500 Fälle von Missbrauch – Ratzinger belastet
40 Kleriker seien auch nach Missbrauchsfällen weiterhin in der Seelsorge tätig gewesen, 18 davon sogar nach «einschlägiger Verurteilung»
Eine Münchner Anwaltskanzlei hat Fälle sexuellen Missbrauchs im Erzbistum München aufgearbeitet – und erhebt Vorwürfe gegen den emeritierten Papst Benedikt XVI. Die Rede ist von einer «Bilanz des Schreckens».
Eine neues Gutachten über sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising erhebt schwere Vorwürfe gegen den emeritierten Papst Benedikt XVI (MANNSCHAFT berichtete vorab). Der damalige Kardinal Joseph Ratzinger habe – so beurteilt es die vom Bistum beauftragte Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) – in seiner Zeit als Münchner Erzbischof Missbrauchstäter «mit hoher Wahrscheinlichkeit» wissentlich in der Seelsorge eingesetzt und darüber die Unwahrheit gesagt. In insgesamt vier Fällen werfen ihm die Gutachter Fehlverhalten vor.
Mindestens 497 Kinder und Jugendliche sind laut der am Donnerstag vorgestellten Studie zwischen 1945 und 2019 in dem katholischen Bistum von Priestern, Diakonen oder anderen Mitarbeitern der Kirche sexuell missbraucht worden. Mindestens 235 mutmassliche Täter gab es laut der Anwaltskanzlei – darunter 173 Priester und 9 Diakone. Allerdings sei dies nur das sogenannte Hellfeld. Es sei von einer deutlich grösseren Dunkelziffer auszugehen. Anwalt Ulrich Wastl sprach von einer «Bilanz des Schreckens».
Seelsorge sogar noch nach einschlägiger Verurteilung.
40 Kleriker seien auch nach Missbrauchsfällen weiterhin in der Seelsorge tätig gewesen beziehungsweise sei dies geduldet worden. Bei 18 davon erfolgte dies sogar nach «einschlägiger Verurteilung», wie Wastls Kollege Martin Pusch sagte. Insgesamt seien bei 43 Klerikern «gebotene Massnahmen mit Sanktionscharakter» unterblieben.
Dafür verantwortlich – auch das macht das Gutachten klar – sind aus Sicht der Anwälte vor allem die Münchner Bischöfe und Generalvikare und damit auch der spätere Papst Benedikt XVI., der von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising war.
Fehlverhalten in vier Fällen halten die Anwälte Ratzinger vor. In zwei davon soll er Priester, bei denen er «überwiegend wahrscheinlich» von ihrer Missbrauchsvergangenheit wusste, nach Bayern geholt haben. In allen Fällen habe Benedikt ein Fehlverhalten strikt zurückgewiesen. Seine 82 Seiten lange Stellungnahme ist im Anhang des Gutachtens zu lesen, das inzwischen auf der Internetseite der Kanzlei veröffentlicht wurde.
In einem dieser Fälle geht es um einen Priester, der im Ausland rechtskräftig wegen Missbrauchs verurteilt worden war, in einem anderen um den bekannten Fall eines Priesters aus Essen, der trotz Vorfällen in Nordrhein-Westfalen in Bayern wieder als Seelsorger mit Kindern und Jugendlichen arbeitete.
Besonders brisant: Die Gutachter gehen davon aus, dass Ratzinger in Bezug auf die Fälle nicht die Wahrheit gesagt hat. Denn laut der Studie legt ein Sitzungsprotokoll nahe, dass er – anders als er selbst behauptet – 1980 als Erzbischof von München sehr wohl bei dem heiklen Treffen dabei war, bei dem beschlossen wurde, dass der Priester nach Bayern übersiedeln soll. Der Geistliche missbrauchte dort später erneut Kinder und wurde dafür rechtskräftig verurteilt. Noch wenige Tage vor der Veröffentlichung des Gutachtens hatte Benedikt über seinen Privatsekretär Georg Gänswein alle Vorwürfe gegen ihn zurückgewiesen. Der Jurist Wastl sagte, er halte Benedikts Angabe, er sei in dieser Sitzung nicht anwesend gewesen, für «wenig glaubwürdig».
