«Cassandro»: Der schwule Wrestler, der Tabus bricht
Achtung, dieser Artikel enthält Spoiler!
Hollywoodschauspieler Gael García Bernal schlüpft in die Rolle des Lucha-Libre-Wrestlers Cassandro, der in den 1980er-Jahren in Mexiko zum Star avancierte – in Drag-Outfits und als offen schwuler Mann in einer toxisch-homophoben Männerwelt.
Die Sportart «Lucha Libre» ist eine Form des Show-Wrestling, die in Mexiko in den 1930er-Jahren entstand und extrem populär bei breiten Publikumsschichten ist. Lucha Libre ist u.a. berühmt für spektakuläre Kostüme, Masken, Muskeln und noch spektakuläreres High-Flying.
Es ist zudem eine fast grotesk übersteigerte Macho-Welt, wo altmodische Geschlechterstereotype zelebriert werden – zu denen zählt, dass bei den Wettkämpfen sogenannte «Exóticos» auftreten, als bewusst «tuntig» gelesene Männer, die von ihren hypermännlichen Kontrahenten immer (!) besiegt werden, zum Gaudi des Publikums. Ob diese «tuntigen» Sportler wirklich schwul sind, steht nicht weiter zur Diskussion, oft spielen sie nur eine entsprechende Rolle, um die Lacher auf ihrer Seite zu haben.
Erst in den späten 1980er-Jahren änderte sich an dieser Situation etwas, als Saúl Armendáriz auftauchte unter dem Namen «Cassandro». Wegen seiner extrem flamboyanten Art und seinen entsprechenden Outfits nannte man ihn den «Liberace von Lucha Libre». Er wagte es, als Exótico seine Gegner umzuwerfen und zu besiegen, er schaffte es auch, das anfangs sehr ablehnend darauf reagierende Publikum auf seine Seite zu ziehen. Er war «anders» und wurde zum Star, der auch in den Medien Mexikos omnipräsent war; zudem war Cassandro tatsächlich offen schwul. Und damit in der jüngeren mexikanischen Gesellschaft eine wichtige Figur, um Homosexualität in der Gesellschaft sichtbar und für viele überhaupt erst sagbar zu machen, sie zu normalisieren.
LGBTIQ-Geschichte Südamerikas Somit ist die Geschichte von Cassandro auch ein wichtiger Teil der LGBTIQ-Geschichte in Südamerika, ähnlich wie etwa der «Ball der 41» über den ersten Homosexuellenskandal in Mexiko, den kürzlich David Pablos zu einem Spielfilm verarbeitet hat, den man bei Netflix sehen kann (MANNSCHAFT berichtete).
Bereits 2016 hatte Regisseur Roger Ross Williams einen kurzen Dokumentarfilm über Saúl Armendáriz gedreht unter dem Titel «The Man Without a Mask». Darin zeigte er, wie Exóticos traditionell dafür da waren, negative homosexuelle Stereotypen zu bestärken: «Cross-dressed Wrestler wurden zu Karikaturen von Schrulligkeit, eine böse Bedrohung, die ein männlicher heterosexueller Gegner zertrümmern musste. Das Publikum begleitet den Vorgang mit homophoben Gesängen, bis die Ordnung wieder hergestellt ist», schreibt The Guardian über diese Doku. «Es ist deprimierend.»
Nun hat Regisseur Williams die Geschichte erweitert zu einem Spielfilm, der beim Sundance Festival Anfang 2023 in Premiere ging und nun bei Amazon Prime zu sehen ist. Dafür konnte er den charismatischen Gael García Bernal als Hauptdarsteller gewinnen.
Der spielt Armendáriz‘ Aufstieg zum Star der Lucha-Libre-Szene, umgeben von vielen weiteren prominenten Darsteller*innen, zu denen Latin-Rapper und Reggeaton-Künstler Bad Bunny als sein Assistent bzw. Aufpasser zählen und der aus der Serie «Looking» bekannte Raoul Castillo als Cassandros ungeouteter und verheirateter Kollege Gerardo, mit dem Armendáriz eine heimliche Beziehung führt, die irgendwann nicht mehr ganz so heimlich ist.
Es gibt in diesem Film etliche Szenen, die extrem einprägsam sind, etwa die, wo Armendáriz erstmals in vollem Cassandro-Drag-Outfit in die Arena kommt und dazu eine spanische Version von «I Will Survive» im Soundtrack zu hören ist, oder als die Menge in der Arena laut «Schwuchtel» schreit, als er seinen Gegner attackiert, bis Cassandro es schafft, das Publikum für sich einzunehmen und die Stimmung von radikaler Ablehnung in begeisterte Unterstützung kippt. Auch die Momente, wo man das versteinerte Gesicht von Gael García Bernal sieht, wie er im Ring steht und diese schwulenfeindlichen Gesänge anhören muss, sind ergreifend – weil der 1970 geborene Cassandro daraus schlussendlich die Kraft zieht, etwas zu ändern. Man könnte den Film also als Empowerment-Saga betrachten.
Der Underdog, der alle Hindernisse überwindet «Cassandro» erzählt die Geschichte von Armendáriz in Etappen, thematisiert die enge Bindung des Sportlers an seine alleinerziehende Mutter Yocasta (Perla de la Rosa), die Ablehnung des US-amerikanischen Vaters, der die Familie verlässt, es geht um die Beziehung zu seiner Trainerin Sabrina (Roberta Colindrez), die ihm hilft, seine Karriere in eine neue Richtung zu manövrieren, indem sie ihm zeigt, wie er als vergleichsweise kleiner und schmächtiger Mann diese XXL-Kampfmaschinen im Ring besiegen kann. Es ist die klassische Story des Underdogs, der alle Hindernisse überwindet.
