100 Jahre Türkei: Queerfeindlichkeit statt Vielfalt
Von der Idee des Gründervaters Atatürk ist nicht mehr viel übrig
Am 29. Oktober 1923 rief Kemal Atatürk die Türkische Republik aus. Hundert Jahre später ist das Land von Konflikten geprägt, von Feierstimmung ist wenig zu spüren. Präsident Erdogan kommt das gelegen.
Wenn sich die Ausrufung der Türkischen Republik am 29. Oktober zum hundertsten Mal jährt, dürfte besonders einem nicht nach Feiern zumute sein. Denn mit Präsident Recep Tayyip Erdogan steht ein Mann an der Spitze des 1923 von Kemal Atatürk gegründeten Staates, der das Land in eine ganz andere Richtung lenken will als dessen Gründervater. Bisweilen mit Erfolg.
Die Türkei wurde nach dem Ende des Osmanischen Reiches gegründet. Atatürk verpasste dem Land in autoritärer Manier einen Wandel von oben: Nicht in der Tradition des Osmanischen Reichs stehend, sondern dem Westen zugewandt und modern sollte sie sein, die neue Türkei. Frauen erhielten in den 30er Jahren das aktive und passive Wahlrecht, statt dem arabischen sollte nun das lateinische Alphabet gelten, das sogenannte Hutgesetz verbot Turban und Fez. In Istanbul sollte getragen werden, was auch in westeuropäischen Grossstädten getragen wurde.
Bis heute ist der Personenkult um Atatürk lebendig: Das Abbild des ersten Präsidenten findet sich an Wänden in Amtsstuben, Restaurants, Wohnzimmern, seine Unterschrift prangt auf Autos und als Tätowierung auf der Haut von Landsleuten. Doch ist Atatürks Erbe gleichsam umstritten.
Nicht nur Angehörige von Minderheiten im Land wie Teile der kurdischen Bevölkerung sehen in dem Staatsgründer einen Unterdrücker. Der von ihm geprägte streng säkulare Kurs – also die klare Trennung von Religion und Staat – gefiel nicht allen in dem mehrheitlich muslimischen Land. Religion wurde in die Privatsphäre verbannt. Auch damit erklärt sich der Aufstieg Erdogans.
Anstatt in die Tradition des Staatsgründers stellt er sich in die Tradition der Osmanen, inszeniert sich als Schutzherr der Muslime weltweit und reaktiviert den von Atatürk abgelegten Panturkismus, den Mythos einer Verbundenheit aller Turkvölker. Es ist vor allem Erdogan, der Religion wieder in die Politik holt, der das Kopftuchverbot in öffentlichen Institutionen aufhebt und die Religionsbehörde stärkt.
Während die AKP zu Beginn ihrer Regierungszeit 2002 noch für eine breitere Gesellschaft Politik machte, ist sie heute Sprachrohr einer ganz bestimmten Bevölkerungsgruppe. «Die AKP repräsentiert nur die eigene Wählerschaft – der streng muslimisch konservative Teil der Bevölkerung – die türkische Nation», schreiben die Politikwissenschaftler Günter Seufert und Christopher Kubaseck in ihrem Buch «Abschied von Atatürk». Das stelle das Land vor eine Zerreissprobe, weil die religiöse, ethnische und kulturelle Vielfalt des Landes negiert werde (MANNSCHAFT berichtete).
Anhänger*innen Erdogans erzählen eine andere Geschichte. Viele fühlen sich erst seit der Machtübernahme des konservativen Muslims frei. Özlem Zengin etwa, AKP-Abgeordnete und Parteimitglied der ersten Stunde, hat das Kopftuchverbot in die Politik getrieben. In einem Interview erklärt sie die «Suche nach Freiheit» und das «Streben nach Gerechtigkeit» zu ihrer grössten Motivation. Die Juristin sagt, die Gesetze zum Tragen des Kopftuches hätten sie damals davon abgehalten, ihren Job auszuüben. Nun sitze sie, wie viele weitere Frauen, mit Kopftuch im Parlament.
Dass diesen Aussagen nur eine begrenzte Definition von Freiheit zugrunde liegt, zeigt sich auch im harten Vorgehen der AKP-Regierung gegen ihre Kritiker. Erdogan setzt auf ein Freund-Feind-Schema, um sich der Zustimmung aus der Bevölkerung zu versichern: schwule, lesbische und queere Menschen, die Opposition, Terroristen – Erdogan verschmilzt sie rhetorisch zu einem vermeintlichen Gegner, der den frommen Türken gegenübersteht (MANNSCHAFT berichtete).
Die Europäische Union attestiert dem Land seit Jahren deutliche Rückschritte bei Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Unabhängigkeit der Justiz, die Beitrittsverhandlungen liegen entsprechend auf Eis. Auch vom diesjährigen Bericht der EU-Kommission müsse erwartet werden, dass er weitere Rückschritte festhält, sagte der EU-Botschafter in der Türkei, Nikolaus Meyer-Landrut, der Deutschen Presse-Agentur.
«Keiner hat die Türkei nach Atatürk geprägt wie Erdogan», sagt Berk Esen, Politikwissenschaftler an der Sabanci-Universität in Istanbul. Dennoch blicke der heutige Staatschef mit Neid auf Atatürk. Anstelle eines 100-jährigen Jubiläums würde Erdogan wohl lieber «eine zweite Gründung der Republik schaffen, aber mit völlig anderen Vorzeichen – viel konservativer, näher an den Staaten des Nahen Ostens, autoritärer und reaktionärer».
Dabei sei auch Erdogan selbst Profiteur des Erbes von Kemal Atatürks sogenanntem Kemalismus. Mehr noch, ohne Atatürk wäre Erdogan «niemals Präsident geworden», meint Esen. Das heutige Staatsoberhaupt komme schliesslich aus einer Familie der unteren Mittelschicht – und für deren sozialen Aufstieg habe Atatürk die Voraussetzungen geschaffen.
Die AKP habe zudem Institutionen geerbt, deren Stärke ebenfalls auf Atatürk zurückgehe, sagt Esen: «Die Türkei verfügt über eine starke Bürokratie, die Erdogan zur Umsetzung seiner Agenda genutzt hat.» Seit Jahren werden die demokratischen Institutionen des Landes ausgehöhlt. Die Justiz und die Medien sind der Regierung in grossen Teilen unterstellt, Wirtschaft und Gesellschaft sind geprägt von Klientelismus und Vetternwirtschaft, schreiben Seufert und Kubaseck.
«Auch Atatürk war alles andere als ein Demokrat. (…) Dass die Türkei nach einhundert Jahren Abschied von ihm nimmt, könnte auch ein positives Zeichen sein», schreiben die Politikwissenschaftler. «Dass dieser Abschied über die Herrschaft eines neuen starken Manns geschieht, ist keine gute Nachricht.»
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