30 Jahre Istanbul Pride: Polizei verhaftet und «foltert» Aktivist*innen
Die Polizei griff am Wochenende hart gegen eine friedliche LGBTIQ-Veranstaltung zu Beginn des Pride-Monats durch
Am vergangenen Wochenende versammelten sich Mitglieder von Onur Haftası, der Gruppe, die die Istanbul Pride organisiert, in der Yeldeğirmeni-Nachbarschaft vom Stadtteil Kadıköy, um ein Statement zu verlesen, mit dem der Beginn des Pride-Monats gefeiert werden sollte.
Während die Aktivist*innen sich versammelten, um das 30-jährige Jubiläum der Istanbul Pride zu feiern, zirkelte gegen 18.30 Uhr ein Grossaufgebot an Polizei die Teilnehmenden ein. Hunderte von Polizist*innen mit Schutzschildern machten sich daran, elf LGBTIQ-Aktivist*innen zu verhaften, wie Onur Haftası auf Twitter schreibt und dazu ein entsprechende Video veröffentlichte.
Die Polizeieinsatzkräfte sollen unterstützt worden sein von Çevik Kuvvet-Einheiten, die mit Wasserwerfern und scharfer Munition ausgestattet sind, um Aufstände zu beenden – was sie nun auch im Fall dieses scheinbar friedlichen und kleindimensionierten Strassenprotests taten.
Auf dem veröffentlichen Video von Onur Haftası sieht man, wie Aktivist*innen und Umstehende die Polizei ausbuhen während sie gleichzeitig den Verhafteten lautstark applaudieren.
Laut LGBTIQ-Medienberichten sollen die Einsatzkräfte ihre Schutzschilder bewusst hochgehalten haben, damit man nicht sieht oder filmen kann, wie die Verhafteten in Handschellen gelegt und herumgestossen werden.
Intersex-Pride-Fahnen hochgehalten Trotz der Verhaftungen hielten die Pride-Organisator*innen «trotzig» ihre Pride-Fahnen (mit Intersex-Symbolik) hoch, heisst es, sogar noch in dem Moment, wo die Polizei sich auf sie stützte. (MANNSCHAFT berichtete über die neue Intersex-inklusive Pride-Fahne.)
In einem Tweet von Onur Haftası liest man: «Queer Pride wird die Folter der Polizei besiegen! Der Countdown zum Pride-Marsch hat begonnen!»
Und weiter: «Dieses Jahr werden wir standhalten!»
Neben Mitgliedern von Onur Haftası wurden scheinbar auch zwei Aktivist*innen von Trans+ Korteji verhaftet. Trans+ Koroteji behauptet, dass ihre Aktivist*innen von Polizeioffizieren «gefoltert» worden seien, als sie sich auf der Wache in Polizeigewahrsam befanden.
Als Beleg für die Misshandlungen veröffentlichte Trans+ Korteji Fotos auf Twitter, auf denen man Verletzungen an Armen und Beinen erkennen kann.
Alle Verhafteten waren am späteren Abend wieder auf freiem Fuss, heisst es.
Das offizielle Datum für den Istanbul Pride 2022 ist Sonntag, der 25. Juni. Laut ILGA Europe ist der Marsch eingebettet in eine Veranstaltungswoche, die am 19. Juni beginnt. Ob die Veranstaltung allerdings stattfinden wird, ist fraglich.
«Verstoss gegen die Moral» Beim Pride-Marsch im letzten Jahr griff die Polizei mit Tränengas ein und setzte Plastikgeschosse ein. Es kam zu mehreren Festnahmen (MANNSCHAFT berichtete). Die zuständige Stadtteilregierung hatte die Parade wenige Stunden vor Beginn untersagt und verwies u. a. auf einen Verstoss gegen die «Moral».
«In der Türkei sind wir seit 2015 mit einem radikalen Wandel der Regierungspolitik gegenüber LGBTIQ-Menschen konfrontiert», sagte Yildiz Tar von der Organisation Kaos GL damals der Deutschen Presse-Agentur. Der Staat habe der Community «den Krieg erklärt». Die Regierung übe eine Politik aus, die darauf abziele, die Feindschaft gegenüber LGBTIQ im «gesamten Volk zu verbreiten».
Nach einer grossen Pride-Parade 2014 mit mehr als 100.000 Teilnehmern hatten die türkischen Behörden den Umzug in den vergangenen Jahren immer wieder untersagt. Offizielle Begründung: Sicherheitsbedenken.
LGBTIQ-Gruppen werfen der Regierung in Ankara vor, mit «Hass-Kampagnen» zu gewaltsamen Angriffen aufzustacheln. Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat LGBTIQ in der Vergangenheit wiederholt verbal attackiert in seinem Feldzug gegen einen vermeintlich «westlichen Lebensstil».
Islamisch-konservatives Weltbild Der Abgeordnete Ali Mahir Basarir von der Oppositionspartei CHP warf der Regierung erst unlängst vor, jeden zum Feind zu erklären, der nicht ihrem islamisch-konservativen Weltbild entspreche, der Tagesspiegel berichtete darüber. Der Kolumnist Mehmet Yilmaz von der Nachrichtenplattform T24 schrieb, eine «Lebensstil-Polizei» wolle den Türken eine islamische Ideologie aufzwingen.
Die Abwehr angeblich verwerflicher Einflüsse auf Kinder und Familien diene Behörden häufig als Hebel, so der Tagesspiegel. So wurden beispielsweise in den vergangenen Jahren Festivals in der ganzen Türkei untersagt, weil sie von Alkoholfirmen gesponsert wurden oder weil Bier verkauft wurde. Seit 2013 nimmt die Türkei auch nicht mehr am ESC teil und überträgt das Ereignis nicht im Fernsehen.
Begründet wird das damit, dass bei dem Wettbewerb LGBTIQ-Künstler*innen auftreten – was zuschauenden Kindern nicht zuzumuten sei.
Das Gouverneursamt in Istanbul verbietet entsprechend seit Jahren die Pride-Umzüge. Islamisch-konservative Kreise begrüssen den Kurs. Er verhindere, dass Istanbul Szenen der «moralischen Verwahrlosung» erleben müsse, erklärte ein Zusammenschluss konservativer Gruppen, der vom Tagesspiegel zitiert wird.
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