Bundesregierung zeigt queerpolitisch «Desinteresse & Ignoranz»

Über 200 Fragen zur sozialen und gesundheitlichen Situation von LGBTIQ wurden gestellt

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Die Bundesregierung hat auf die Grosse Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion zur sozialen und gesundheitlichen Situation von LGBTIQ geantwortet und zeigt «Desinteresse und Ignoranz». Sven Lehmann (Grüne) sprach am Dienstag von «Ernüchterung», «Fassungslosigkeit» und «ziemlicher Enttäuschung» darüber.

Nach knapp anderthalb Jahren liegt die Antwort der Bundesregierung auf die Grosse Anfrage zur sozialen und gesundheitlichen Situation von LGBTIQ in Deutschland vor. Von den über 200 Fragen lautete etwa Nr. 23: Welche Informationen hat die Bundesregierung über diskriminierende Erfahrungen von LGBTIQ in medizinischen Einrichtungen insgesamt? Antwort: «An die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wurden 32 Beschwerdefälle von homosexuellen Männern herangetragen, die sich auf die Nichtzulassung zur Blutspende beziehen.» (Seit Monaten wird über eine Reform der diskriminierenden Blutspenderegelung gerungen – MANNSCHAFT berichtete).

In Frage Nr. 57 wollten die Grünen wissen: Welche Informationen zum Ausmass sexualisierter Gewalt gegenüber lesbischen Mädchen und Frauen und deren psychischen Folgen hat die Bundesregierung? Antwort: «In den Jahren 2010 bis 2019 wurden im Rahmen des ‚Kriminalpolizeilichen Meldedienst politisch motivierter Kriminalität (KPMD-PMK)‘ keine Sexualstraftaten im Themenfeld ’sexuelle Orientierung‘ zum Nachteil lesbischer Mädchen oder Frauen erfasst.»

Verschiedene Studien aus dem Ausland weisen darauf hin, dass Bildungs- und Arbeitsorte von LGBTIQ Jugendlichen und jungen Erwachsenen und auch von Fachkräften als Orte mit eher geringer Akzeptanz gegenüber sexueller und geschlechtlicher Vielfalteingeschätzt werden. Unter obdachlosen Jugendlichen sind laut Studien aus den USA besonders viele queere Jugendliche zu finden, nämlich um die 30%. Sie sind zudem länger obdachlos und mit mehr psychischen und körperlichen Problemen konfrontiert als andere Jugendliche. Auch eine Studie aus Grossbritannien kam zu einem ähnlichen Ergebnis.

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In Deutschland existieren dagegen keine umfassenden Studien, die sich explizit mit der Wohnungslosigkeit von jungen Queers befassen. Die Bundesregierung gehe immerhin davon aus, dass es insgesamt zu wenig stationäre Wohnangebote der Kinder-und Jugendhilfe gibt, die sich speziell an den Bedarfen von jungen LGBTIQ orientieren bzw. deren besondere Situation in ihrem pädagogischen Alltag und ihrer Angebotsstruktur berücksichtigen.

Ein weiteres Beispiel für die faktische Benachteiligung von LGBTIQ in der Gesellschaft: Über 60-jährige Männer mit homo- oder bisexueller Identität haben durchschnittlich etwas weniger Geld zur Verfügung als heterosexuelle Männer. Ihre Armutsquote ist doppelt so hoch wie bei heterosexuellen Männern dieser Altersgruppe (12 Prozent im Vergleich zu 6 Prozent)

Mitglied einer Minderheit zu sein, stresst. So liegt die Selbstmordrate bei homo- und bisexuellen Jugendlichen und jungen Erwachsenen signifikant höher als bei gleichaltrigen Heteros. Aktuelle Studien sprechen von einem dreifach bis sogar vier- bis achtfach höheren Risiko. Und: 82 Prozent der lesbischen, schwulen und bisexuellen Jugendlichen und 96 Prozent der trans Jugendlichen haben Diskriminierungserfahrungen gemacht aufgrund ihrer sexuellen bzw. geschlechtlichen Identität.

