Darf Karla Sofía Gascón trotz Skandal-Tweets den Oscar bekommen?

Ein Goldjunge für die Pechmarie?

Karla Sofía Gascón und Zoë Saldaña (hinten) sind für Oscars nominiert.
Karla Sofía Gascón (Bild: Why Not Productions/Pathé)

Darf die Schauspielerin Karla Sofía Gascón trotz islamfeindlicher, rassistischer und verschwörungstheoretischer Tweets einen Oscar erhalten? Oder muss man die Künstlerin von der Person trennen? Der Kommentar*

Seit ein paar Tagen steht fest: Karla Sofía Gascón wird bei den Oscars anwesend sein. Das war lange unklar, hatte sich die trans Schauspielerin, die auf eine Auszeichnung für ihre Hauptrolle im Musicalfilm «Emilia Pérez» hoffen darf, doch mit islamfeindlichen, rassistischen und verschwörungstheoretischen Tweets unlängst selbst ins gesellschaftliche Abseits manövriert. Seit den Golden Globes (MANNSCHAFT berichtete) war die Spanierin kaum auf einer der grossen Award-Shows mehr vertreten gewesen, trotz zahlreicher Nominierungen für ihre Darstellung eines mexikanischen Drogenbosses, der sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterzieht.

Gascóns Tweets aus der Zeit zwischen 2016 und 2023, die von der Journalistin Sarah Hagi ausfindig gemacht und verbreitet wurden, hatten den Streamingriesen und Distributor Netflix dazu veranlasst, der Schauspielerin die öffentliche Unterstützung zu entziehen. In ihren mittlerweile gelöschten Posts zeigte sich die Schauspielerin besorgt über die vermeintliche Gefahr durch arabischstämmige und muslimische Einwanderer. Sie verunglimpfte den Ermordeten George Floyd, verbreitete fragwürdige Ansichten zur Corona-Pandemie und liess sich über die ihrer Ansicht nach allgegenwärtige Wokeness Hollywoods aus. Und auch der Film «Emilia Pérez» wurde – obschon für 13 Oscars nominiert – vom anfänglich gehypten Meisterwerk zum kontrovers diskutierten Machwerk.

Karla Sofía Gascóns steiler Fall und die öffentliche Ächtung führen letztlich zu einer der ältesten kunsttheoretischen Fragen: Darf man Künstler*innen von ihrer Kunst trennen? Oder muss man es sogar?

«Darf ich noch Filme von Woody Allen oder Roman Polanski schauen? Muss ich Michael Jackson aus meiner Spotify-Liste löschen?»

Ich habe Literaturwissenschaften studiert und im ersten Semester wurde uns folgender Leitsatz ins Gehirn gehämmert: «Der Autor ist tot.» Das heisst nichts anderes, als dass die Person des Autors oder der Autorin nicht mit seinem oder ihrem Werk in Verbindung gesetzt werden sollte. Die Deutungshoheit solle also beim Rezipierenden liegen, nicht beim Schaffenden. Mein zweites Hauptfach war Filmwissenschaft und dort habe ich interessanterweise nie gehört, dass der Regisseur oder die Schauspielerin tot sei. Auf die Frage, ob eine Untrennbarkeit von Kunstschaffenden und deren Werken besteht, gibt es schlichtweg keine einfache und allgemeingültige Antwort. Darf ich noch die Filme von Woody Allen oder Roman Polanski schauen? Muss ich Michael Jackson aus meiner Spotify-Liste löschen? Sollte ich direkt umschalten, wenn eine alte Folge der «Bill Cosby Show» läuft?

Vielleicht habe ich den Tod des Autors aus dem Studium zu sehr verinnerlicht, aber meiner Ansicht nach, muss es in erster Linie uns Konsument*innen überlassen bleiben, ob wir weiter konsumieren wollen oder nicht. Zudem mag Karla Sofía Gascón Ansichten vertreten, die äusserst fragwürdig sind und mit meinen eigenen in keiner Weise einhergehen. Das macht sie für manch eine*n vielleicht zu einem schlechten Menschen, jedoch nicht automatisch auch zu einer schlechten Schauspielerin, die es nicht verdient hätte, für ihr Schaffen ausgezeichnet zu werden.

