Alter Ego: Stimmen in der Nacht

MANNSCHAFT-Kolumne

Mann im schwarzem Hemd schläft über Lesebuch
(Bild: Unsplash, Matheus Farias)

Irgendwo zwischen Schlaf und Wachsein plagen unseren Kolumnisten düstere Gedanken. Wie gelingt es ihm, sich zu beruhigen, während seine Sorgen lauter werden?

Ich erwache im zeitlichen Niemandsland zwischen Geisterstunde und Morgengrauen und blinzle. Der angenehme Traum, in dem ich eben noch gelebt habe, löst sich in Einzelbilder auf und verflüchtigt sich im Dunkel, bevor ich ihn halten kann. Meine volle Blase macht sich bemerkbar. 

Beduselt vom Schlaf, zwinge ich meine Beine aus dem Bett, hieve mich hoch und lasse mich durch den lichtlosen Korridor ins Badezimmer tragen.

Zurück unter der warmen Decke versuche ich, an den Traum anzuknüpfen, als sich mein Alter Ego zu regen beginnt.

Alter Ego: Hmm . . . Ich (ins Kissen nuschelnd): Fang gar nicht erst an. Alter Ego: Wie viel Uhr ist es? Ich: Spielt keine Rolle, es ist noch stockfinster. Alter Ego: Ich frage mich nur, wie lange wir noch schlafen können.

Ich (greife nach meinem Mobiltelefon): Drei Uhr siebenundzwanzig. Zufrieden? Alter Ego (murmelt): Halb vier. Der Wecker geht um halb sieben, also noch drei Stunden Schlaf. Ich: Gut gerechnet, jetzt aber Ruhe.

Ich versuche, mich der samtigen Dunkelheit, der Weichheit meines Kissens hinzugeben und an nichts zu denken.

Alter Ego: Was, wenn keine Aufträge mehr reinkommen?

Ich ignoriere die Frage.

Alter Ego: Was, wenn deine Arbeit von der KI ersetzt wird? Wenn du verlumpst?! Ich: Hey, ich bin seit über 20 Jahren selbständig. Flauten hat es immer gegeben. Alter Ego: Ja, aber jetzt ändert sich grad alles. Vielleicht geht’s mit der Wirtschaft bergab! Ich (müde): Ja, vielleicht, aber daran kann ich mitten in der Nacht auch nichts ändern. Darf ich jetzt bitte schlafen?

Ich drehe mich auf die andere Seite, schliesse die Augen und lasse meinen Körper schwer werden. Einen Moment lang ist es ruhig.

Illustration: Dominik Schefer
(Bild: Dominik Schefer)

Alter Ego (flüstert): Was, wenn du krank bist?

Ich schlage die Augen auf.

Alter Ego: Was, wenn du einen Tumor hast?

Ich starre in die schattige Zimmerecke.

Alter Ego: Was, wenn . . . Ich: Könntest du jetzt bitte damit aufhören? Was soll das denn? Alter Ego (mit unheilschwangerer Stimme): Man kann nie wissen. Vielleicht solltest du wieder mal zum Arzt.

Ich: Ja, vielleicht.

Ich presse die Augen zu und konzentriere mich auf meine Müdigkeit, die leider gerade immer kleiner wird.

Alter Ego: Wie sind eigentlich deine Blutwerte? Ich: Beim letzten Mal war alles in Ordnung. Alter Ego: Wann war das? Ich (gähne): Letztes Jahr.

Mein Alter Ego verstummt, aber ich kann seine Gedanken in der darauffolgenden Stille förmlich rattern hören. Und prompt:

Alter Ego: Was, wenn deinem Mann etwas passiert? Ich: Das ist fies. Alter Ego (aufgeregt): Ja, aber überleg doch mal. Ich: Ich will mir das nicht überlegen. Alter Ego: Irgendwann sterben alle. Familie, Freundinnen, Bekannte. Ich: Hör doch auf. Alter Ego: Es warten Gebrechen auf dich! Depression! Alterseinsamkeit!

Ich halte mir die Ohren zu, doch mein Alter Ego ist jetzt voll in Fahrt.

Alter Ego: FASCHISMUS! KLIMAKRISE! KRIEG! TOD!

Es ist eine Stunde später. Ich sitze im Wohnzimmer und versuche, mein Alter Ego, das im Schlafzimmer weiter dunkle Prophezeiungen deklamiert, mit einer Netflix-Komödie zu übertönen, und hoffe, irgendwann darüber einzuschlafen. Morgen, das weiss ich, wird es sich wieder beruhigt haben.

Weitere Beiträge von Mirko gibt's in der Kolumne «Alter Ego»

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