Aus Gent nichts Neues: Warten auf Édouard Louis
Dem Theatermonolog «The Interrogation» fehlt es leider an Originalität, meint unser Rezensent
In Köln gastierte am vergangenen Wochenende die Theaterproduktion «The Interrogation» aus Gent. In dem Monolog reflektieren der französische Schriftsteller Édouard Louis und der Theatermacher Milo Rau Louis‘ Biografie und sein Aufwachsen als schwuler Junge in der französischen Provinz.
Wo endet die Biografie und wo beginnt die Fiktion?
«Ist er das? Nein, oder? Meinst du, er sitzt im Publikum oder von wo wird er wohl auftreten?» Noch vor Stückbeginn wird fleissig um mich herum getuschelt. Die deutschen Fans des Shootingstars der französischen Literaturszene Édouard Louis scheinen an diesem Abend in Köln zusammengekommen zu sein, um ihren Lieblingsautor selbst auf der Bühne stehen zu sehen.
Hier und da blitzt sogar ein Buchcover auf den roten Sitzen der schwach beleuchteten Tribüne auf. Dass Louis aber nicht live mit auf der Bühne stehen wird, erfahre ich erst nach ein wenig Vorrecherche im Netz. Dem Ankündigungstext auf der Website des Schauspiel Köln war dies tatsächlich nicht zu entnehmen.
Dies weckt eine trügerische Erwartungshaltung. Spätestens aber nach einem Blick auf den Programmzettel klärt es sich: Louis wird nur im Video zu sehen sein, auf der Bühne steht hingegen der belgische Schauspieler Arne De Tremerie, Ensemblemitglied am NT Gent, der jenen verkörpern wird.
Wo aber Louis draufsteht, ist zumindest dann auch Louis drin: In dem Theatermonolog «The Interrogation», den Louis gemeinsam mit dem Schweizer Theatermacher Milo Rau entwickelt hat, blickt er abermals auf sein Aufwachsen als schwuler Junge in der nordfranzösischen Provinz zurück und rekonstruiert den Weg, den er zurückgelegt hat, um dort anzukommen, wo er heute ist: Er ist mittlerweile bekannt über die französischen und europäischen Grenzen hinweg als Intellektueller und erfolgreicher autofiktionaler Schriftsteller.
Letzteres ist insofern wichtig zu erwähnen, weil nicht klar zu trennen ist, wo Biografie endet und wo Fiktion beginnt. Schliesslich wurde er zunächst als Eddy Bellegueule geboren und erst später zu dem, unter dessen Namen er heute bekannt ist. Dass es mit De Tremerie nun ein belgischer Schauspieler ist, der Louis spielt, ist ein – wenn man dem Prolog des Abends glauben mag – durchaus schlüssiger Schachzug. Eine dreifache Transformation quasi, die die Frage nach Biografie und Fiktion um eine weitere Wendung verschärft.
In einer reinen Audiosequenz hören wir zu Beginn Louis, der von seinen Erfahrungen mit der Dramatisierung seiner Stoffe für die Bühne berichtet und in «Wer hat meinen Vater umgebracht?», in der Regie von Thomas Ostermeier an der Schaubühne Berlin, sogar selbst mit auf der Bühne steht. Er schildert, mit welchen Erwartungen und welcher Vorfreude er sich in das Projekt gestürzt hat.
Der, der selbst als Kind unbedingt Schauspieler werden wollte. Und wie ihn diese Bühnenerfahrung geprägt hat. Dass er nach alledem nicht mehr spielen möchte und sich lieber wieder ganz seinem Schreiben widmen mag. Folglich habe ihn die Anfrage und das Angebot von Theatermacher Milo Rau gefreut, einen gemeinsamen Theaterabend zu entwickeln, bei dem Louis erneut selbst auf der Bühne stehen würde. Doch schliesslich habe er nach den ersten Proben beschlossen, diese Entscheidung zu revidieren und sich einen Schauspieler gewünscht, der die Rolle übernehmen solle. So kam es dazu, dass Rau De Tremerie engagierte.
In den folgenden 70 Minuten sehen wir also den belgischen Schauspieler, wie er in niederländischer Sprache Louis‘ Biografie rekonstruiert, bekannte Stellen, Szenen, Figurenkonstellationen aus seinen Büchern wiederholt und kleinere Irritationsmomente durch den Verschnitt von Videoaufzeichnung und Live-Kamera humorvoll kreiert.
Das mag für jene Zuschauenden, die mit Louis Werk nicht vertraut sind, durchaus interessant und bereichernd sein. Kennt man seine Werke hingegen bereits, wirken die Szenen eher redundant. Viel Neues erfahren wir nicht.
Vielmehr werden die Sequenzen aus seinen Romanen mit Materialien aus Louis‘ Leben in der Öffentlichkeit kombiniert: Wir sehen Sequenzen aus Fernsehinterviews oder hören Erfahrungsberichte von seinen Theatervorstellungen in Paris als Schauspieler.
Beglückender sind hingegen die Szenen, in denen De Tremerie das Publikum direkt anspricht und die Fragen, denen sich Louis ausgesetzt sieht, an die Zuschauenden weitergibt. Dann entstehen die Momente, die auch das Leseerlebnis von Louis‘ Büchern prägen: das persönliche Sich-ins-Verhältnis-Setzen zu dem, was Louis beschäftigt. Dann fühlt man sich plötzlich abgeholt und gemeint – auch wenn De Tremerie mögliche Antworten aus den Rängen oft gar nicht abwartet und die kurze Stille gleich wieder unterbricht.
Man wartet ein wenig vergeblich auf die grossen Neuigkeiten an diesem Abend.
Und so wartet man ein wenig vergeblich auf die grossen Neuigkeiten an diesem Abend und ist zugleich doch froh, die individuelle Verbundenheit, die man zu Louis Werken und seiner öffentlichen Person verspürt, in der Gemeinschaft zelebrieren zu können. Und auch das ist ein schönes Erlebnis – auch wenn er schlussendlich nur in den Videoprojektionen aufgetreten ist.
Mit strenger Willensstärke steigt Édouard Louis in die Pariser Elite auf. Für Bücher über das eigene Leben wird der 29-Jährige schon länger gefeiert – und gerade auch einige andere (MANNSCHAFT berichtete).
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