Die Frage, ob Gascón einen Oscar gewinnen darf, stellt sich daher für mich nicht. Natürlich darf sie das. Ihr Spiel hat mich auch durchaus beeindruckt und ist nicht von ihren privaten Ansichten durchdrungen. Dass sie tatsächlich mit einer goldenen Statue nach Hause geht, glaube ich allerdings nicht. Die Kolleg*innen der umstrittenen Spanierin verhalten sich schliesslich auch nicht anders und treffen ganz individuelle Entscheidungen, was den Umgang mit ihr betrifft. Während sich Co-Stars wie Zoe Saldana distanzieren (vielleicht sogar aus Kalkül, um nicht selbst zur Persona non grata zu werden), schlagen Regisseur Jacques Audiard oder auch Demi Moore mittlerweile wieder versöhnlichere Töne an und erwähnen Gascón in ihren eigenen Dankesreden.

Kurzum sollte und werde ich weiterhin akzeptieren, dass Karla Sofía Gascón für ihre schauspielerischen Leistungen gewürdigt und ausgezeichnet wird. Ob ich diesen Umstand jedoch auch beklatsche, bleibt mir selbst überlassen. Wie Gascóns Kolleg*innen muss auch jede*r von uns für sich selbst die Grenze ziehen und entscheiden, inwieweit er Künstler*innen und deren Werke zu trennen vermag oder nicht.

Dass wir zu dieser Trennung mitunter gar nicht fähig sind, hat indes eine Gruppe Studierender der Humboldt Universität Berlin im Rahmen einer neurokognitiven Studie herausgefunden. Dort kam man zu dem Ergebnis, dass negatives Wissen über die Kunstschaffenden zu einer negativeren Bewertung von deren Kunst führt. Als Distributor des Films «Emilia Pérez» hat Netflix natürlich das Recht, Karla Sofía Gascón nicht weiter zu sponsern. Sie schicken die Actrice immerhin als Privatperson auf die roten Teppiche. Im Falle der Oscarverleihung hat man sich jedoch entschlossen, den Umstand, dass Gascón als erste trans Schauspielerin für die beste Hauptrolle nominiert ist, höher zu bewerten, als deren persönliche Verfehlungen (MANNSCHAFT berichtete).

Nach wie vor vertrete ich die Ansicht, dass man zumindest versuchen sollte, Künstler*in und Kunst zu trennen. Die wirklich talentierten Kunstschaffenden sollten schliesslich auch selbst in der Lage sein, ihre persönlichen Ansichten aus ihren Werken herauszuhalten. Zumindest, sofern sie das auch wollen. Als Rezipienten gelingt uns die Trennung von Person und Werk mal mehr und mal weniger gut und ist von zahlreichen Faktoren abhängig (so etwa auch, ob bei Fehlverhalten von ideologischen Verfehlungen oder tatsächlichen Verbrechen die Rede ist). Laut den Berliner Student*innen sind wir dazu aber kaum (noch) in der Lage.

Ein Oscar-Gewinn von Gascón wäre in Trumps Amerika eine Sensation. Er ist aber unwahrscheinlich, weil auch die Academy nicht nur auf die Darstellung der trans Schauspielerin, sondern auch auf die durchaus problematische Privatperson schauen wird. Wie im Märchen ist es das eigene Fehlverhalten, das Gascón zur selbstverschuldeten Pechmarie macht und den Goldjungen in weite Ferne rückt. Die kunsttheoretische Frage und die damit einhergehende Debatte sind und bleiben wichtig. Zeigen sie uns doch, dass sich unsere Welt nicht ganz einfach in schwarz und weiß einteilen lässt.

*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

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