Sven Lehmann, Sprecher für Queerpolitik der Grünen Bundestagsfraktion, erklärt: «Diskriminierung macht krank und grenzt sozial aus. Die gesundheitliche und soziale Situation von queeren Menschen in Deutschland ist Besorgnis erregend. Die Bundesregierung weiss das, tut aber quasi nichts dagegen. Die Antwort auf unsere Grosse Anfrage ist ein Dokument des Desinteresses am Thema Queerpolitik.» Tatsächlich geben die gestellten Fragen, für die die internationale Studienlage zusammengefasst wurde, inhaltlich viel mehr her als die Antworten.

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Jahrzehntelang habe die deutsche Politik Diskriminierung, Bevormundung und Ausgrenzung von LGBTIQ vorsätzlich betrieben, so Lehmann. Einige diskriminierende Regelungen gelten bis heute fort wie das Transsexuellengesetz (MANNSCHAFT berichtete).

Diskriminierung und Ausgrenzung wirkten sich auf die Gesundheit von LGBTIQ negativ aus. Es sei längst überfällig, dass die Bundesregierung die Verantwortung dafür übernehme und die politisch lange gewollte Benachteiligung durch eine LGBTIQ-sensible Sozial- und Gesundheitspolitik wieder gut mache.

Forderung nach bundesweitem Aktionsplan bekräftigt «Deutschland brauche dringend einen bundesweiten Aktionsplan für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt und gegen Homo- und Transfeindlichkeit wie wir Grüne ihn bereits vorgelegt haben.» Darin müssten konkrete Massnahmen benannt und umgesetzt werden, um die Lebenssituation von LGBTIQ nachhaltig und zielgerichtet zu verbessern.

«Die aktuelle Bundesregierung ist queerpolitisch allerdings ein Totalausfall», so Lehmann. Trotz bekannter, eindeutiger Hinweise und einer Vielzahl von internationalen Studien zur schlechten gesundheitlichen und sozialen Situation von LGBTIQ, verursacht durch dauerhafte Erfahrungen von Ausgrenzung, Diskriminierung und Bevormundung, reagiere sie nicht. «Sie weiss quasi nichts über die Lage der LGBTIQ in Deutschland, sie interessiert sich nicht dafür und sie tut dementsprechend auch nichts, um diese desolate Situation zu verbessern.»

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Mit dem Feigenblatt einer Internetseite glaube sie ausreichend getan zu haben, um LGBTIQ vor Diskriminierung zu schützen. «Nur in den Bereichen, in denen das Bundesverfassungsgericht klare Vorgaben macht, bewegt sich die Bundesregierung widerwillig. Bei der Neuregelung zur Änderung des Personenstandes hat sie selbst das nicht geschafft. Dass das Transsexuellengesetz bis heute existiert, ist eine der letzten in Gesetz gegossenen Menschenrechtsverletzungen.»

Die Grünen machen mit der Grossen Anfrage erstmals diese Thematik umfangreich im Deutschen Bundestag sichtbar. Fazit: Es herrsche ein «queerpolitisches Desinteresse» vor. Eine «verlorene Legislaturperiode» gehe zu Ende.

Die Queerpolitik bekommt einen grossen Schub, wenn die Grünen die Kanzleramt einziehen.

Im September wird ein neuer Bundestag gewählt. Erstmals haben die Grünen eine reelle Chance, den Kanzler oder die Kanzlerin zu stellen. Gefragt, wen man aus queerpolitischer Sicht bevorzuge – Annalena Baerbock oder Robert Habeck, sagte Lehmann: «Beide Kandidat*innen stehen klar und deutlich an der Seite der LGBTIQ-Community. Ich bin überzeugt, die Queerpolitik bekommt einen grossen Schub, wenn die Grünen die Kanzleramt einziehen.»

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