Männer versuchen, sich in Angehörige von Minderheiten hineinzuversetzen. Das, so heisst es oft, sei anmassend, weil es einem dermassen privilegierten Menschen sowieso nicht gelingen könne.
All das halten die Mitglieder von R21 für problematisch. Rödder, zurzeit Gastprofessor an der Johns Hopkins University in Washington, meint: «Die Verhältnisse in den USA sind zwar nicht automatisch eine Blaupause für die Entwicklung in Deutschland, aber die Parallelen sind kaum zu übersehen.» Er erlebe selbst, wie in den Schulen an der Ost- und Westküste die Vorstellung verbreitet werde, dass Weisse strukturell rassistisch seien und die ganze bürgerlich-liberale Gesellschaftsordnung auf Diskriminierung beruhe. «Das sickert längst auch ein in die Diskurse in Europa und Deutschland.»
Offensichtlich sei dies etwa in der Wissenschaft. Ein Beispiel ist für ihn die junge Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht, die dieses Jahr an der Humboldt-Universität in Berlin in einem Vortrag aussprechen wollte, dass die Biologie nur zwei Geschlechter kenne. Dies führte zu Protesten – auch weil Vollbrecht einen «Welt»-Beitrag mit dem Titel «Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren» mitverfasst hatte. Darin hiess es etwa, Aktivisten mit einer «‹woken› Trans-Ideologie» unterwanderten den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (MANNSCHAFT berichtete).
Vollbrechts Vortrag wurde daraufhin von der Universität zunächst wegen Sicherheitsbedenken gestrichen, dann aber nach heftiger Kritik nachgeholt. «Das Entscheidende ist das Signal, das davon ausgeht», sagt Rödder. «Es schüchtert ein. Andere werden sich künftig zweimal überlegen, ob sie solchen Ärger riskieren wollen.»
Kritiker sprechen hier von Cancel Culture, also von einer Ächtungskultur, die sozialen Ausschluss bewirken will. Dagegen wird unter anderem angeführt, dass es auch zahlreiche Beispiele für rechte Cancel-Kampagnen gebe. So wurde 2019 das sogenannte «Umweltsau»-Lied des WDR-Kinderchors, das mangelndes Umweltbewusstsein von Älteren anprangerte, nach einem massiven Shitstorm gelöscht. Ein anderes Gegenargument ist, dass offene Gesellschaften ihre Werte ständig neu verhandelten. Einiges könne dann irgendwann nicht mehr gesagt werden, anderes, was vorher vielleicht mit einem Tabu belegt war, schon. So konnte man sich vor 30, 40 Jahren noch offen abschätzig über Homosexuelle äussern. Heute ist das kaum noch möglich – und das ist auch gut so.
Rödder betont, dass er selbstverständlich für Rücksicht und bürgerlichen Anstand etwa im Umgang mit gesellschaftlichen Minderheiten wie trans Menschen eintrete. Nicht in Ordnung sei dagegen, Diskussionen von vornherein mit der Begründung abzublocken, Betroffene könnten sich dadurch verletzt fühlen. «Ich halte es zum Beispiel für absolut geboten, darüber zu sprechen, warum heute so viele Mädchen einen Geschlechtswechsel wünschen. Eine kontroverse Diskussion dieses gesellschaftlichen Phänomens muss möglich bleiben – alles andere wäre absurd.»
Ich erlebe es an der Uni, dass gesagt wird: Wer nicht gendert, ist rechts.
Ebenso dürfe das Gendern nicht zum Zwang werden. «Sprachliche Sensibilität ist immer richtig, sprachliche Vorschriften sind nicht akzeptabel. Ich erlebe es an der Uni, dass gesagt wird: ‹Wer nicht gendert, ist rechts.›»
Die radikalen Rechten profitierten von der linken Identitätspolitik, weil sie deren Absurditäten für ihre Zwecke ausschlachteten und Ressentiments schürten. Dies führe zu einer immer weiter fortschreitenden Spaltung der Gesellschaft. Für R21 zeigt das Beispiel USA, wie sich eine radikale Rechte und «woke Linke» immer weiter aufstacheln. Rödder ist überzeugt: «Die Gefahr einer Polarisierung der Öffentlichkeit droht auch in Deutschland.»
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