«Das ist sein persönliches Waterloo», sagte der renommierte Kirchenrechtler Thomas Schüller der Deutschen Presse-Agentur. «Joseph Ratzinger hat die letzte Chance vertan, reinen Tisch zu machen. Er wird der Unwahrheit überführt und demaskiert sich damit selbst als aktiver Vertuscher. Er fügt der katholischen Kirche und dem Papstamt damit einen irreparablen Schaden zu.»
Der Vatikan kündigte an, sich das Münchner Gutachten genau anschauen zu wollen. Man werde es einsehen und könne dann angemessen die Details prüfen, erklärte der Sprecher des Heiligen Stuhls, Matteo Bruni.
Auch Ratzingers direktem Nachfolger als Münchner Erzbischof, Kardinal Friedrich Wetter, wirft das Gutachten Fehlverhalten in 21 Fällen vor. Wetter habe die Fälle zwar nicht bestritten, ein Fehlverhalten seinerseits aber schon, sagte Pusch. Dem amtierenden Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, wird Fehlverhalten in zwei Fällen vorgeworfen. Es gehe dabei um Meldungen an die Glaubenskongregation in Rom. Marx wollte sich am Nachmittag zu den Ergebnissen des Gutachtens äussern, bei der offiziellen Vorstellung war er nicht anwesend.
Das Gutachten stellt der katholischen Diözese insgesamt ein schlechtes Zeugnis aus. Auch in jüngster Zeit habe kein «Paradigmenwechsel» mit dem Fokus auf die Betroffenen stattgefunden, sagte Pusch. «Bis in die jüngste Vergangenheit und teils auch heute noch begegnen Geschädigte Hürden.» Ein aktives Zugehen auf die Opfer gebe es nicht. Pusch sieht ein «generelles Geheimhaltungsinteresse» und den «Wunsch, die Institution Kirche zu schützen».
Der Münchner Generalvikar Christoph Klingan zeigte sich am Donnerstag «bewegt und beschämt». «Meine Gedanken sind in dieser Stunde zunächst bei den Betroffenen, bei den Menschen, die durch Mitarbeiter der Kirche in der Kirche schweres Leid erfahren haben», betonte er. «Den Betroffenen muss unser erstes Augenmerk gelten.»
Der Sprecher der Opferinitiative «Eckiger Tisch», Matthias Katsch, nennt das neue Gutachten zu sexuellem Missbrauch im katholischen Erzbistum München und Freising eine «historische Erschütterung» der Kirche. «Dieses Lügengebäude, was zum Schutz von Kardinal Ratzinger, von Papst Benedikt, errichtet wurde hier in München, das ist heute krachend zusammengefallen», sagte er der Deutschen Presse-Agentur am Donnerstag in München.
Jeder, der das jetzt miterlebt, muss erkennen, dass dieses System an sein Ende gekommen ist.
Einige Taten hätten nur darum stattfinden können, weil Joseph Ratzinger in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising die Entscheidung getroffen habe, einen Missbrauchstäter in seinem Bistum einzusetzen. Das «täterzentrierte System» sei «an der Spitze belastet», sagte Katsch – «im Vatikan, da wo Benedikt bis heute sitzt und leugnet». Und weiter: «Jeder, der das jetzt hier gerade miterlebt hat, muss erkennen, dass dieses System an sein Ende gekommen ist.»
Im März 2021 hatte das Europäische Parlament die EU zur LGBTIQ Freedom Zone erklärt (MANNSCHAFT berichtete), vier Tage später verkündet der Papst in einer Aussendung, Homosexualität sei nach wie vor eine Sünde (MANNSCHAFT berichtete). Dem will die Piratenpartei in Österreich nachgehen (MANNSCHAFT berichtete).
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