Aufwühlend und feinfühlend – «Der Gymnasiast»

Ein französisches Coming-of-age Drama, authentisch nah am Leben

Foto: Salzgeber/C_Jeanlouis Fernandez
Foto: Salzgeber/C_Jeanlouis Fernandez

Der schwule Regisseur Christophe Honoré verarbeitet in «Der Gymnasiast» (Le Lycéen) seine persönliche Geschichte: Der 17-jährige Lucas sucht in Paris Trost, Ablenkung und sich selbst. Ein emotionales Drama, authentisch und nah am Leben, noch dazu mit einem grossartigen Cast.

Persönliche Erfahrungen und Erlebnisse hat Christophe Honoré – der genau wie François Ozon zu jenen Regisseuren gehört, die seit langem dafür sorgen, dass das populäre französische Kino deutlich queerer ist als das deutsche – schon immer in seine Arbeit einfliessen lassen. Man denke nur an seinen wunderbaren Film «Sorry Angel» aus dem Jahr 2018: der in den Neunziger Jahren aus der Bretagne nach Paris kommende Student, in den sich dort der HIV-positive Protagonist verliebte, erinnerte jedenfalls nicht von ungefähr an Honoré.

Der neue Film des Franzosen ist nun vielleicht sein bislang autobiografischster. Als Jugendlicher verlor Honoré seinen Vater bei einem Autounfall, und genauso geht es auch Lucas (Paul Kircher) in «Der Gymnasiast». Der 17-jährige Internatsschüler, der zu seinem Papa (verkörpert von Honoré selbst) ein enges Verhältnis hatte, weiss nicht recht, wohin mit seiner Trauer.

Eigentlich hat er das Gefühl, sich um seine kaum weniger verzweifelte Mutter (Juliette Binoche) kümmern zu müssen; sein Mitschüler und Lover wäre gerne für ihn da. Doch als sein grosser, als Maler tätiger Bruder Quentin (Vincent Lacoste) ihm anbietet, für eine Weile mit nach Paris zu kommen, gibt es für Lucas kein langes Zögern.

Die Grossstadt lenkt ab und ist aufregend, doch die räumliche Nähe stellt das gleichermassen konfliktreiche wie innige Brüder-Verhältnis gehörig auf die Probe. Dass Lucas sich in Quentins schwulen Mitbewohner Lilio (Erwan Kepoa Falé) – ebenfalls Künstler, aber auch Sexarbeiter – verliebt, macht neben all den anderen Möglichkeiten, die Paris für einen queeren Jugendlichen bietet, die emotional intensive Zeit für ihn nur noch aufreibender.

Momente hedonistischer Freiheitsgefühle gehen Hand in Hand mit der Orientierungslosigkeit des Erwachsenwerdens und dem Schmerz des nachwirkenden Verlusts, so dass Lucas spätestens nach der abrupten Rückkehr in die Provinz in ein tiefes Loch fällt.

Nicht nur ist «Der Gymnasiast» kein Coming-out-, er ist auch nicht unbedingt ein Coming-of-Age-Film. Zumindest nicht im konventionellen, von Hollywood geprägten Feelgood-Sinn. Dazu ist Honorés Geschichte zu ungeschliffen und roh, zu intim und zu subjektiv. Sein Film ist aufwühlend und feinfühlend gleichermassen, genauso nah dran am Leben des Regisseurs wie an authentischen Erfahrungen der Gen Z heute, grossartig ausbalanciert in Bild- und Tongestaltung sowie – keine Selbstverständlichkeit! – kein bisschen prüde.

Binoche ist in ihrer kleinen Rolle fantastisch, Lacoste (in «Sorry Angel» noch Honorés Alter Ego) sehenswert wie immer, und Erwan Kepoa Falé, der demnächst auch in Ira Sachs‘ «Passages» mit von der Partie ist, eine charismatische Neuentdeckung. Aber zum Ereignis macht «Der Gymnasiast» nicht zuletzt Hauptdarsteller Paul Kircher, seines Zeichens Sohn der Schauspielerin Irène Jacob und hier überhaupt erst das dritte Mal auf der Leinwand zu sehen.

Die ungeschönte Ehrlichkeit, mit der er von Trauer und Wut bis Verletzlichkeit und Horniness die gesamte Bandbreite eines jugendlichen Gefühlschaos verkörpert, brachte ihm vollkommen zurecht einen Preis beim Filmfestival in San Sebastián sowie eine Nominierung für den César ein.

«Der Gymnasiast», ab 29. März in den deutschen und ab 26. April in den österreichischen Kinos.

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