«Dennoch vermisst man in diesem Film das gewisse Etwas», schreibt Filmtoast.de, und das trifft den Sachverhalt ganz gut. Denn die enorme Vielschichtigkeit der Geschichte bleibt oft unberücksichtigt – man sieht kaum etwas dazu, wie diese Wrestling-Welt mit ihren vorab abgesprochenen Kämpfen funktioniert, warum das Publikum in Mexiko solche Schaukämpfe ohne echten sportlichen Mehrwert derart kultisch verehrt, welchen Platz Lucha-Libre-Stars als Popikonen in der Öffentlichkeit einnehmen, wie es für Cassandro ist, zwischen El Paso/USA und Mexiko hin und her zu pendeln, also zwischen zwei Welten. Thematisiert wird auch nicht Cassandros Kokainkonsum und die Frage, ob er Drogen nimmt, um den Schmerz zu betäuben, von Teilen der Gesellschaft abgelehnt zu werden, von seinem Lover nicht öffentlich anerkannt zu werden oder ob er Koks braucht, um Energie für seine Auftritte im Ring zu haben.
Am krassesten fällt diese Weigerung in die Tiefe zu gehen auf, als Gerardo seinem Liebhaber erzählt, dass seine Ehefrau von der Affäre erfahren hat. Gerade in solchen Momenten würde man als Zuschauer*in mehr sehen wollen. Da all das nur begrenzt passiert – obwohl es eine wirklich bemerkenswerte Sexszene zwischen Gerardo und Armendáriz gibt – geht viel emotionale Spannung verloren. Als hätte sich der Regisseur und Ko-Drehbuchautor Williams im Dickicht der Handlungsstränge verlaufen und den Blick fürs Wesentliche verloren.
Thema Aids Am Schluss ist die Empowerment-Botschaft dennoch klar ins Zentrum gerückt: Wir sehen am Ende des Films (ebenso wie im Trailer) ein nachgestelltes TV-Interview, das aussieht, wie originales Doku-Material. Im mexikanischen Fernsehen tritt Cassandro als gefeierter Gast auf und spricht über sein Leben. Da steht ein Teenager im Publikum auf und erklärt, dass er dank Cassandro und dessen Vorbildfunktion den Mut gefunden hat, seinem Vater zu sagen, dass er schwul ist. Woraufhin der Vater neben ihm aufsteht und unterstützend seinen Arm um den Jungen legt. Das Ganze ist zeitlich im Film kaum verortet, aber man darf es in den frühen 1990er-Jahren vermuten … also in einer Zeit extremer Homophobie weltweit im Zuge der Aidskrise. Somit ist der Moment geradezu monumental; auch wenn seltsamerweise das Thema Aids in «Cassandro» mit keinem (!) Wort erwähnt wird.
Fazit: Der Film hat Längen und etliche Durchhänger, aber Gael García Bernal spielt die Titelrolle so überwältigend als Charakterstudie, dass es sich auf alle Fälle lohnt, ihm eine Stunde und 47 Minuten lang zuzuschauen. Auch entwickelt Bernal mit Castillo eine extrem eigene Chemie (in der Bettszene), die es ebenfalls lohnt zu sehen.
Ach ja, und Bad Bunny als Assistent Felipe (hier unter dem Namen Benito Antonio Martínez Ocasio in den Credits gelistet) ist ein Hingucker und beeindruckt damit, wie er mit dem ständigen Flirten im Koksrausch von Armendáriz umgeht, als «harter Junge» aus dem Gangstermillieu, der bereit ist, das eigene Macho-Image zumindest augenblicksweise zu hinterfragen …
«Unzweifelhaft herzerwärmend» «Insgesamt bleibt das Gefühl, dass dieser Film sein Potenzial nicht voll ausschöpft», heisst es in der Rezension von Filmtoast.de. Der Guardian hat ebenfalls etliche Kritikpunkte, kommt aber zu dem Schluss, dass der Film den Fokus auf die Starqualitäten von Armendáriz legt, die ihn zum Wegbereiter einer neuen Art von Lucha Libre gemacht haben: «Sonniges Gemüt, Mumm, Leidenschaft für seinen Sport, eine bedingungslose Liebe zur Mutter sowie einen unverwüstlichen Glauben in sich selbst.» Das sei «unzweifelhaft herzerwärmend», heisst es. Und das macht den Film letztlich auch so besonders.
Nachdem Cassandro bis 1995 im Ring stand, schaffte er nach längerer Pause 2005 ein Comeback und tritt bis heute auf. Es gibt auch eine weitere Doku über ihn von Marie Losier mit dem Titel «Cassandro the Exotico!». Der New Yorker stellte ihn US-amerikanischen Leser*innen vor unter der Überschrift «How the Drag Queen Cassandro Became a Star of Mexican Wrestling». Es gäbe also durchaus Stoff für eine Fortsetzung.
250’000 Menschen nahmen dieses Jahr an der Pride-Parade in Mexiko-Stadt teil. «Mexiko-Stadt ist ein beispielhafter Raum, in dem Freiheiten, Rechte und Vielfalt ausgeübt werden», sagte Übergangsbürgermeister Martí Batres (MANNSCHAFT berichtete).
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